Gotthold Ephraim Lessing: Der wahre Kunstrichter
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Gotthold Ephraim Lessing
Der wahre Kunstrichter
(in: Hamburgische Dramaturgie, 19. Stück, Den 3. Julius 1767)
Es ist einem
jeden vergönnt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist rühmlich, sich
von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gründen,
durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es
seine Richtigkeit damit hätte, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen
müßte, heißt aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu
einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. Der angeführte französische
Schriftsteller fängt mit einem bescheidenen »Uns wäre lieber gewesen« an und
geht zu so allgemein verbindenden Aussprüchen fort, daß man glauben sollte,
dieses Uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter
folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach
den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert.
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