Inger-Mari Aikio: Sahne für die Sonne
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Timo Brandt
Naturkerzenlichter
„Auf dem BirkenblattIst Sommer angerichtetMit Nebel gesalzen“„Die Mücken kochenIm Sommereintopf schlägtDer Wind Flügelbrei“ (aus dem Teil Geassi/Kesä/Sommer)
Inger-Mari Aikio ist eine finnische Autorin aus dem Norden
von Lappland, die ihre Texte meist auf Samisch schreibt (und dann oft ins
Finnische übersetzt, seltener umgekehrt). „Sahne für die Sonne“ ist ein achtteiliger
Zyklus von Taiku (Kombination aus Haiku und Tanka, mit den Silbenzahlen 5-7-7
für die Strophen – im Original ist jedes sowohl auf Samisch als auch auf
Finnisch enthalten), den sie als Text für ein Musikstück des finnischen
Musikers Miro Mantere schrieb (im Buch ist ein QR-Code abgedruckt, der zu
Manteres musikalischer Interpretation der Gedichte führt).
Die Texte sind in deutscher und englischer Übersetzung abgedruckt, wobei die englische Übersetzung auf den samischen, die deutsche Übersetzung auf den finnischen Texten beruht. Das führt zu einigen reizvollen, aber auch irritierenden Abweichungen, die das Buch aber insgesamt bereichern (und, so Johanna Domokos im Nachwort, bereits in der Samisch-Finnischen Ausgabe vorhanden sind, weil die Autorin ihre eigenen Gedichte in der Finnischen Übertragung leicht abänderte).
„Es regnet Knoten
Unlösbare
Arbeit für ein ganzes Jahr“
„Die Quelle wie eine reine Perle
Die Worte der Sehnsucht
Vermisst niemand mehr“
(aus dem Teil Čakčageassi/ Syyskesä/Spätsommer)
„Flechte auf dem AstAuf der Haut das HerbstlichtSchon hebt sich die Sense“ (aus dem Teil Čakča/Syksy/Herbst)
Für die Sámi gibt es acht Jahreszeiten, deswegen ist das
Buch in acht Kapitel unterteilt; zu jeder Jahreszeit gibt es eine
Schwarzweißfotographie.
Die Taiku haben unterschiedliche Gewichtungen – manchmal
umspielen sie ein Naturphänomen mit häuslichen Begriffen, personalisieren es
oder bereiten es sogar mit leichter Komik auf, bei anderen Gelegenheiten
stellen sie die Erscheinungen in einen größeren Kontext. Und manchmal wird die
Natur zum Sinnbild, bspw. wenn der endlos-strömende Regen die Masse der noch
ungelösten Aufgaben des Jahres, die Angst davor, vergegenwärtigt.
Alle Taiku verbindet der Versuch, das Phänomen nicht nur als
Bild, sondern als Erfahrung, als Erleben und mitunter als Teil größerer
Prozesse greifbar zu machen.
„Das weite EisRüttelt an FenstergriffenDie niemand mehr öffnet“ (aus dem Teil Čakčadálvi/Syystalvi/Spätherbst oder Polarnacht)„Im SchaukelstuhlSpinnt der Schnee HakenUm sie im Frühling wieder zu lösen“„Die Lippen der SchneeweheBeißen ins GenickAls beschützten sie die tiefste Nacht“ (aus dem Teil Dálvi/Talvi/Winter)
Mir kamen die Taiku beim Lesen wie Kerzen vor, die für jede
Jahreszeit und ihre Phänomene entzündet werden – kleine Schlaglichter auf das
ungeheure Ausmaß an Erfahrungen, welches jeder Jahresabschnitt in der Natur
hervorbringt. Kerzen wiederum auch deshalb, weil sie etwas Intimes haben – und
eine gewisse Intimität ist ein weiteres Merkmal der Gedichte.
Einigen Taiku merkt man an, dass sie (wie oft auch
japanische Haiku und Tanka) nur im Kontext einer bestimmten regionalen Flora
und Fauna, verbunden mit Mythologie und Tradition, gänzlich verstanden werden
können – es gibt also manche Dinge
(Tiere, Wendungen, etc.) in den Gedichten, deren symbolische Bedeutung ich
nicht ganz erfassen konnte.
Trotzdem lohnt sich die Lektüre. Das Buch ist gleichsam ein
wunderbarer Gruß aus einer anderen Weltregion und doch ein übergreifendes
Portrait der Jahreszeiten, der Tiefe und Reichhaltigkeit ihrer ureigenen
Motive, ihrer verschiedenen Gesichter.
„Aus der MilchstraßeTröpfelt‘ weiß herausSahne für die Sonne“ (aus dem Teil Giđđadálvi/Kevättalvi/Spätwinter)„Schneeammern auf der SchneedeckeDie Augen SuchenDas Weiß im Weiß“ (aus dem Teil Giđđa/Kevät/Frühling)„Der Strauch schütteltDen schlafenden Wind in den SeeSogar die Windstöße lachen“ (aus dem Teil Giđđageassi/Kevätkesä/Frühlingssommer)
Inger-Mari Aikio: Sahne für die Sonne. Berlin (Verlag Hans Schiler) 2018. 96 Seiten. 16,00 Euro.