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George Steiner: Totengräber des Wortes

Gedichte > Zeitzünder


George Steiner


Totengräber des Wortes

(Aus: Der Tod der Tragödie, IX. 1961)



Wo der moderne Gelehrte einen klassischen Text zitiert, scheint das Zitat ein Loch in seine stumpfe Abhandlung zu brennen. Soziologen, Fachleute der Massenmedien, die Schreiber der Fernsehwerbesendungen und Politikerreden und die Lehrer ‚schöpferischen Schreibens‘ sind die Totengräber des Wortes. Doch Sprachen lassen sich nur begraben, wenn wirklich etwas in ihrem Innern gestorben ist.
Darüber hinaus hat die politische Unmenschlichkeit unserer Zeit die Sprache in bisher ungekanntem Maß erniedrigt und brutalisiert. Worte sind benutzt worden, um politische Verlogenheit, massive Entstellungen der Geschichte und die viehischen Gemeinheiten des totalitären Staats zu rechtfertigen. Es ist erklärlich, daß etwas von den Lügen und Grausamkeiten bis in ihr Mark gedrungen ist. Weil die Worte zu so gemeinen Zwecken gebraucht worden sind, geben sie nicht mehr die volle Breite ihrer Bedeutung wieder. Und weil sie uns in so ungeheuerlicher, kreischender Zahl überfallen, hören wir sie nicht mehr sorgfältig ab. Jeden Tag löffeln wir uns an Scheußlichkeiten satt, in der Zeitung, auf dem Fernsehschirm oder im Radio, und so werden wir unempfindlich für neue Vergewaltigungen. Diese Taubheit ist 3 von entscheidender Bedeutung für die Möglichkeit eines tragischen Stils.


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