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Jakob Hessing: Auf der Grenze

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Kristian Kühn

Entdecken und Verhüllen in der Sprache


Am 9. Mai 2018 hielt der Literaturwissenschaftler Jakob Hessing im Lyrik Kabinett die 19. Münchner Rede zur Poesie. Sie liegt – wie die ganze Reihe – auch als Printfassung der Stiftung vor und kann erworben und gelesen werden.

Jakob Hessing unternimmt in seiner einfühlsamen, stimmungsvollen, fast privaten Rede, die er „Auf der Grenze“ nennt, eine autobiographische Wanderung, in der er Erinnerungen sucht, autobiographische, aber auch, wandernd durch persönliche Eindrücke, politische Konnotationen und Schuld wachruft, als sei das Thema ein zwangsläufiges Selbstgespräch, pro und contra Grenzlinien – dem Gewissen und der Vernunft folgend.

„Alle Dichtung, so stelle ich’s mir vor, ist zunächst ein Selbstgespräch. Ein Dichter geht in sich, er geht zu den Bildern und den Gestalten, die er aus sich hervorholen muss, und wenn es ihm gelungen ist – wenn die Bilder und die Gestalten in sein Werk eingegangen sind und das Werk seine Leser erreicht –, dann beginnt dieser Prozess noch einmal, doch jetzt in der anderen, spiegelverkehrten Richtung.“

Hessing wurde in Polen als Kind jüdischer Eltern geboren, „die sich zuerst vor Hitler versteckten und dann, bald nach der Befreiung, vor den Kommunisten flohen.“ So kommt er in das damalige West-Berlin, geht dort zur Schule und will 1964, nach dem Abitur, „eigentlich nach Amerika“, fährt aber vorab nach Israel, neugierig auf die sozialistische Kibbuzidee, arbeitet dort jahrelang auf den Feldern, um am Ende in Israel zu bleiben, wo er bis heute an der Hebräischen Universität Jerusalem als Germanist lehrt, hat Bücher geschrieben über Sigmund Freud und Else Lasker-Schüler. Die literarische Kultur, das „verlorene Erbe“, „in seiner deutschen Metamorphose“ lässt ihn, wie er sagt, nicht los. Bei Suhrkamp im Jüdischen Verlag gibt er von 1993 bis 1999 den Jüdischen Almanach heraus. Statt einer Traditionslinie will er den Bruch zeigen, „der nicht wieder rückgängig zu machen war. Das Judentum, das ich im Almanach zur Sprache bringen wollte, ließ sich nicht mehr als eine deutsche Subkultur vorstellen, wie es um 1900 vielleicht noch denkbar gewesen war. Es galt, repräsentative Texte einer ganz anderen, ganz eigenen Kultur auszuwählen, um sie den deutschen Lesern meines Almanachs verständlich zu machen.“

So zum Beispiel 1994 „Entdecken und Verhüllen in der Sprache“ von Chaim Nachman Bialik, „der in der neuhebräischen Literatur einen kanonischen Status hat.“ Hessing hatte ihn schon früher ins Deutsche übersetzt. Bialik schrieb den Text 1915, zur Zeit einer innerjüdischen Krise. „Seit einigen Jahrzehnten schon durchlief das Hebräische, die Sakralsprache der Juden, einen Prozess der Säkularisierung, Bialik war der bedeutendste Dichter, der diesen Prozess vorangetrieben hatte …“. Bialik legte darin laut Hessing eine „poetologische Rechenschaft ab. Er hatte an das Heilige gerührt und musste damit fertig werden. Wenn einige von Ihnen jetzt an Franz Kafkas Parabel ›Vor dem Gesetz‹ denken, die fast gleichzeitig entstanden ist, dann haben Sie, so glaube ich, einen vergleichbaren Kon-Text gefunden, der aus derselben Krise des Judentums erwächst und der Ihnen als deutschen Lesern leichter zugänglich sein wird.“

Hessings Rede bezieht sich zur Hälfte auf eben diesen Text Bialiks und auf die Gründe, warum die Sakralsprache und damit auch die ursprüngliche Lyrik nur noch in säkularisierter Form schreibbar wie vertretbar zu sein scheint. Zunächst stellt er dazu einige ausgewählte Zitate Bialiks vor:  Die Menschen, bewusst oder ahnungslos, streuen täglich ihre Worte in den Wind und (…) nur wenige erinnern sich, was diese Worte in den Tagen ihrer Größe waren. (…) nur ihre Schalen sind aus der Einsamkeit des Einzelnen in die Öffentlichkeit übergegangen (…). Und wer weiß, vielleicht ist es gut so, dass dem Menschen nur die Schale der Wörter überliefert wird, nicht aber ihr Inhalt: So kann er sie jeweils aus eigener Kraft anfüllen, ihr etwas hinzufügen und das Licht seiner eigenen Seele in sie hineingießen.

Was Hessing nicht erwähnt, ist, dass schon seit Nietzsche ebensolche Sprachkritik aufgekommen war, man denke an Fritz Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache (3 Bände – 1901/2) oder Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos an Francis Bacon, der das Sakrale im Sinne Baudelaires und Mallarmés wieder einfordert. Und auch Kafka tut dies, indem in seiner Erzählung „Vor dem Gesetz“ der Torhüter am Lebensende des Wartenden diesen anbrüllt: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“  

Ein weiteres Zitat Bialiks:  Als führten (die Worte) sie (…) über stille Wasser und eiserne Brücken – ahnungslos, wie sehr diese Wortbrücken schwanken, wie tief und dunkel der offene Abgrund unter ihnen gähnt, wie groß das Wunder ist, dass ihr Schritt sie nicht ins Unglück führt. Denn daran gibt es keinen Zweifel: Die Sprache (…) führt uns nicht in ihr Inneres, in das letzte Wesen der Dinge, sondern ganz im Gegenteil – sie stellt sich zwischen uns und die Dinge. Unsere Worte, sagt Bialik, sind das Schild, das wir der unendlichen Dunkelheit entgegenhalten, die uns umgibt, aber keines dieser Worte kann diese Dunkelheit auflösen, es kann sie nur verhüllen.

Hessing glaubte anfangs, dass Bialik wie er selber einen möglichen Offenbarungscharakter, „der aller romantischen Poetologie zugrunde liegt“, in Frage stelle. Auf Hegel, Benjamin und Agamben, die in Sprache eine Verbindung zwischen noetischer und sinnlich wahrnehmbarer Welt suchen, geht Hessing dabei nicht ein. Weil er kein Dichter sei und obendrein sozialisiert „unter historischen und familiären Umständen, die einer optimistischen Metaphysik, einem Glauben an freundliche Vorsehung nicht günstig waren.“  Doch sei er sich mittlerweile nicht mehr ganz sicher, Bialik damals ganz verstanden zu haben.
 
Im zweiten Teil seiner Rede beschäftigt sich Hessing mit der Rezeptionsgeschichte deutscher Literatur in Israel, die noch in den siebziger Jahren in Jerusalem verpönt war, aber schließlich in den Lehrplan aufgenommen wurde. Wie sollte deutsche Literatur in Israel zu vermitteln sein? Hessing wählte vornehmlich jüdische Autoren und Autorinnen, „die diese Literatur mitgestaltet haben.“ 1945 war Else Lasker-Schüler in Jerusalem gestorben, Hessing hatte seine Doktorarbeit über ihre Rezeption geschrieben, „hatte gesehen, wie wenig man im Nachkriegsdeutschland mit ihrem Judentum anzufangen wusste“, und wie heuchlerisch man mit der Aberkennung ihrer deutschen Staatsangehörigkeit 1938 und ihrer endgültigen Emigration 1939 umging. Hessing nennt als Beispiel Gottfried Benn, der 1952 im Berliner British Centre eine damals vielbeachtete Erinnerungsrede über sie gehalten hat. In Hessings „Rezeptionsgeschichte ist sie das Kernstück der Verlogenheit, mit der man dieser Jüdin im Nachkriegs-Deutschland begegnet ist.“ Aus-gerechnet Benn stelle der „eben noch verbotenen Dichterin jetzt das Leumundszeugnis aus, immer wieder zitiert man seine Rede, um das kollektive Gewissen rein zu waschen, und Benn sagt auch den folgenden Satz: „Ein Gedicht wie das Gedicht Mein Volk aus den »Hebräischen Balladen« ist in seiner Vollkommenheit eine so völlige Verschmelzung des Jüdischen und des Deutschen, der Ausdruck einer wirklichen Seinsgemeinschaft auf höchster Stufe, daß es auf beiden Seiten, sofern die Kunst bei uns überhaupt etwas zu sagen hätte, auch politische Folgen würde gehabt haben können.“ Hier ist das Hätte, zugegeben vielleicht ein ironisches, ja zynisches Hätte, entscheidend. Benn spielt aber zurecht oder unverfroren auf die Ohnmacht der Kunst seiner Zeit an. Doch Hessing zitiert den Satz gar nicht zur Gänze, deutet ihn nur an, um mit Benn, wie heute so viele, abzurechnen:

„Was Benn hier sagt, ist nicht ganz unwahr, doch gerade deshalb ist es so perfide: Statt die eigene Schuld zu bedenken, denunziert der einstige Mitläufer der Nazis auch im Jahre 1952 noch das deutsche Judentum“.

Hessing erwähnt nicht, dass Benns Zuneigung für den Nationalsozialismus nur kurze Zeit anhielt und sehr früh endete. Denn schon 1934 war er als Dichter unerwünscht und 1938 wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was gleichbedeutend mit einem Schreibverbot war. Hessing spricht - im Zusammenhang der Freundschaft zwischen Lasker-Schüler und Benn von einer Krise, nämlich der jüdischen vor dem Ersten Weltkrieg, in der sich auch Bialik befand, einer Identitätskrise des deutschen Judentums. Ihr Gedicht „Mein Volk“ sei ein Bekenntnis zum Judentum allein und nicht eine Emanzipation hin zur „Deutschwerdung der Juden“.

Ausgehend von Ironie und Zynismus bei Benn kommt Hessing zur Selbstironie, da habe er nun Bialik übersetzt, „doch dann stellt sich heraus, dass ich den Text gar nicht richtig verstanden habe“. Er habe in der deutschen wie auch in der hebräischen Sprache gelebt, aber nie wie Bialik in der Tradition, „der das Hebräische eine heilige und zugleich eine profane Sprache ist und die mich die Wortfügungen aus Psalter, Talmud und Gebetbuch instinktiv hätte wiedererkennen lassen.“ Deshalb auch nenne er seine Rede zur Poesie „Auf der Grenze“. „Es ist nicht nur die Grenze zwischen Deutschland und Israel, zwischen dem Deutschen und dem Hebräischen – es ist auch eine Grenze innerhalb des Hebräischen selbst, die ich nicht überschreiten kann, weil die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die auch meine persönliche Geschichte ist, sie mir verschlossen hat.“ Er suche nicht wie manche Dichtenden die andere (noetische) Seite, sondern lese „diese Literatur im Zeichen einer Säkularisierung, eines Übergangs von den heiligen Texten einer kollektiven Überlieferung zu den weltlichen Texten einer individuellen Autorschaft, und diesen Übergang hat es nicht nur bei den Juden gegeben.“

Welche Richtung er damit einschlägt, versucht er an dem Gedicht „Die Bürgschaft“ von Schiller aufzuzeigen, Aufklärung (englisch: enlightment) „hieß das Zauberwort, mit dem die deutschen Juden ihre schönsten Hoffnungen verbanden, und in der ›Bürgschaft‹ führt Schiller uns vor, was das hätte bedeuten können. Zwei Freunde belehren den Tyrannen eines Besseren, die Wahrheit ihrer Freundschaft verändert die Welt …“
 
Doch Hessing weiß, und damit endet sein Vortrag, dass diese Grenze zwischen Licht und Chaos nicht nur zu „Heilserwartungen“ führt, sondern manche Dichtung auch aus großer Angst heraus geschrieben wird, „auch nur einen einzigen Augenblick vor jenem dunklen Chaos zu stehen, ungeschützt vor jenem Nichts« (Bialik). Und so trägt für Hessing jede Tradition „zwei Gesichter, ein sanftes, und eine Fratze des Wahnsinns.“
 
Schließlich wendet sich Hessing der Ringparabel Lessings zu, sie schien ihm in Jugendjahren „eine Sternstunde des deutschen Judentums, ja der ganzen Menschheit zu sein.“ Doch später verdüsterte sich sein Horizont und er sah sich den Text noch einmal an. Das Versprechen (der idealen Welt?, der Versöhnung?) war nicht zu halten. Es führte „zur Fälschung der Ringe“.

Um versöhnlich zu enden, erwähnt Hessing zuletzt noch Hilde Domin, die sich ihre Hoffnung auf eine bessere Welt nicht nehmen ließ, nach Deutschland zurückzog, mit dem Schreiben begann und das als "zweite Geburt" empfand und in einem Gedicht auch ihrer wiedergefundenen Heimat ein Geschenk machte: das „Opfer steht auf, um dem Täter eine zweite Chance zu geben.“


Jakob Hessing: Auf der Grenze. Eine autobiographische Wanderung. München (Stiftung Lyrik Kabinett - Münchner Rede zur Poesie 19) 2018. 34 Seiten. 12,00 Euro.
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