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Ivor Joseph Dvorecky: Untiefen

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Ivor Joseph Dvorecky

U N T I E F E N


Verzeih mir, Nora, dass ich dir Kummer bereitet habe, wie auch den Anderen. Es war niemals meine Absicht, jemand zu verletzen, außer mich selbst vielleicht. Meine Briefe sind so selten wie die Tage, an denen ich in einen Hafen einlaufe, und es sind nur die Tage, da ich mich mit Besorgungen aufhalten muss, denn die Nächte kann ich nirgendwo sonst verbringen als auf dem Meer, fernab der Beschränkungen, inmitten jener unfassbaren Freiheit, und gewiss auch Bedrohung, die der Ozean darstellt. Auf einer dünnen Schale, einer Haut vielleicht, unendlich dünn, einer Oberfläche, und dann geht es tausende von Metern in ewiges Dunkel, in eine Tiefe, aus der alles gekommen ist und in die die Leichname hinabsinken und von seltsamen Wesen verzehrt werden.

Ich weiß, dass du mich nicht verstehen kannst, und ich bitte dich um Verzeihung. Es ist nicht deine Schuld, dass ich bin, wie ich bin, nicht mal meine vermutlich. Ich kann mich an den Sommer erinnern, an den Flussarm der Donau. Du und Paula, ihr habt Badminton gespielt, du, ganz in Weiß, hast ein T-Shirt und eine kurze Hose getragen, was dir atemberaubend stand, du hast mit Stefan Badminton gespielt, manchmal einen Blick zu mir geworfen, und ich tat so, als würde mich das nicht angehen, und als ihr beide, Paula und du, gespielt und getuschelt habt, da nahm ich Stefan beiseite. Was hast du dich umdrehen müssen, bis du gemerkt hast, dass wir vom Wasser herrufen. Du warst von dem gemieteten Boot sofort begeistert, musstest Paula Mut machen, die nicht einsteigen wollte.

Schon damals erklärte ich dir auf der Donau, in dem schwankenden Boot stehend, ich werde mein Leben auf dem Wasser verbringen, Welt umsegeln, für immer auf dem Wasser, vielleicht verloren gehen, für immer. Was habt ihr gelacht. Noch auf dem Flussufer, auf den grasbewachsenen Hügeln, unter den Lichtfleckchen, die von den Bäumen, ich glaube es waren Weiden, versprenkelt wurden. Das Lachen klingt mir noch immer im Ohr, aber es ist fern, es kommt vom anderen Ende eines Fernrohrs, das in die Vergangenheit zeigt.

Und jetzt bin ich für dich nur eine Erinnerung, eine vergilbte Postkarte, du würdest mich kaum wiedererkennen, das runde glattrasierte Gesicht habe ich nicht, ein knorriger Seebär mit Vollbart, sonnengegerbte Haut, die Augen glänzend vor Einsamkeit, die Haut vor Einsamkeit durchsichtig wie das Wasser. Wie geht es deinem Mann, ich hörte ihr habt eine Tochter. Hast du ihm von uns erzählt? (Ja, da ist noch jemand, dem ich alle Jahre schreibe.)

Nachts bei Windstille, die hier in der Karibik häufig ist, wenn sich die Wellen kräuseln und nur der Mond sich in der unendlichen Fläche spiegelt, wird die Einsamkeit bodenlos, geheimnisvoll und ein unsichtbarer, ewiger Strom nimmt mich mit sich. Die Sterne am Himmel sind greifbar, wenn man im schwankenden Boot aufsteht und die Hände ausstreckt, kann man sie beinahe berühren, ein anderer Ozean und eine Lichterprozession, die Milchstraße darin. Dann verbinden sich die beiden Ströme, der meines Meeres und der des Himmels, unsichtbar, nur die Rah bewegt sich gelegentlich träge knarrend, kaum hörbar. In dieser Nacht denke ich oft an dich und weine. Vor Glück und Schmerz zugleich. Ich denke an die Tochter, die die unsere hätte sein können. Aber die bodenlose Nacht ist wie ein Echo aus der Tiefe des Ozeans.

Du solltest es gesehen haben, das Kap Hoorn, die vollkommene Einsamkeit, von der es keine volkommenere gibt. In Richtung Äquator tausende von Kilometern ödes Land, wie eine Mondlandschaft, kalte Steinwüste ohne Leben, zum Pol hin tausende von Kilometern, dazwischen treibende Schollen und Stürme, der Tod von knarrenden Schiffen, die hinter Hügelwellen in der Unterwelt verschwinden, brechendes Holz, jammernde Männer, der Tod, der Tod, die Einsamkeit kann wütend sein, zornig, stürmisch, uneinsichtig, unbelehrbar.

Ich fürchte, ich suche gar nicht so sehr die Unendlichkeit des Ozeans, sondern die Unendlichkeit eines Augenblicks, auf einer Insel. Wenn ich diese Insel gefunden habe, dann werde ich dich holen. Dann verlässt du deinen Mann und deine Tochter und ziehst für immer zu mir.

Ich sehe Ma beim Kartoffelschälen ... ins Wasser fallen, ist ein sicheres Todesurteil. Ich weiß nicht mehr, ob mich jemand geschubst hat, ob ich selbst gesprungen bin, du wirst es mir nicht glauben, ich kann mich nicht erinnern. Man würde erwarten, dass ich verzweifelt gewesen wäre, geschrien hätte um Hilfe und später vielleicht aufgegeben. Das Gegenteil ist wahr. Ich sah den Dampfer entschwinden, die Lichter, den Lärm, das stetige schwächer werdende Plätsch, Plätsch der Schiffsschraube. Nur ich und der Ozean, die Sterne, und fühlte, dass alles seine Richtigkeit hat, dass alles dafür vorbestimmt ist, dass es einmal passieren muss. Ich habe sogar angefangen, ein Seemannslied zu singen, aber es war zu mühsam, das schwappende Wasser machte mir den Mund zu. Ich schwamm in zwei Ozeanen, dem oben und dem wie Pisse warmen unter mir. Geborgenheit der Pisse! Am liebsten wäre ich in den Ozean über mir hinaufgefallen, und wiedergekommen in Jahrtausenden als ein Asteroid.

Mir wurde bewusst, dass die Sehnsucht nach dem Meer eine nach den Sternen ist. Diese unendliche Wasserfläche und ich auf einer dünnen Schale treibend. Der Tag war schlimmer als die Nacht, weil er die Wirklichkeit ins Bewusstsein führt. Etwas in mir beschloss, in der folgenden Nacht zu gehen, in die Tiefe. Und dann, ich hätte es kaum geglaubt, als es so weit war, vielleicht gegen Mitternacht, als ich einige Male untergetaucht war, um ins Wasser hineinzuhören, wurde mir bewusst, dass da unter mir vielleicht viertausend Meter Tiefe sind. Eine ungeheure Welt, kalt und dunkel, von Druck und Tiefe, mit unheimlichen Wesen bevölkert, im Warten befindlich, unbewegt, und plötzlich wollte ich nicht sterben, nicht mehr dorthin sinken. Ich sagte mir, es wäre etwas anderes, wenn das Wasser nur so tief wäre wie ein See oder ein Fluss, unser Fluss, aber viertausend Meter. Mich schauderte, obwohl das Wasser warm war. Zu den Sternen, ja, das wäre etwas anderes, aber da unten, gab es keine, nur Mäuler. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, ich sagte mir immer wieder, dass dies eine oft befahrene Wasserstraße ist. Ich überstand diese Nacht und den halben Tag, bis mich ein Frachter gesichtet hatte, der schon lange nach mir suchte. Ich hatte nicht mehr die Kraft, zu rufen oder den Arm zu heben, aber da waren erfahrene Männer mit Ferngläsern überall.

Ich fiel von der Strickleiter, ein malaysischer Matrose, ein dicker freundlicher Kerl mit dicken Unterarmen, von dem ich kein Wort verstand, fing mich auf. Als man mich, völlig durchgefroren, herausgeholt hatte, mir heiße Kartoffeln unter die Achseln schob und mich in Decken eingewickelt in der Kajüte des Kochs aufs Bett legte, da weinte ich vor Glück. Zu meinem Erstaunen weinte ich nicht, weil man mich gefunden hatte, sondern weil man nach mir gesucht hatte, nicht wegen des malaysischen Matrosen, sondern weil mein Verschwinden jemandem aufgefallen war.

Diese zwei Nächte haben mich verändert. Sie haben etwas freigelegt, was schon immer da gewesen war. Das Geschwätz der Menschen kann ich nicht mehr ertragen. Einige Dinge habe ich noch geregelt und dann in Kolumbien das Fischerboot gekauft. Ich sehe nun, dass der Citroën beladen ist. Wenn alles an Bord ist, werde ich mich noch ein wenig herumtreiben, mir ein Abendessen in Gesellschaft genehmigen und dann die Nacht vor Anker im Hafen verbringen. Mit der aufgehenden Sonne werde ich hinausgefahren sein. Wenn ich gefunden habe, Nora, wonach ich suche, werde ich ein letztes Mal schreiben und dann auf deine Antwort warten.


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