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Gerschom Scholem: Poetica

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Jan Kuhlbrodt

Gershom Scholem
Poetica


Im Suhrkamp Verlag sind unter dem Titel Poetica die gesammelten Arbeiten Gershom Scholems zur Literatur erschienen. Der Band enthält sowohl Texte über Literatur, Übersetzungen und Kritiken als auch eigene lyrische Versuche des Autors und Gedichte.  
    Im Grunde wäre jeder einzelne der Abschnitte eine Besprechung wert, zum Beispiel Scholems Beobachtungen zur sich neu formierenden Hebräischen Literatur in Israel, die er hinsichtlich der Erneuerung des Hebräischen, seiner Veränderung durch die Migranten, die sich in der Zeit vor und nach der Staatsgründung im heiligen Land ansiedelten, anhand ausgewählter Literatur entfaltet.
    Und natürlich erweckt die Lektüre das Interesse an den von ihm besprochenen Werken und den von ihm betrachteten Autoren, zum Beispiel von S.J. Agnon, mit dem er lange bekannt war und in dessen Werk er die Motivik der hebräischen Tradition aufgehoben sieht.

„Als die moderne hebräische Literatur sich zu entwickeln begann, ... beruhte sie von vornherein auf einem Paradox: sie nährte sich von einer Sprache, die sich aus einer im wesentlichen religiösen Tradition herschrieb, aber nach profanen Zielen strebte.“

Scholem kam schon in den Zwanzigerjahren in Jerusalem an, nachdem er die Assimilation der Juden in Deutschland als gescheitert betrachtete. Später, in einem Text über die Übersetzung der Tora durch Buber und Rosenkranz ins Deutsche, wird das seinen Ausdruck finden. Einerseits würdigt Scholem die großartige Übersetzungsleistung, sieht aber die Rezeption durch die Shoah letztlich verunmöglicht. Der Übersetzung fehle das Publikum.

Ab 1933 begleitete er einen Lehrstuhl für Jüdische Mystik an der Hebräischen Universität Jerusalem. Scholem, der 1897 in Berlin geboren wurde und 1982 in Jerusalem starb, war ein enger Freund Walter Benjamins, und Spuren dieser Freundschaft finden sich an vielen Stellen in diesem Buch, aber vor allem in den Gedichten, die Scholem im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts schrieb. Hier liegen vor allem lyrische Portraits von Freunden und Bekannten vor, in denen einiges von der zerrissenen Situation jüdischer Intellektueller in einem Deutschland zum Ausdruck kommt, das mehr und mehr in den Nationalismus kippt, den es mit Antisemitismus zu einer tödlichen Melange verquirlt. Scholems Texte sind Zeit-dokumente, und sie zeigen vor allem an, was wir in Deutschland verloren haben.

Und wir begegnen auch Scholem als Übersetzer. Er übersetzt kanonische und nichtkanonische Texte, die Klagelieder, Auszüge aus dem Kohelet usw. Seine Übersetzungen sind denen von Buber und Rosenkranz durchaus beizustellen.

Siehe, er kommt hüpfend über die Berge

Das ist vielleicht die schönste Bibelstelle für mich. Zum ersten Mal begegnete sie mir als Titel eines Romans von Jerzy Andrzejewski. Es war ein Roman über Picasso, und ich konnte es damals gar nicht glauben, dass das ein Vers aus dem Hohen Lied sein soll:
    Hier die Übersetzung Scholems:

III. / Das ist die Stimme meines Freundes,/ Sieh, er kommt,/ Er überspringt die Berge,/ Hüpfet auf den Hügeln;/ Mein Freund gleicht der Gazelle und dem jungen Hirsche/ Siehe er steht an unsere Wand gelehnt,/ Er schaut hinab aus unsern Fenstern,/ Lugt durchs Gitterwerk./ Mein Freund hub an und sprach zu mir:/ Steh auf, Geliebte,/ Schönste, geh‘ hinaus!/ Denn sieh, der Winter ist vorüber, / …

Es gibt ein Bild von Klee…“

So beginnt Benjamins neunte geschichtsphilosophische These. Dieses Bild gibt es, und es hat in den Wirren Mitte des vorigen Jahrhunderts einen Weg zurückgelegt, der mehr als nur ein Roman ist. Benjamin hatte das Bild, als er vor den Nazis nach Paris floh, in Deutschland lassen müssen, Freunden aber gelang es, den Engel Mitte der Dreißiger nach Paris zu bringen. Nachdem sich Benjamin auf weiterer Flucht den Nazis durch Selbsttötung entzog, versteckte Bataille es nebst einigen Manuskripten in der Pariser Nationalbibliothek. Später gelangte das Bild zu Adorno in New York, der es dann Gershom Scholem übergab, wie Benjamin in einem Testament verfügt hatte.
    Und Benjamin zitiert in dieser These als Motto ein Gedicht Scholems

Mein Flügel ist zum Schwung bereit
ich kehrte gern zurück
denn blieb‘ ich auch lebendige Zeit
ich hätte wenig Glück.

Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus  


Gerschom Scholem: Poetica. Schriften zur Literatur, Übersetzungen und Gedichte. Berlin (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag) 2019. 780 Seiten. 58,00 Euro.
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