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Gerhard Rühm: der mann mit eigenschaften

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Samuel Meister

Gerhard Rühm: der mann mit eigenschaften: ein litaneiroman. Wien (Edition Melos) 2022. 88 Seiten. 22,00 Euro.

Neue Schule: Zu Gerhard Rühms der mann mit eigenschaften


Die Herrschaft der Retrogarde mag den Vorteil haben, dass die Avantgarde alt werden kann, ohne alt auszusehen. Jedenfalls glänzt im Geisterkabinett frühzeitig vergreister Romanprosa dieser „Litaneiroman“ Gerhard Rühms jugendlich, auch wenn er bereits vor 70 Jahren hätte geschrieben werden können und laut Nachwort vor längerer Zeit konzipiert worden ist. Der Gedanke ist einfach: In Umkehrung von Musils Titel werden einem Mann beinahe sämtliche einem Menschen zuschreibbaren Eigenschaften zugeschrieben, in alphabetischer Reihenfolge, vor jedem Buchstaben durch die Worte „der mann ist“ unterbrochen. Das liest sich z. B. so:

[der mann ist]
bieder, biedermeierlich, biegsam, bienenfleissig, bierbäuchig, bierernst,
bierselig, biestig, bigamistisch, bigott, bilanzsicher, bilateral, bilderreich,
bildhaft, bildhübsch, bildkräftig, bildlich, bildsam, bildschön,
bildungsbeflissen, bildungsfähig, bildungsfern, bilingual, billig, binär

Die wichtigsten poetischen Prinzipien sind einerseits die inhaltl-iche Zufälligkeit der Liste und andererseits die Listenform selbst. So prallen Eigenschaftswörter ohne Federung aufein-ander, die ansonsten kaum miteinander verknüpft würden, z. B. „bigamistisch, bigott, bilanzsicher“, und helfen der Vorstellung auf die Sprünge. Wir haben einen Mann mit allen Eigenschaften vor uns, aber gleichzeitig tausende Menschen; je nachdem, wie weit wir eine Wortreihe fassen, entspringt ein anderer. „Bild-schön, bildungsbeflissen, bildungsfähig“ schiebt sich ein Mann über einen anderen, der „bildungsfähig, bildungsfern, bilingual“ ist, und beide sind vereint in einem, der all dies ist und viel mehr. Der Mann mit Eigenschaften ist eine Burg aus ver-schachtelten Schachteln, zerfällt in viele und ist gerade dadurch ein einziger.

Man könnte gegen das Buch einwenden, dass es ein Buch geworden ist. Lässt sich nicht alles, was ich oben umrissen habe, aus dem Konzept ableiten, ohne dass dieses ausgeführt werden müsste? Rühm selbst antwortet im Nachwort auf diesen Einwand und erklärt, warum er sich lange nachdem er den Gedanken zum Text gefasst hatte, entschloss, ihn zu verwirklichen. Die erste Antwort betrifft den Klang. der mann mit eigenschaften wird zur Litanei, indem er eine spezi-fische Klangabfolge erhält, was wiederum nur möglich ist, wenn nicht nur die Idee einer Liste von Eigenschaften im Raum steht, sondern diese Liste geschrieben lesbar und vorlesbar wird. Jetzt können wir uns nämlich in einen Sessellift über dem romantischen Rhein setzen und die Weinberge mit Worten segnen: „[der mann ist] jenseitig, jesuitisch, jetzig, jodhaltig, jodiert“! Der Text wird klanglich verfügbar, im Leben verwendbar. Und zudem speisen sich die komischen oder tragischen Wendungen hauptsächlich aus rhythmischen Verschiebungen, wenn es aus dem dumpfen Wörterbuchtrott „… entheiligt, enthemmt, enthoben, enthüllt“ wie aus einer unter Wasser entkorkten Flasche an die Oberfläche schießt: „enthusiasmiert“.

Die zweite Antwort ist allgemeiner. Rühm sagt am Ende, dass der Text nur als „poetisches Artefakt“ „handgreiflich bestand“ habe und „zugänglich“ sei (s. 84). Allerdings ist auch das Konzept selbst bereits ein poetisches Artefakt (zumindest keine Naturerscheinung). Eher wesent-lich ist, dass ein Kunstwerk, gerade auch ein konzeptuelles wie dieses, ein konkretes Werk sein muss, um überhaupt ein Kunstwerk zu sein – oder wenigstens, um als Kunstwerk wahrgenommen zu werden. Es ist doch eigentlich ein Wunder, dass ich in ein Bücherregal greifen kann und zwischen Omas beste Blechkuchen und Mörderaxt im Eiswald dieses Buch zum Vorschein kommt. Wir zehren weiterhin dankbar von der Wiener Gruppe.


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