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Gottsched: Das I. Capitel

Poeterey



Erster allgemeiner Theil

Das I. Capitel.


Vom Ursprunge und Wachsthume der Poesie überhaupt.


1. §. Wenn das Alterthum einer Sache ein Ansehen geben oder ihr einen besondern Werth beylegen kann: so ist gewiß die Poesie eine von den wichtigsten freyen Künsten, ja der vornehmste Theil der Gelehrsamkeit. Sie ist so alt, daß sie auch vor der Sternwissenschaft hierinn den Vorzug behaupten kann; die doch von den uralten Chaldäern, bald nach der Sündfluth, oder wie andre meynen, erst von den Aegyptern, eifrig getrieben worden. Und das ist kein Wunder. Die Astronomie hat ihren Ursprung außer dem Menschen, in der sehr weit entlegenen Schönheit des Himmels: die Poesie hergegen hat ihren Grund im Menschen selbst, und also geht sie ihn weit näher an. Sie hat ihre erste Qvelle in den Gemüthsneigungen des Menschen. So alt also diese sind, so alt ist auch die Poesie: und wenn sie ja noch einer andern freyen Kunst weichen soll, so wird sie bloß die Musik, so zu reden, für ihre ältere Schwester erkennen.
2. §. Einige wollen behaupten, daß die allerersten Menschen das Singen von den Vögeln gelernet haben. Es kann solches freylich wohl nicht ganz und gar geleugnet werden; vielmehr hat es eine ziemliche Wahrscheinlichkeit für sich. Leute, die im Anfange der Welt mehr in Gärten oder angenehmen Lustwäldern, als in Häusern wohnten, mußten ja täglich das Gezwitscher so vieler Vögel hören, und den vielfältigen Unterscheid ihres Geschreyes wahrnehmen. Von Natur waren sie, sowohl als unsre kleineste Kinder, uns Erwachsene selbst nicht ausgenommen, zum Nachahmen geneigt: daher konnten sie leicht Lust bekommen, den Gesang desjenigen Vogels, der ihnen am besten gefallen hatte, durch ihre eigene Stimme nachzumachen; und ihre Kehle zu allerley Abwechselungen der Töne zu gewöhnen. Diejenigen, welche vor andern glücklich darinn waren, erhielten den Beyfall der andern: und weil man sie gern hörete, so legten sie sich desto eifriger auf dergleichen Melodeyen die gut ins Gehör fielen; bis endlich diese vormalige Schüler des wilden Gevögels, bald ihre Meister im Singen übertrafen.
3. §. Allein es ist nicht nöthig, auf solche Muthmaßungen zu verfallen. Der Mensch würde, meines Erachtens, gesungen haben, wenn er gleich keine Vögel in der Welt gefunden hätte. Lehrt uns nicht die Natur, alle unsere Gemüthsbewegungen, durch einen gewissen Ton der Sprache, ausdrücken? Was ist das Weinen der Kinder anders, als ein Klagelied, ein Ausdruck des Schmerzens, den ihnen eine unangenehme Empfindung verursachet? Was ist das Lachen und Frohlocken anders, als eine Art freudiger Gesänge, die einen vergnügten Zustand des Gemüthes ausdrücken? Eine jede Leidenschaft hat ihren eigenen Ton, womit sie sich an den Tag legt. Seufzen, Aechzen, Dräuen, Klagen, Bitten, Schelten, Bewundern, Loben, u.s.w. alles fällt anders ins Ohr; weil es mit einer besondern Veränderung der Stimme zu geschehen pflegt. Weil man nun angemerket hatte, daß die natürlich ausgedrückten Leidenschaften, auch bey andern, eben dergleichen zu erwecken geschickt wären: so ließen sichs die Freudigen, Traurigen, Zürnenden, Verliebten u.s.w. destomehr angelegen seyn, ihre Gemüthsbeschaffenheit auf eine bewegliche Art an den Tag zu legen, um dadurch auch andre, die ihnen zuhöreten, zu rühren; das ist, ihnen etwas vorzusingen.
4. §. Wie nun bisher erwähnter maßen, auch bloße Stimmen die innerlichen Bewegungen des Herzens ausdrücken, indem z.E. die geschwinde Abwechselung wohl zusammen stimmender scharfer Töne lustig, die langsame Abänderung gezogener und zuweilen übellautender Töne traurig klinget, u.s.f: so ist es doch leicht zu vermuthen, daß man nicht lange bey bloßen Stimmen oder Tönen im Singen geblieben seyn, sondern auch bald gewisse Worte dabey wird ausgesprochen haben. Man hört es freylich auch auf musikalischen Instrumenten schon, ob es munter oder kläglich, trotzig oder zärtlich, rasend oder schläfrig klingen soll: und geschickte Virtuosen wissen ihre Zuhörer, bloß durch ihre künstliche Vermischung der Töne, zu allen Leidenschaften zu zwingen. Allein es ist kein Zweifel, daß Worte, die nach einer geschickten Melodie gesungen werden, noch viel kräftiger in die Gemüther wirken.
5. §. Sonderlich muß man dieses damals wahrgenommen haben, als die Gesangweisen so vollkommen noch nicht waren, als itzo, da die Musik aufs höchste gestiegen ist. Es war also sehr natürlich, daß die ersten Sänger den Anfang machten, anstatt unvernehmlicher Töne, verständliche Sylben und deutliche Wörter zu singen. Dadurch konnten sie dasjenige, was sie bey sich empfunden hatten, desto lebhafter ausdrücken, ihre Gedanken ausführlicher an den Tag geben, und bey ihren Zuhörern den gewünschten Endzweck erreichen. Abgesungene Worte, die einen Verstand in sich haben, oder gar einen Affect ausdrücken, nennen wir Lieder; oder, welches gleich viel ist: ein Lied ist ein Text, der nach einer gewissen Melodie abgesungen werden kann. Die Gesänge sind dergestalt die älteste Gattung der Gedichte, und die ersten Poeten sind Liederdichter gewesen.
6. §. Man kann sich aber leicht einbilden, wie diese ersten Oden mögen geklungen haben. Alle Dinge sind anfänglich rauh und grob, oder doch voller Einfalt. Die Zeit bessert alles aus; die lange Uebung in einer Kunst bringt sie endlich zu größerer Vollkommenheit: nur findet sich der Ausputz oft sehr spät, wenn gleich die Sache selbst längst erfunden gewesen. Ich stelle mir die neuerfundenen Lieder nicht anders vor, als die Evangelien, das Vater Unser und andre in ungebundner Rede abgefaßte Lieder, die man noch itzo an vielen Orten singet; nämlich die Litaney, den Lobgesang Mariä, die Collecten u.d.m. Sätze von ungleicher Größe, ohne eine regelmäßige Abwechselung langer und kurzer Sylben; ja so gar ohne alle Reime, waren bey den ersten Sängern schon eine Poesie. Die Psalmen der Hebräer, das Lied Mosis, der Gesang, den Mirjam beym Durchgange durchs rothe Meer angestimmet; u.a.m. können uns davon sattsam überzeugen. So mühsam sich einige Gelehrten mit dem Hieronymus haben angelegen seyn lassen, in diesen alten hebräischen Liedern ein gewisses Sylbenmaaß zu finden; so leicht wird doch ein jeder Unparteyischer sehen, daß alle ihre Arbeit vergebens gewesen. Sie haben es mehr hinein gezwungen, als darinn gefunden; und es ist weder wahrscheinlich noch nöthig, daß die Poesie der ältesten Nationen eben die Zierde und Vollkommenheit gehabt haben muß, als sie nachmals bey den Griechen und Römern erlanget. Man hält es also billig mit Jos. Scaligern, der in seinen Anmerkungen über den Eusebius schreibt: »Die hebräische Sprache ist durchaus nicht auf die Regeln des griechischen oder lateinischen Sylbenmaaßes zu bringen; wenn man gleich Himmel und Erde durch einander mischen wollte.« Man weis, daß der Engländer, der kürzlich von dem Sylbenmaaße der Psalmen neue Entdeckungen gemacht zu haben, vorgegeben, nichts besonders geleistet. Zum wenigsten hat ers nicht erweislich gemacht, daß es so sorgfältig, als bey den Lateinern und Griechen eingerichtet gewesen.
7. §. Selbst die ersten Poeten unsrer Vorfahren habens nicht besser zu machen gewußt. In Schweden hat man in der Edda solche Ueberbleibsel alter Lieder, wo weder Sylbenmaaß noch Reime gefunden werden. Morhof im Unterrichte von der deutschen Sprache auf der 268. Seite führt folgendes an:

Latur sa er hakon heitir
Han rakir lid bannat
Jord kan frelsa findum
Fridroß kongar oßa
Sialfur rädr alt och Elfar
Eira stillir amilli
Gramur ofgifft ad fremri
Gandwikz Jofur Landi


Imgleichen hat Schilter in der Vorrede zu Ottfrieds Evangelio 10. §. T. 1. THES. ANTIQU. GERM. diese Probe gegeben:

Fe ock fierwi
Ränsi firthakind
Sa himm grimmi Greppur
Yfr tha Gautu
Er han warthathi
Nathi einginn kwikur komast.


Daß diese alte Schwedische Sprache wo nicht eine Mutter, wie Rudbek in seiner ATLANTICA, nebst andern Schweden behaupten wollen, doch zum wenigsten eben sowohl eine Tochter der Scythischen, und alten Celtischen gewesen sey, als unsre Deutsche, die daher ihren Ursprung hat; das zeigen so viele Wörter, die in diesen beyden Proben, an Verstand und Buchstaben mit unsern heutigen übereinkommen: wenn man nur die an oberwähnten Orten befindliche lateinische Uebersetzung zu Hülfe nimmt, und sonderlich der plattdeutschen Mundart mächtig ist. Z.E. lid heißt leiten, bannat verbannet, kan ist völlig kann; Fridroß Friedensbruch oder Riß; Kongar, König; sialfur, selber; alt, alles; och, auch; ad, und; landi, land. Und in dem andern heißt ok auch, firthakind, Menschenkind, grimmi, grimmige, yfr, über, tha, die, warthathi, bewahrete, einginn, einiger, komast, kommest. Doch dieses nur beyläufig.
8. §. Fragen wir also, worinn die damalige Poesie der Alten denn eigentlich bestanden? so müssen wir sie, im Absehen  auf das Aeußerliche, bloß in der ohngefähr getroffenen Gleichheit der Zeilen suchen. Es traf sich irgend so, daß die kurzen Abschnitte der Rede, oder die kleinen Theile der Lieder, fast einerley Anzahl der Sylben hatten. Doch gieng es damit so genau nicht zu. Es kam ihnen darauf nicht an, ob die eine Zeile etliche Sylben mehr oder weniger hatte, als die andre. Die Geschwindigkeit des Singens verkürzte die langen, und die Langsamkeit der Aussprache verlängerte die kurzen; so, daß sie sich so ziemlich zur Melodie schicketen. Wir können uns dieses noch heute zu Tage an alten geistlichen Gesängen, imgleichen an den Liedern der Bergleute vorstellen; die es auch so genau nicht nehmen, und die Zeilen ihrer Verse gleichsam nur mit einem Hölzchen abzumessen pflegen. Und wenn sie sich von der ungebundenen Rede noch in sonst was unterschieden haben; so muß es bloß in den erhabenen Gedanken und dem edlen Ausdrucke derselben, in prächtigen Figuren, Fabeln, Gleichnissen und schönen Redensarten gesucht werden: wie solches aus der morgenländischen Poesie zu ersehen ist.
9. §. Solche Lieder nun wird man gesungen haben, als Jubal allerley musikalische Instrumente erfunden; und als Laban dem Jacob sagte: daß er ihn mit Freuden, mit Singen, mit Pauken und Harfen hätte begleiten wollen. Dergleichen Lieder haben Mirjam, Moses, und nachmals Debora gesungen. Dergleichen Lieder haben auch David, Assaph, Salomo, Jeremias und viele andere gedichtet; ja die ganze hebräische Poesie weis von keinen andern: so daß es lächerlich ist, wenn Josephus schreibet, das Buch Hiob sey in Hexametern geschrieben. In solchen Versen haben auch ohne Zweifel Linus, Museus, Orpheus und Amphion in Griechenland noch gesungen, die doch so großen Ruhm mit ihrer Dichtkunst erlanget haben. Solcher Art sind endlich auch die alten salischen Lieder bey den Römern gewesen, die Numa einführt, und die fescenninischen Verse, die nachmals in Italien im Schwange gegangen. Kurz, so sind die Poesien der allerältesten Völker in der ganzen Welt beschaffen gewesen. Ein Poet aber und ein Musikus, das war damals einerley: weil viele Sänger sich ihre Lieder selbst machten, und die Dichter die ihrigen selbst sungen. Daher kam denn nachmals die Gewohnheit, daß die Poeten ihre Leyern, Cithern, Seyten, Flöthen und Schalmeyen immer anredeten, wenn sie gleich nicht selber spielen konnten. Weil nämlich die Alten beydes zugleich gekonnt hatten, so blieben auch die Neuern noch bey der Sprache ihrer Vorgänger, und entschuldigten sich gemeiniglich mit einer tropischen Redensart, die uns erlaubt, das Nebending an statt des Hauptwerkes zu setzen.
10. §. Mit der Zeit fieng man an, die Sylben in poetischen Zeilen etwas genauer abzuzählen, damit sie sich desto besser zu den Melodeyen schicken möchten. Die Griechen mögen wohl die ersten gewesen seyn, die solches gethan haben: obwohl noch allezeit einige Lieder bey ihnen im Schwange blieben, darinn sich die Poeten viel Freyheiten heraus nahmen. Man lese nur nach, was Scaliger in seiner Poetik, von dithyrambischen und päanischen Gesängen geschrieben. Ja dieses witzige Volk ließ es auch dabey nicht bewenden. Denn wie es ein sehr zartes Gehör hatte, und also zur Musik sehr geschickt und geneigt war: Also bemerkte es bald, daß es auch mit der bloßen Sylbenzahl in einem Liede nicht ausgerichtet wäre. Die eine Zeile hatte immer einen bessern Wohlklang, als die andre, und schickte sich besser zur Musik, wenn sie gleich beyde auf einerley Art gesungen wurden: und bey genauer Aufmerksamkeit fand man, daß die Ursache in der Abwechselung langer und kurzer Sylben zu suchen wäre. Man bemerkte derowegen, welche Art der Vermischung sich zu dieser oder jener Gesangweise am besten schickte: Und daher entstunden sehr viel verschiedene Gattungen der Verse, die in so großer Menge bey den Griechen und Lateinern vorkommen, daß man sie fast nicht zählen kann. Man sehe hierbey nach, was Vossius in seinem Tractate DE POEMATUM CANTU, & VIRIBUS RHYTHMI geschrieben hat.
11. §. Die nordlichen Völker, darunter denn auch die Deutschen gehören, liebten zwar auch das Singen, hatten aber kein so zärtliches Gehör; und verfielen also auch auf dieses künstliche Sylbenmaaß der Griechen und Römer nicht. An dessen statt geriethen sie auf den Gleichlaut der letzten Sylben in zwoen Zeilen ihrer Lieder, und fanden ein besonderes Belieben an einem übereinstimmenden Klange, den sie den Reim nenneten. Sie gewöhnten auch ihre Ohren dergestalt daran, daß sie diesen Reim endlich für das wesentlichste Stück der Poesie hielten; ja die Verse und alle Gedichte überhaupt, nicht anders, als Reime nennten. Diesen Reim nun zu haben, sparten sie weder Kunst noch Mühe; ja sie verwehrten sich dabey auch keine Freyheit. Zum wenigsten wußten sie eine Aehnlichkeit der letzten Wörter herauszubringen, wenn gleich keine völlige Gleichheit zu erhalten möglich war. Z.E. Ottfrieds Vorrede zu seinem Evangelio hebt so an:

Hludouuig ther snello
Thes Uuisduames follo
Er Ostarrichi rihtet al
so Frankono Kuning scal u.s.w.


12. §. Nun haben zwar einige, als Huetius in dem Buche vom Ursprunge der Romane, den Ursprung der Reime den Arabern zuschreiben wollen, die sie im achten Jahrhunderte nach Spanien gebracht haben sollen; welchem auch Campanella beypflichtet. Allein nichts ist leichter zu zeigen, als daß die Reime in Deutschland, Welschland und Frankreich schon im fünften Jahrhunderte im Schwange gewesen, ehe noch die Arabe aus Asien gegangen: vielmehr haben selbige diese Kunst in Spanien von den Gothischen und Vandalischen Völkern gelernet, die daselbst vor ihnen geherrschet hatten. Gyrald holet sie aus Sicilien her, und Claude Fauchet aus der Provence in Frankreich; die aber ebenfalls ihre Reime von den deutschen Völkern gelernet, die daselbst vorher schon eingefallen waren. Andre wollen die Kunst gar den Rabbinen der Juden zueignen, die doch erst seit des David Kimchi Zeiten dergleichen zu machen angefangen; und es ohne Zweifel von den europäischen Christen gelernt haben. Noch andre haben gar die Reime schon bey den alten Lateinern und Griechen finden wollen. Ob es nun wohl nicht zu leugnen ist, daß man nicht hier und dar einige solche Verse finden sollte, da sich entweder zweene Zeilen am Ende, oder eine für sich, in der Mitte und am Ende reime: so ist doch dieses nur von ohngefähr gekommen, und man hat wenigstens keine solche Schönheit darinn gesucht, als die alten Deutschen. Der einzige Kaiser Hadrian hat in seiner ANIMULA VAGULA BLANDULA, eine Reimsucht bewiesen, die er ohne Zweifel von den Deutschen gelernet, mit denen er viel zu thun gehabt. Die VERSUS LEONINI sind auch in Italien allererst im fünften Jahrhunderte aufgekommen, und haben den Namen von einem gewissen LEONIO, einem CANONICO, der sich damit zuerst hervorgethan. Damals aber, wie bekannt ist, waren die deutschen Völker schon eingefallen, und hatten also ihre Reimart mit sich dahin gebracht. Die Gelehrten verliebten sich auch bey der einreißenden Barbarey und dem Verfalle des guten Geschmackes so sehr ins Reimen, daß sie sich nicht satt reimen konnten. Es war nicht genug, daß zwey Zeilen mit einander reimeten. Z.E.

VT MENS SE VIDEAT POSITA CALIGINE FUMI;
QUIS VETAT APPOSITO LUMEN DE LUMINE SUMI?


Sondern es mußte sich auch wohl Mittel und Ende eines Verses reimen. Z.E.

HIC JACET HENRICUS SEMPER PIETATIS AMICUS.


Oder wie die salernitanische Schule die Gesundheitsregeln abgefasset. Z.E.


CASEUS ET PANIS, SUNT OPTIMA FERCULA SANIS.


Kaum war dieses erdacht, als man gar dreyfache Reime machte: Z.E.

VOS ESTIS, DEUS EST TESTIS! TETERRIMA PESTIS.


Und auch darüber fanden sich noch andere Künstler, die ihre Vorgänger in der Reimsucht übertreffen wollten; indem sie eine noch künstlichere Verschränkung der gereimten Zeilen erdachten, wie dieß Exempel zeigen wird:

IANUA MORTIS, PASSIO FORTIS, CRIMEN EORUM
ATTULIT ORBI, SEMINA MORBI, TOTQUE MALORUM.


So wurden denn, bey so vielen Reimen, die Verse selbst unsichtbar: und die eingebildeten Poeten wurden nichts, als elende Reimschmiede, die sich an dem Klappen der Sylben, wie Kinder an dem Klingen der Schellen belustigen; an die Sachen aber, entweder gar nicht dachten, oder, des großen Zwanges halber, nicht recht denken konnten.
13. §. Bey dem allen aber bleibt es wohl gewiß, daß die scythischen oder celtischen Völker, das ist, unsre Vorfahren, und die Barden derselben, als ihre Poeten, etwa um die Zeiten des Tacitus, auch wohl noch zeitiger, die Reime in ihren Liedern eingeführet haben mögen. Ihre Absicht dabey ist wohl nichts anders gewesen, als daß ihre Landesleute das Lob ihrer Helden desto leichter auswendig lernen, und es desto besser behalten möchten. Denn weil an Schreibern damals ein großer Mangel war, und das Gedächtniß des Volkes die Stelle der Chroniken vertreten mußte: so waren die gereimten Lieder sehr geschickt, das Auswendiglernen zu befördern. Alle Sprüchwörter unsrer Alten zeigen davon. Diese hielten den Kern ihrer moralischen und politischen Klugheit in sich, und wurden der Jugend gleich mit der Muttermilch eingeflößet; aber zu desto größerer Erleichterung des Gedächtnisses in Reimen verfasset: Z.E.

Freunde in der Noth
Gehn hundert auf ein Loth.


* * *

Je krümmer Holz, ie besser Krück;
Je ärger Schelm, ie besser Glück.


* * *


Auf einen groben Ast
Gehört ein grober Qvast. u.d.gl.


Doch die Sache ist so ausgemacht, daß sie keines fernern Beweises vonnöthen hat.
14. §. Wie nun die Griechen in ihrem Sylbenmaaße die Lateiner zu Nachfolgern bekommen haben: so haben auch die alten Deutschen ganz Europa reimen gelehret. Italien, Spanien und Gallien nahmen die Art derjenigen Völker an, die sich durch die Gewalt der Waffen ihrer bemächtigten.1 Die Dänen, Schweden, Holl- und Engelländer sind selbst von deutschem Geschlechte, und haben also diese Kunst von ihren eigenen Vorfahren gefasset. Ja auch die Polen, eine Abkunft der alten Sarmater, beliebten die reimende Poesie. Nichts ist dabey mehr zu bewundern, als daß die Italiener, Spanier und Franzosen, die doch Abkömmlinge der Lateiner sind, nicht das regelmäßige Sylbenmaaß ihrer Vorfahren beybehalten; sondern selbiges entweder gar mit der deutschen Reimkunst vertauschet, oder doch damit verbunden haben. So hoch Dantes und Petrarcha in Welschland, Ronsard und Malherbe in Frankreich, wegen der durch sie gesäuberten Poesie ihres Vaterlandes, geschätzet werden: so seltsam muß es einem Verständigen vorkommen, daß diese große Geister ihren Landesleuten nicht gewiesen, wie man auch im Welschen und Französischen die lateinische Art zu Dichten nachahmen, und verschiedene Arten der Abwechselung langer und kurzer Sylben einführen könnte. Sie blieben nämlich bey der bloßen Abzählung der Sylben und dem Reime: wozu die Franzosen in den fünf und sechsfüßigen Versen noch einen Abschnitt hinzu thaten. Daher ist es denn vergeblich, wenn einige von unsern Landesleuten in der Poesie dieser Völker ein Sylbenmaaß suchen; oder ihre Poeten beschuldigen, daß sie dawider verstoßen: wie der ungenannte Verfasser der REFLEXIONS SUR LA VERSIFICATION FRANÇOISE gethan hat. Sie haben sichs noch niemals in den Sinn kommen lassen, daß ihre Sprache lange und kurze Sylben habe;² so leicht man ihnen solches durch die Aussprache selbst zeigen kann. Und wenn sie gleich viel von ihrer so genannten Cadance schwatzen: so ist es bey ihnen doch ein bloßes JE NE SÇAI QUOI? Sie wissen nämlich nicht zu sagen, woher dieselbe entsteht, können auch keine Regeln davon geben; und wollen sichs doch nicht sagen lassen, daß solches bloß von einer regelmäßigen Abwechselung langer und kurzer Sylben herrühret. Diese gelinget ihnen zuweilen von ohngefähr, ohne daß sie daran gedacht haben. Z.E. Ein jeder Franzose giebt zu, daß folgende Verse einen recht unvergleichlichen Wohlklang haben:

QUOY? NOUS PLAYDONS, DIT-IL, TENDANT SES MAINS AU PORT,
AUPRÉS DE CES VAISSAUX, ET L'ON ME FAIT CE TORT,
DE ME LE DISPUTER! O DIEUX! EN LEUR PRESENCE,
ULYSSE AVEC AJAX EST MIS EN CONCURRENCE!
CE LÂCHE, QUI FUYOIT HECTOR ET SES BRÛLOTS,
QUAND J'EN SOÛTINS L'EFFORT, AU MILIEU DE CES FLOTS.


Aber niemand wird es gewahr, daß dieser Vers fast durchgehends aus lauter Jamben besteht; so, daß alle Sylben ihren natürlichen Accent behalten, den sie in ungebundner Rede haben. Eben das könnte man auch von Italienern und Spaniern erweisen, wenn es hieher gehörete.
15. §. Da nun alle diese Nationen, und die Pohlen noch dazu, bey dieser unvollkommenen Art Verse zu machen geblieben sind: so haben die Deutschen sie gewiß weit übertroffen. Unsre Poeten haben es durch die Zärtlichkeit ihres Gehöres bald gemerket, daß die regelmäßige Abwechselung langer und kurzer Sylben, dadurch die griechische und römische Poesie so vollkommen geworden, auch in unsrer Muttersprache statt haben könne; und daher hat man schon vor unserm großen Opitz allerley Gattungen des Sylbenmaaßes gebraucht. Z.E. Die Winsbeckinn, die am Hofe des Kaisers Barbarossa gelebt, hat die Ermahnung an ihren Sohn in lauter jambischen Versen beschrieben. Es heißt gleich von Anfang:

Ein wiser Man hat einen Sun,
Der was im lieb als mannigem ist,
Den wolt er lernen rechte tun,
Und sprach also: Min Sun du bist
Mir lieb an allen falschen List,
Bin ich dir sam du selbe dir so volge mir ze dirre Frist:
Diewile du lebest es ist dir guot
Ob dich ein Frömder ziehen sol, du weist nicht, wie er ist gemuot.


In dieser ersten Strophe ist nur das Wort mannigem, diewile und lebest, wider das ordentliche Sylbenmaaß: Alles übrige ist recht. Wer sieht aber nicht, daß in der heutigen Aussprache in jenem das I, in den beyden letzten aber das eine E leichtlich verschlungen wird? Man sehe nur die Lieder an, so D. Luther schon vor 200 Jahren gemacht, so wird man ziemlich richtige jambische oder trochäische Verse darinnen finden. Ich darf zum Beweise nur den Glauben anführen, als wo beyde erwähnte Gattungen vermischt anzutreffen sind.

U – U – U – U –
Wir gläuben all' an einen Gott,
– U – U – U – U
Schöpfer Himmels und der Erden,
Der sich zum Vater geben hat,
Daß wir seine Kinder werden,
– U – U – U – U
Er will uns allzeit ernähren,
Allem Unfall will er wehren,
U – U – U – U –
Er sorget für uns hüt' und wacht,
Es steht alles in seiner Macht.


Ein jeder wird hier unschwer sehen, daß alle ausgerückte und männlich gereimte Verse jambisch; alle eingerückte weibliche hergegen trochäisch sind: und das ganze Sylbenmaaß ist so richtig, daß nur in der letzten Zeile das einzige Wort alles, wider seine Natur, vorn kurz und hinten lang ausgesprochen werden darf. Und was darf es viel Beweises? Das einzige Exempel des ehrlichen Rebhuns, von dessen Klage des armen Mannes, ich in denen critischen Beyträgen einen ausführlichen Auszug gegeben, kann uns überzeugen, daß man zur Zeit der Reformation bereits mit ganzem Fleiße, jambische und trochäische Verse von allerley Länge gemacht habe.
16. §. Wären nun ihre Nachfolger in der Poesie auch den Spuren dieser großen Vorgänger gefolget, so würden wir lange vor Opitzen taugliche Verse im Deutschen bekommen haben. Da aber Hans Sachse und andere nach ihm, kein so zartes Gehör hatten, und bey der alten Art blieben; so mußte freylich der itzt gedachte Vater unsrer gereinigten Poesie von neuem die Bahn darinn brechen. Er nahm sich die Holländer zum Muster, als unter welchen schon Heins und Cats ihrem Vaterlande eben den Dienst geleistet hatten. Von diesen ahmte er nicht nur die Gedanken, sondern auch das Sylbenmaaß nach: und er konnte es dem ersten also auch in dieser Absicht nachrühmen, wie er that, wenn er an ihn schrieb:

Daß deine Poesie der meinen Mutter sey.


Diesem Vorgänger sind nun nach der Zeit alle deutsche Poeten gefolget: und also übertrifft nunmehro unsre deutsche Poesie an Kunst und Lieblichkeit des Wohlklanges, die Poesien aller Italiener, Franzosen und Spanier; weil wir nämlich den Reim unsrer Vorfahren mit dem majestätischen Sylbenmaaße der Griechen und Römer vereinbaret haben. Was ich aber hier von den Deutschen sage, das gilt auch von den Schweden, Dänen und Engeländern: wiewohl diese letztern auch noch zuweilen ohne Sylbenmaaß reimen; auch wohl gar ohne Reim und Sylbenmaaß dichten, und bloß auf die Länge der Zeilen sehen: wie Milton in seinem PARADISE LOST gethan hat; welche Art der Verse sie BLANK VERSES nennen. Exempel davon mag ich hier nicht anführen; weil ich gar zu weit von meinem Zwecke ausschweifen würde.
17. §. Dacier, in seiner Vorrede zu der von ihm übersetzten Dichtkunst Aristotels, ist der Meynung, die Religion sey die Hebamme der Poesie gewesen; und man habe die ersten Lieder bloß zum Lobe Gottes gemacht und abgesungen. Er hat dieses mit andern von seinen Landesleuten gemein, daß sie abergläubischer Weise, den Wissenschaften gern einen heiligen Ursprung geben wollen. Was ist es aber nöthig, die Poesie durch Fabeln in Ansehen zu setzen, da sie ohne das Liebhaber genug findet, wenn man gleich ihren Ursprung aus der Natur selbst herleitet? Meines Erachtens würde man nimmermehr auf die Gedanken gekommen seyn, Gott zu Ehren Lieder zu singen; wenn man nicht vorher schon gewohnt gewesen wäre, zu singen. Und ich glaube vielmehr, daß man durch die geistlichen Lobgesänge, eine an sich selbst gleichgültige Sache geheiliget; als durch die weltlichen Lieder, eine an sich heilige Sache entweihet habe. Ich muthmaße also, daß die Poesie etwa folgender maßen entstanden sey.
18. §. Wenn ein muntrer Kopf, von gutem Naturelle, sich bey der Mahlzeit, oder durch einen starken Trunk, das Geblüt erhitzet und die Lebensgeister rege gemacht hatte: so hub er etwa an vor Freuden zu singen, und sein Vergnügen auch durch gewisse dabey ausgesprochene Worte zu bezeigen. Er lobte die Süßigkeit des Weines, er pries den Berg, oder Stock, darauf er gewachsen; man erhob auch wohl das gute Jahr, die fruchtbare Zeit, oder diejenige Gottheit, die dergleichen Früchte hervorgebracht. Ein verliebter Schäfer, dem bey der langen Weile auf dem Felde, wo er seine Heerde weidete, die Gegenwart einer angenehmen Schäferinn das Herz rührete, und das Geblüt in eine Wallung setzte, bemühte sich, nach dem Muster der Vögel, ihr etwas vorzusingen, und bey einer lieblichen Melodie, zugleich seine Liebe zu erklären, ihr zu schmeicheln, ihre Schönheit zu loben, sich über ihre Kaltsinnigkeit und Unempfindlichkeit zu beklagen, oder die Liebe selbst zu erheben. Als nachmals der Aberglaube, den Gott Bacchus dem Weine, die Ceres den Feldfrüchten, die Pomona den Gärten, die Venus und ihren Sohn, der Liebe vorgesetzet hatte: so gerieth man auch allmählich auf das Lob der Götter. Dem Jupiter und allen übrigen Gottheiten wiederfuhr hernach gleiche Ehre, und solchergestalt wurde die Poesie gleichsam dem Gottesdienste geheiliget.
19. §. Von dem Lobe der Götter, kam man leicht auf das Lob der Helden, Erbauer der Städte, Stifter der Republiken, und Stammväter großer Geschlechter: wiewohl ich es auch für ganz möglich halte, daß man von dem Lobe der Helden, auf das Lob der Götter gekommen; oder vielmehr dieselben durch das Lob selbst vergöttert habe. Es ist nämlich bekannt, daß alle Götter der Heyden vormals Menschen gewesen seyn sollten, die nur wegen ihrer Vortrefflichkeit unter die Einwohner des Himmels wären aufgenommen worden. Bey solchen Lobliedern nun, schlichen sich auch die stachlichten Spottgesänge mit ein. Aristoteles gedenkt, daß man schon vor Homers Zeiten schimpfliche Lieder auf die Leute gemacht, und sie sehr anzüglich darinnen herumgenommen. Selbst Homer hat auf einen gewissen Müßiggänger, Margites, eine Satire gemacht. Ja Aventinus will in seiner deutschen Historie, daß, wie Thuiskon zu Anreizung der Nachkommen, die guten Thaten der Frommen, mit Liedern zu ehren befohlen: also hätte König Laber gebothen, man sollte auch von denen, die übels thäten, Lieder machen; und damit sie sich schämen und bessern möchten, selbige bey Nacht, wenn man das Licht angezündet hätte, auf öffentlicher Gasse vor den Häusern, absingen. Daher ist denn diese Art satirischer Lieder, Gesanglichter genennet worden. S. Morhofs Unterricht. Cap. VI. auf der 260. S.
20. §. Und so sehen wir denn nicht nur, daß die allerälteste Gattung der Poesie in Gesängen, Liedern und Oden bestanden; sondern auch in wie vielerley Gattungen sich dieselben allmählich eingetheilet. Ein Lied zum Lobe der Götter, hieß nachmals im griechischen Hymnus, oder Päan; ein Lied auf einen Helden, ENCOMIUM oder SCOLION; ein satyrisch Lied, DITHYRAMBUS; ein verliebtes Lied, MELOS oder THRENUS; und ein Trinklied, hieß eine Ode: wiewohl diese Namen auch oft in allgemeinerm Verstande gebraucht worden. Die ersten Poesien waren dergestalt alle zum singen gemacht; und die Musik gab ihnen das rechte Leben.
21. §. So gar als allmählich die Heldengedichte, Tragödien, Comödien und Schäfergedichte aufkamen, war noch der Gesang ein unentbehrliches Stück bey allen. Das Heldengedichte nämlich, entstund aus den Lobliedern auf Götter oder Helden: und Homerus soll seine Ilias, die er dem Achilles zu Ehren gemacht hatte, nach allen Rhapsodien, d.i. Stücken oder Büchern derselben, in Griechenland öffentlich abgesungen haben. Die Tragödien und Comödien entstunden aus den satirischen Spottliedern, die auf den Dörfern, an Festtägen, die Bauern zu vergnügen, von lustigen Köpfen gesungen wurden: wie nachmals aus eigenen Capiteln von diesen beyden Arten ausführlicher erhellen wird. Die Schäfergedichte entstunden aus den verliebten Liedern, welche sonderlich in Arkadien und Sicilien, als ein paar fruchtbaren und gesegneten Landschaften, mögen im Schwange gewesen seyn: weil nämlich der Ueberfluß an Lebensmitteln, die müßigen Schäfer daselbst, gar leicht zu diesem annehmlichen Affecte reizen konnte.
22. §. Bey allen diesen Gattungen der Poesien nun, verlohr sich allmählich das Singen. Die Heldengedichte Homers, sind wohl nach der Zeit, als Lykurgus oder Pisistratus sie in Ordnung gebracht, in Griechenland nicht allezeit gesungen, sondern oft nur gelesen worden; dafern man nicht das Lesen eines harmonischen Verses auch einen Gesang nennen will. In der Tragödie blieb nur der Chor musikalisch, der auch in der That lauter Oden sang. Alles übrige, was zwischen den Liedern des Chores eingeschaltet wurde, und aus einem bloßen Nebenwerke bald das Hauptwerk ward, pflegte nicht gesungen, sondern nur geredet zu werden: weswegen denn auch die jambischen Verse dabey gebraucht wurden, als welche mit der ungebundenen Sprache der Griechen sehr übereinkamen. Bey der Comödie war es anfänglich eben so, bis endlich der Chor, wegen seiner Schmähsucht, gar von der Obrigkeit verbothen ward, und also verstummen mußte, wie Horaz sagt. Was es aber bedeute, wenn die Aufschriften der terenzianischen Comödien melden, daß dieselben mit dieser oder jener Art von Pfeifen gespielt worden, das haben die Gelehrten noch nicht ausgemacht. Die Schäfergedichte des Theokritus und Virgils, mögen auch wohl nie alle seyn gesungen worden: denn da ihre Verfasser nicht wahre, sondern nur poetische Schäfer waren, so wurden sie nur zum bloßen Lesen gemacht. Ja selbst die Oden, welche Pindarus, Sappho, Anakreon und Horaz in so großer Menge gemacht, sind nicht alle zum Singen verfertiget worden. Man sehe nur z.E. die letztern an, und bemerke, bey was für verschiedenen Gelegenheiten sie verfertiget worden: so wird man selbst gestehen, daß die wenigsten darunter ein einzigmal mögen in die Musik gesetzt worden seyn.
23. §. Da nun dergestalt die Poesie, sich ohne die Ton- und Singekunst beliebt gemacht hatte, so war es kein Wunder, daß noch immer mehr und mehr unmusikalische Gedichte erfunden wurden. Dahin gehören nun die Satiren des Lucils, Horaz, Juvenals und Persius; die poetischen Briefe des Flaccus und Naso; die Elegien Catulls, Tibulls und des Propertius; die Sinngedichte Martials und andrer Lateiner: der Griechen voritzo nicht zu gedenken, die in allen diesen Stücken den Römern vorgegangen. Alle diese Gattungen konnten nicht mehr Lieder heißen: Poesien aber, Gedichte oder Verse blieben sie doch, als welchen letztern Namen Horaz auch seinen Briefen zugesteht; da er hingegen den ersten nur für die erhabenen Heldenlieder, Lobgedichte und Tragödien aufbehalten wissen will. Noch mehr entfernten sich von der rechten Art Hesiodus, der die tägliche Arbeit eines Landmannes, Empedokles, der die ganze Naturlehre, Aratus, der die Sternkunst, Lucretius, der gleichfalls die Naturwissenschaft, und Virgil, der den Feldbau in alexandrinischen Versen beschrieb. Allen dergleichen Werken spricht Aristoteles in seiner Dichtkunst den Namen der Gedichte ab: weil sie nämlich keine Nachahmungen oder Fabeln sind; ob sie gleich das äußerliche Ansehen der poetischen Schreibart beybehalten haben. Zu eben dieser Classe könnte man fast den Silius Italicus, Lucanus und Statius rechnen, deren jener den ganzen punischen, der andre den pharsalischen Krieg, und dieser das ganze Leben des Achilles beschrieben hat. Sie sind also nach dem Urtheile Aristotels, und des Paters le Bossu, mehr für Historienschreiber in Versen, als für Poeten zu halten: wie an seinem Orte ausführlich soll gewiesen werden. Und wo bleiben endlich alle EPITHALAMIA, GENETHLIACA und EPICEDIA der Alten, die gewiß allezeit zum lesen; niemals aber, oder doch sehr selten zum singen verfertiget worden.
24. §. Als bey der Wiederherstellung der freyen Künste in Europa, auch die Poesie wieder in Flor kam, hat man sich nicht an den alten Gattungen der griechischen und römischen Poesien gnügen lassen; sondern verschiedene neue, theils musikalische, theils unmusikalische Arten erfunden. Zu jenen gehören die Opern, die aus den finstersten Zeiten der Barbarey ihren Ursprung haben; ferner die Pastorale, Serenaten, Cantaten, Oratorien u.d.gl. Hierher aber die Stanzen, Sonnette, Madrigale, Rondeaux und andere Kleinigkeiten, die nicht viel werth sind. Die meisten davon sind von den Italienern erfunden, und freylich auch im Anfange zum Singen bestimmet gewesen. Die Stanzen sind Gedichte mit Strophen in langen Zeilen, die wir Gesänge nennen können; wie Tasso sein befreytes Jerusalem geschrieben hat, weswegen er auch die Abtheilungen davon, CANTO, nennet. Ein Sonnet ist gleichsam ein Lied, dessen erste zwey Strophen, jede von vier Zeilen, auf einerley Melodie, die letzte aber, die aus sechs Zeilen besteht, auf eine andere, gesungen werden kann; und also einer pindarischen Ode, mit Satz, Gegensatz und Nachsatz gleich kömmt. Ein Madrigal ist wie eine kleine Arie, oder ein französisches Trinklied; und ein Rondeau ist nicht viel was anders. Die Franzosen sind ihnen nebst den Engelländern und Holländern bald gefolget, und wir Deutschen geben ihnen gewiß in allen diesen Gattungen nichts nach. Wir haben Opern, Pastorale, Serenaden, Cantaten, Kirchenstücke, Oden, Arien, Sonnette, Madrigale, und Rondeaux die Menge aufzuweisen; obwohl diese letztern bey uns niemals gesungen seyn mögen.
25. §. Was die großen Gedichte der Alten betrifft, so haben wir gewiß in allen Arten etwas aufzuweisen, das, wo nicht ganz vollkommen, doch nicht so gar zu verwerfen ist, wenn man es mit den Gedichten der Ausländer vergleicht. Von Heldengedichten haben wir nicht nur unter den alten, den Theuerdank und Froschmäuseler; sondern auch einen habspurgischen Ottobert, die geraubte Proserpina und den sächsischen Wittekind. Sind diese noch nicht so gut als Homer, Virgil und Voltaire; so sind sie doch nicht schlechter, als das, was Marino, Ariost, Chapelain, St. Amand und Milton in diesem Stücke geliefert haben. Man muß sich nur über die sklavische Hochachtung alles dessen, was ausländisch ist, erheben, die uns Deutschen bisher mehr geschadet, als genutzet hat. Pietschens Sieg Carls des VI. den wir neulich ganz zu sehen bekommen haben, zeigt uns zwar, daß der Verfasser Fähigkeit genug gehabt, ein Heldengedichte zu machen; wenn ihm die Regeln desselben bekannt gewesen wären: aber selbst verdient es noch nicht, in diese Classe zu kommen. Neukirchs Telemach aber, ist nur eine Uebersetzung, und kann uns also zu keiner Ehre gereichen. In Trauerspielen, haben wir den Ausländern nicht nur den Gryphius, Hallmann und Lohenstein, sondern sehr viele andere neuere Dichter entgegen zu setzen, die sich seit zwölf Jahren, da diese Dichtkunst zum erstenmal erschienen (ich schreibe dieß 1741.) hervorgethan haben, und schon im Begriffe stehen, ans Licht zu treten. Thun es diese schon einem Corneille und Racine noch nicht in allem gleich, so haben sie auch viele Fehler dieser beyden Franzosen nicht an sich; und können es doch, theils mit den neuern Franzosen, theils sowohl mit den Welschen als Engländern aufnehmen, deren Schaubühne in sehr großer Verwirrung ist. In der Comödie haben wir nicht nur Dedekinds, Gryphii, Riemers, und Weisens, sondern eine große Menge andrer Stücke in Händen, die seit 200 Jahren bey uns gedruckt worden. Und sind diese gleichfalls mit des Moliere, und Des¹ Touches Lustspielen nicht zu vergleichen, so dörfen wir doch weder den Welschen noch Engländern, das allergeringste nachgeben; es wäre denn in der Liebe unsers Vaterlandes, darinnen es uns jene unstreitig zuvor thun. Doch zeigen sich auch hier schon einige muntre Köpfe, die durch glückliche Proben uns Hoffnung machen, daß wir auch den Franzosen nicht lange mehr werden den Vorzug lassen dörfen. Man sehe das Verzeichniß unsrer Schauspiele vor meiner deutschen Schaubühne.
26. §. Ich komme endlich auf die Absichten, so die Erfinder und Fortpflanzer der Poesie vor Augen gehabt, deren Kenntniß uns in Untersuchung des wahren Wesens der Poesie, nicht ein geringes Licht geben wird. Man hat ja die alten Dichter allezeit für weise Männer gehalten, und läßt ihnen noch heute zu Tage diesen Ruhm unangetastet. Folglich wird mans ihnen wohl nicht streitig machen, daß sie auch Absichten bey ihren Arbeiten gehabt haben. So mannigfaltig nun dieselben gewesen seyn mögen, so leicht sind sie doch zu errathen. Ihre Gedichte sind ja die Mittel, wodurch sie dieselben zu erlangen gesucht, und wirklich erlanget haben: wozu also dieselben geschickt gewesen sind, das ist für einen Endzweck ihrer Verfasser anzusehen.
27. §. Die allerersten Sänger ungekünstelter Lieder, haben, nach der damaligen Einfalt ihrer Zeiten, wohl nichts anders im Sinne gehabt, als wie sie ihren Affect auf eine angenehme Art ausdrücken wollten, so daß derselbe auch in andern, eine gewisse Gemüthsbewegung erwecken möchte. Dahin zielten also ihre lustige und traurige, verliebte, lobende und spöttische Lieder ab: und diesen Endzweck erlangten sie auch, so oft sie ihren eigenen Affect theils durch bequeme Texte, theils durch geschickte Melodeyen, natürlich und lebhaft vorstelleten. Ein Saufbruder machte den andern lustig; ein Betrübter lockte dem andern Thränen heraus; ein Liebhaber gewann das Herz seiner Geliebten; ein Lobsänger erweckte seinem Helden Beyfall und Bewunderung, und ein Spottvogel brachte durch seinen beißenden Scherz das Gelächter ganzer Gesellschaften zuwege. Die Sache ist leicht zu begreifen, weil sie in der Natur des Menschen ihren Grund hat, und noch täglich durch die Erfahrung bestätiget wird.
28. §. Eine so wunderbare Kunst, brachte nun den geschicktesten unter ihren Meistern sehr viel Hochachtung zuwege. Man hörte solche treffliche Sänger gern, man lobte sie sehr, und hielt gar dafür, daß sie etwas mehr als Menschen seyn; oder zum wenigsten einen göttlichen Beystand haben mußten. Dieses ließen sich auch die Poeten gefallen, ja sie bemühten sich, einen so vortheilhaften Gedanken von ihrer Kunst nicht nur zu unterhalten, sondern auch je mehr und mehr zu bestärken. In diesem Vorhaben ließen sie sichs angelegen seyn, allerley annehmliche und reizende Sachen in ihre Lieder zu bringen, dadurch sie die Gemüther der Zuhörer noch destomehr an sich locken und gleichsam fesseln könnten. Nichts war dazu bey der einfältigen Welt geschickter, als kleine Historien oder Fabeln, die etwas wunderbares und ungemeines in sich enthielten. Man sieht es ja an kleinen Kindern, wie begierig sie nach der Erzählung ihrer Wärterinnen sind; und diesen unerfahrnen und neugierigen Creaturen waren die ältesten Völker ganz gleich. Das bezauberte nun gleichsam die sonst ungezogenen Gemüther. Die wildesten Leute verließen ihre Wälder, und liefen einem Amphion oder Orpheus nach, welche ihnen nicht nur auf ihren Leyern etwas vorspielten; sondern auch allerley Fabeln von Göttern und Helden vorsungen: nicht viel besser, als etwan itzo auf Messen und Jahrmärkten die Bänkelsänger mit ihren Liedern von Wundergeschichten, den Pöbel einzunehmen pflegen.
29. §. In dieser einmal erhaltenen Hochachtung, erhielten sich die nachfolgenden Dichter, durch die Schönheit des Ausdruckes und durch die untermischten weisen Lehren und Sittensprüche. Die Poeten redeten nicht die gemeine Sprache der andern Leute, sondern ihre Redensarten waren edel und erhaben, ihre Worte ausgesucht, ihre Sätze neu und wohlklingend: und ihr ganzer Vortrag ward bisweilen in einer verblümten oder gar allegorischen Schreibart abgefasset. So viel Witz und lebhafte Einbildungskraft sie dadurch bewiesen: so viel Verstand und hohe Weisheit, zeigten sie durch die trefflichen Sittenlehren und Lebensregeln, die sie in ihren Liedern mit vorbrachten. Die alten Poeten waren nämlich die ersten Weltweisen, Gottesgelehrten, Staatsmänner: oder umgekehrt, die ältesten Weltweisen bedienten sich der Poesie, das rohe Volk dadurch zu zähmen.


Horat. Dichtk. v. 565.

Das war vor grauer Zeit die Weisheit jener Alten,
Zu zeigen, was für gut und strafenswerth zu halten,
Was recht und schändlich war; der Unzucht feind zu seyn,
Den Beyschlaf abzuthun, den Ehstand einzuweihn,
Die Städte zu erbaun, Gesetze vorzuschreiben,
So mußte Ruhm und Preis den Dichtern eigen bleiben.


Dergestalt wurden nun die ältesten Poeten für Gottesgelehrte, Staatskündige, Rechtsverständige, und Weltweise zugleich gehalten. Sie waren auch in der That alles in allem, und wurden also für Lehrer des menschlichen Geschlechts, für außerordentliche, ja recht göttliche Männer angesehen; die nothwendig alles was sie sungen, aus einer höhern Eingebung, nämlich von dem Beystande der Musen und des Apollo, herhaben müßten.
30. §. Alle diese Kunstgriffe hat Homer in seinen beyden Heldengedichten, Ilias und Odyssee, auf eine geschickte Art zu verbinden gewußt. Er erzählt wahre Geschichte; er erdichtet Fabeln von Göttern und Helden; er erregt die Affecten; er schreibt edel und erhaben; er lehrt und belustiget endlich seine Leser, auf eine so künstliche Art und Weise, daß man sich lange vergebens bemühet hat, seine rechte Hauptabsicht zu errathen. Ohne Zweifel aber hat er mit Fleiß alle Schönheiten der Poesie in einem Meisterstücke verknüpfen, die gemeine Wohlfahrt seiner Griechen befördern, und sich selbst dadurch in besondre Hochachtung setzen wollen. Er hat auch seinen Endzweck damit völlig erreichet; denn es ist bekannt, wie hoch derselbe zwey bis drey tausend Jahre her, von allen die ihn verstanden, geschätzet worden. Einige sind in dieser Hochachtung so weit gegangen, daß sie gar alle seine Fehler für schön ausgegeben, und alle seine Schnitzer canonisiren wollen. Andre aber haben zwar die Mängel erkannt, aber sie, wie es billig war, mehr seinen Zeiten, als ihm selbst beygelegt; und ihm dem ungeachtet doch das Lob eines recht großen, lebhaften und glücklichen Geistes, nicht abgesprochen. Man sehe des Herrn de la Motte Discurs, über den Homer, den er vor seiner französischen Ilias drucken lassen. Mit dem Virgil hat es eben die Bewandniß.
31. §. Die Tragödien und Comödien anlangend, so ist die Absicht ihrer Verfasser gewiß eben dieselbe gewesen. Man findet was wahres, aber auch was erdichtetes darinnen. Man suchet durch Exempel der Tugenden und Laster, die Zuschauer zu unterrichten. Die Erregung der Affecten ist hier noch weit lebhafter als in jenem, weil die sichtbare Vorstellung der Personen weit empfindlicher rühret, als die beste Beschreibung. Dadurch aber suchet man die Leidenschaften der Zuschauer zu reinigen. Die Schreibart ist, sonderlich im Trauerspiele so edel und erhaben, wie die Sachen selber sind: und an lehrreichen Sprüchen hat es eher einen Ueberfluß als Mangel. Selbst die Comödie lehret und unterrichtet die Zuschauer, obwohl sie das Gelächter erweckt; und also haben freylich auch ein Sophokles, Euripides, Menander und Terentius, Ehre genug durch ihre Poesien erlanget, und ihren Zweck, nämlich die Erbauung und Belustigung der Zuschauer dergestalt vollkommen erhalten.
32. §. Was die kleinen Gattungen der Gedichte anlangt, so sind dieselben freylich so vollkommen nicht. Einige erzählen nur; andere sind bloße Fabeln; noch andere klagen nur allein; und einige sind bloß zum Lehren gemacht. In einigen will man nur loben, und in andern schlechterdings spotten. Viele sind auch nur zum Scherze und zur Belustigung gemacht: und also haben sich die Verfasser derselben gleichsam in die Vollkommenheiten der größern getheilet. Sie erhalten dergestalt auch nur ein geringes Lob, weil zu einer einzigen poetischen Absicht, auch ein sehr seichter Geist und mäßiger Witz schon zulänglich ist. Daher bringen auch solche poetische Kleinigkeiten einer Nation nicht viel Ehre. Es muß was größers seyn, womit man sich gegen andre Völker breit machen, und ihren Dichtern Trotz biethen will. Indessen bleibt es doch in allen Gattungen der Gedichte bey dem Ausspruche des Horaz:

Der wird vollkommen seyn, der theils ein lehrreich Wesen,
Und theils was liebliches durch seinen Vers besingt;
Zum theil dem Leser nützt, zum theil Ergetzung bringt.
Ein solch Gedicht geht ab, wird weit und breit verführet,
Bis es dem Dichter gar Unsterblichkeit gebiehret.

Dichtk. v. 495.


33. §. Bey dem allen ist es nicht zu leugnen, daß nicht, nach dem Urtheile des großen Aristoteles, das Hauptwerk der Poesie in der geschickten Nachahmung bestehe. Die Fabel selbst, die von andern für die Seele eines Gedichtes gehalten wird, ist nichts anders, als eine Nachahmung der Natur. Dieß wird sie nun durch die Aehnlichkeit mit derselben, und wenn sie diese hat, so heißt sie wahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit ist also die Haupteigenschaft aller Fabeln; und wenn eine Fabel nicht wahrscheinlich ist, so taugt sie nichts. Wie kann sie aber wahrscheinlich seyn, wenn sie nicht die Natur zum Vorbilde nimmt, und ihr Fuß vor Fuß nachgeht? Horaz schreibt:

Die Fabel laute so, daß sie der Wahrheit gleicht,
Und fordre nicht von uns, daß man ihr alles gläube:
Man reiße nicht das Kind den Hexen aus dem Leibe,
Wenn sie es schon verzehrt.

Dichtk. v. 489.


Diese Nachahmung der Poeten nun, geschieht entweder vermittelst einer sehr lebhaften Beschreibung, oder durch eine epische und dramatische Erzählung, oder gar durch lebendige Vorstellung desjenigen, was sie nachahmen. Und dadurch unterscheidet sich der Dichter von einem Maler, der nur mit Farben, und einem Bildhauer, der in Stein oder Holz seine Nachahmung verrichtet. Will man sagen, daß auch in ungebundener Rede solche Nachahmungen zu geschehen pflegen, die wir der Poesie zueignen; als wenn zum Exempel Aesopus prosaische Fabeln macht, oder Livius und andre Geschichtschreiber gewissen großen Männern solche Reden andichten, die sie zwar nicht von Wort zu Wort gehalten, aber doch wahrscheinlicher Weise hätten halten können: so werde ich antworten, daß sowohl Aesopus, als solche dichtende Geschichtschreiber, in so weit sie dichten, unter die Poeten gehören. Die Verse machen das Wesen der Poesie nicht aus, vielweniger die Reime. Können doch ganze Heldengedichte in ungebundener Rede geschrieben werden. Denn wer wollte es leugnen, daß nicht die prosaische Uebersetzung, welche die Frau Dacier vom Homer gemacht, noch ein Heldengedichte geblieben wäre, oder daß des Erzbischofs von Cambray Telemach kein poetisches Werk wäre? Kinder und Unwissende bleiben am äußerlichen kleben, und sehen auch eine scandirte und gereimte Prose für ein Gedichte, und jeglichen elenden Versmacher für einen Poeten an: Kenner aber halten es mit dem Horaz, der uns einen Poeten so beschreibt:

– – – NEQUE ENIM CONCLUDERE VERSUM
DIXERIT ESSE SATIS; NEQUE SI QUIS SCRIBAT VTI NOS,
SERMONI PROPIORA, PUTES HUNC ESSE POETAM:
INGENIUM CUI SIT, CUI MENS DIUINIOR, ET OS
MAGNA SONATURUM, DES NOMINIS HUIUS HONOREM.

LIB. I. SAT. 4.



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Fußnoten:

¹ Der gelehrte Rollin gesteht dieses offenherzig, im I. Theile seiner Manier die freyen Künste zu lehren und zu lernen, auf der 324. Seite: NOS LANGUES MODERNES, PAR OU J'ENTENDS LES LANGUES FRANÇOISE, ITALIENNE & ESPAGNOLE VIENNENT CERTAINEMENT, DU DEBRIS DE LA LANGUE LATINE PAR LE MELANGE DE LA LANGUE TUDESQUE, OU GERMANIQUE. LA PLÛPART DES MOTS VIENNENT DE LA LANGUE LATINE: MAIS LA CONSTRUCTION & LES VERBES AUXILIAIRES, QUI SONT D'UN TRES GRAND USAGE, NOUS VIENNENT DE LA LANGUE GERMANIQUE. ET C'EST PEUT-ÊTRE DE CETTE LANGUE-LÀ, QUE NOUS SONT VENÜES LES RIMES, & L'USAGE DE MESURER LES VERS, NON PAS DES PIÉS COMPOSÉS DE SYLLABES LONGUES & BREVES, COMME LES FAISOIENT LES GRECS & LES ROMAINS, MAIS PAR LE NOMBRE DES SYLLABES. Dieses mögen sich unwissende Sprachmeister merken.

² Diesen Satz hat neulich ein gewisser Kunstrichter, dem man mehr Belesenheit in französischen Büchern hätte zutrauen sollen, geleugnet. Ich sehe mich also genöthiget, die Beweise, die ich der Kürze wegen übergangen hatte, bey dieser III. Ausgabe meiner Dichtkunst, beyzufügen. Der erste Zeuge sey der Herr von BEAUMARCHAIS, in seinen AMUSEMENTS LITTERAIRES auf der 18. Seite des II. Theils. TOUS, TANT QUE NOUS SOMMES AUJOURDHUI, schreibt er, DE PEUPLES VIVANS EN EUROPE, NOUS MANQUONS DANS NOS LANGUES, DE CETTE MULTITUDE, & DE CE MELANGE DE SYLLABES LONGUES ET BREVES, DONT L'ARRANGEMENT REGLÉ PAR L'ART, METTOIT TANT D'HARMONIE, DANS LES VERS DE L'ANCIENNE GRECE & DE ROME; & IL NE NOUS RESTE POUR-Y SUPPLÉER, QUE D'ASSEMBLER UNE CERTAINE QUANTITÉ DE SYLLABES. & DE FAIRE EN SORTE, QUE DES SONS SEMBLABLES FINISSENT TOUJOURS DEUX VERS VOISINS L'UN DE L'AUTRE. Hier sieht man fürs erste einen verwegenen Franzosen, der sich unterfängt, von allen europäischen Völkern zu urtheilen; da man doch sicher wetten könnte, daß er außer seiner Muttersprache, keine einzige andre heutige Sprache verstanden; und also gar nicht im Stande gewesen, von aller europäischen Völker Poesie zu urtheilen. Denn hätte er auch nur Italiänisch verstanden, so würde er wenigstens aus den Arien ihrer Opern gemerket haben, daß sie sich eben so gut, als die anakreontischen Oden scandiren, d.i. eine regelmäßige Abwechselung langer und kurzer Sylben haben. Hat er nun nicht einmal welsch gekonnt, so hat er noch viel weniger englisch, holländisch, deutsch, dänisch oder schwedisch gekonnt; als wovon sein Ausspruch höchst ungereimt ist. Zweytens sieht man aber wenigstens daraus, daß er in seiner Sprache kein Sylbenmaaß kennet, und von keiner regelmäßigen Abwechselung langer und kurzer Sylben weis. Doch vielleicht hat dieser Zeuge nicht Ansehen genug? Gut, auch Rollin und Lami stimmen überein. Der erste hat dieses zwar schon in der bereits angeführten Stelle gestanden; doch hier sagt ers noch deutlicher im 1. Theile seiner MANIERE D'ENSEIGNER ET D'ETUDIER LES BELLES LETTRES, ED. DE HOLL. p. 328. LA POESIE FRANÇOISE (ET IL FAUT DIRE LA MÊME CHOSE DE TOUTES CELLES, QUI SONT MODERNES) MANQUE ABSOLUMENT DE LA DELICATE ET HARMONIEUSE VARIETÉ DES PIÉS, QUI DONNENT À LA VERSIFICATION GRECQUE ET LATINE SON NOMBRE, SA DOUCEUR, & SON AGREMENT, ET ELLE EST FORÇÉE DE SE CONTENTER, DE L'ASSORTISSEMENT UNIFORME, D'UN CERTAIN NOMBRE DE SYLLABES D'UNE MENSURE ÉGALE POUR COMPOSER SES VERS. Lami aber im X. Capitel des III. Buchs seiner ART DE PARLER auf der 253. Seite schreibt. LA PRONONCIATION DES LANGUES VIVANTES DE L'EUROPE EST ENTIEREMENT DIFFERENTE DE CELLE DES LANGUES MORTES QUI NOUS SONT CONNUËS, COMME LE LATIN, LE GREC, ET L'HEBREU. DANS LES LANGUES VIVANTES ON S'ARRÊTE ÉGALEMENT SUR TOUTES LES SYLLABES; AINSI LE TEMS DE LA PRONONCIATION DE TOUTES LES VOYELLES SONT ÉGAUX, COMME NOUS LE FERONS VOIR. DANS LES LANGUES MORTES LES VOYELLES SONT DISTINGUEÉS ENTR' ELLES PAR LA QUANTITÉ DU TEMS DE LEUR PRONONCIATION. & C. Eben dergleichen Stellen könnten wir noch aus der Historie der Sevaramben, und aus verschiedenen andern französischen Schriftstellern anführen, wenn es nöthig wäre: Wiewohl sie alle insgesamt aus einer ihnen eigenen Vermessenheit und Selbstliebe allen andern europäischen Völkern dasjenige absprechen, was ihnen selbst gebricht; indem sie von unsern nordischen Sprachen, wie die Blinden von der Farbe, urtheilen.


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