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Fundstücke - 2022

Poetik / Philosophie > Fundstücke
Meine Freunde, ich bin der Lehrer der ewigen Wiederkunft. Das ist: ich lehre, daß alle Dinge ewig wiederkehren und ihr selber mit —, und daß ihr schon unzählige Male dagewesen seid und alle Dinge mit euch; ich lehre, daß es ein großes langes unge-heures Jahr des Werdens giebt, das, wenn es abgelaufen, ausgelaufen ist, gleich einer Sanduhr immer wieder umgedreht wird: so daß alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Kleinsten und im Größten.
Friedrich Nietzsche:
Wiederkunft
Dokument: Heft, 25, 1 (Frühjahr 1884)




26.12.2022
In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei, aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt! Er hat zwar kein Auto-dafé zu fürchten, aber er ist allen erdenklichen Unannehmlich-keiten und täglichen Nachstellungen ausgesetzt. Die politische Laufbahn ist ihm verschlossen, er hat die einzige Gewalt, die sie ihm eröffnen könnte, beleidigt. Man versagt ihm alles, selbst den Ruhm. Ehe er seine Ansichten veröffentlichte, glaubte er, Anhänger zu haben; nun er sich allen entdeckt hat, besitzt er, so scheint es ihm, keinen mehr; denn wer ihn ablehnt, bringt das öffentlch zum Ausdruck, und wer denkt wie er, ohne so mutig zu sein, schweigt und entfernt sich. Er gibt nach, erliegt schließlich dem täglichen Ansturm und zieht sich ins Schweigen zurück, als hätte er ein schlechtes Gewissen, die Wahrheit gesagt zu haben.
Alexis de Tocqueville:
Über die Demokratie in Amerika,
(Kap.: Der Einfluß der Mehrheit auf das Denken). 1848 / 1985.
Übersetzt von Friedrich August Rüder








18.12.2022
Fernando Pessoa pflegte zu sagen: „Es ist mir ein Gedicht widerfahren.“ Im Grunde kommt meine Art zu schreiben diesem „Widerfahren“ sehr nahe. Das Gedicht dringt fertig an die Ober-fläche, es taucht auf, es ist mir gegeben (oder so, als ob es mir gegeben wäre). Wie ein Diktat, das ich höre und aufschreibe.
      Das mag zum Teil damit zusammenhängen, dass man mich in meiner Kindheit, lange bevor ich lesen konnte, dazu ermutigte, Gedichte auswendig zu lernen. Ich bin der Dichtung begegnet, bevor ich wusste, dass es Literatur gibt. Ich dachte, die Gedichte würden nicht von jemandem verfasst, sie existierten an sich, von selbst, sie seien so etwas wie ein natür-liches Element, schwebten irgendwo im Raum, wohnten den Dingen inne. Und dass man sich nur ganz ruhig, still und aufmerksam verhalten müsse, um sie zu hören.
Sophia de Mello Breyner Andresen:
Ars Poetica IV,
(in: Die Muschel von Kost und andere Gedichte, Elfenbein Verlag 2021, S. 233)








11.12.2022
Heutige Zeitgenossen scheinen dem Versprechen der Schönheit enthusiastischer ergeben zu sein als je ein idealistischer Ästheti-ker. Aufwendungen für Schönheitsvermehrung haben ungeahnte Höhen erreicht. Sie werden in dem Bewußtsein getätigt, daß sie sich lohnen und zehren damit vom Versprechens-Charakter der Schönheit. Die kulturelle Entfesselung von Schönheitskonsum und Schönheitsarbeit ist eine bestimmte Signatur der Gegen-wart.
Winfried Menninghaus:
Das Versprechen der Schönheit
(Einleitung) Suhrkamp 2003




04.12.2022
So wie die Schöpfung in der Zeugung, wiederholt sich Offen-bartes in der unmittelbaren Findung, der Intuition. Das Originale ist, im Gegensatz zum Individuellen, zugleich das Wesentliche und das Nicht-Eigene, denn es führt auf den Ursprung, auf das Ungesonderte, selbst auf das Chaos zurück.
Ernst Jünger:
Philemon und Baucis
(Ernst Klett Verlag, Kapitel 21) 1974

27.11.2022
Der Künstler ist der Bruder des Verbrechers und des Verrückten. Meinst du, daß je ein irgend belustigendes Werk zustande-gekommen, ohne daß sein Macher sich dabei auf das Dasein des Verbrechers und des Tollen verstehen lernte? Was krankhaft und gesund! Ohne das Krankhafte ist das Leben sein Lebtag nicht ausgekommen.“
Thomas Mann:
Doktor Faustus
(Kapitel XVI) 1947


19.11.2022
Heimliche Sünde: ich bin neidisch, habe Lust, begehre - laufe verloren herum, mit roten Absätzen, roten Handschuhen, mit schwarzem wehenden Mantel, erblicke mich flüchtig in Schau-fenstern, Autofenstern, eine Fremde, eine Fremde mit schärferen Gesichtszügen, als ich wußte. Ich habe das Gefühl, dieses Jahr wird mir wie ein Traum vorkommen, wenn es vorbei ist.
Sylvia Plath:
Die Tagebücher. (Kapitel Smith College 1957 - 1958)
(Übersetzt von Alissa Walser / Frankfurter Verlagsanstalt 1997)
12.11.2022
Es gibt zwei entgegengesetzte - und im Ergebnis gleichwertige - Arten von Irrtümern, in die unsere menschliche Spezies im Hinblick auf Teufel verfallen kann: entweder nicht an deren Existenz zu glauben - oder an sie zu glauben und ein über-mäßiges und ungesundes Interesse an ihnen zu entwickeln. Die Teufel selbst freuen sich über beide Verirrungen gleichermaßen und begrüßen einen Materialisten ebenso euphorisch wie einen Okkultisten.
C. S. Lewis:
Dienstanweisung für einen Unterteufel
(Übersetzt von Pia-Elisabeth Leuschner und Peter Leuschner / Herder Verlag 2022) 1941


06.11.2022
Die Cyborg ist eine überzeugte AnhängerIn von Partialität, Ironie, Intimität und Perversität. Sie ist oppositionell, utopisch und ohne jede Unschuld. Cyborgs sind nicht mehr durch die Polarität von öffentlich und privat strukturiert, Cyborgs defi-nieren eine technologische Polis, die zum großen Teil auf einer Revolution der sozialen Beziehungen im oikos, dem Haushalt, beruht. Natur und Kultur werden neu definiert. Die eine stellt nicht mehr die Ressource für die Aneignung und Einverleibung durch die andere dar.
Donna Haraway:
Ein Manifest für Cyborgs.
Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, 1991/95
(Übersetzt von Fred Wolf)



30.10.2022
Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Auf-gaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren. (»Es geht nicht ohne Hilfskonstruktionen«, hat uns Theodor Fontane gesagt.) Solcher Mittel gibt es vielleicht dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend gering-schätzen lassen, Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen. Irgend etwas dieser Art ist unerläßlich.
Sigmund Freud:
Das Unbehagen in der Kultur, II
(1930)





22.10.2022
ganz sais verbarg sich hinter seinem chinamullschleier
irgendein fo christo aus der saiter fostadt kam darauf
die pepipyramide zu vermullen, was auch geschah
Dagmara Kraus:
wehbuch (undichte prosage), 26
(roughbook 036, Urs Engeler) (2016)
16.10.2022
Wären die Pforten der Wahrnehmung geputzt, würde jedes  
  Ding als das erscheinen, was es ist: unbegrenzt.
 
Doch der Mensch hat sich so eingemauert, dass er alle
   Dinge durch die engen Ritzen seiner Höhle sieht
William Blake:
Die Hochzeit von Himmel und Hölle
(Eine bemerkenswerte Erscheinung, Tafel 13) (1790/3)
09.10.2022
: Von der moralischen Mission ernst zu nehmender Kunst möchten wir nichts mehr hören; nicht mehr genervt werden von den frenetisch aufgeblähten Anmaßungen eines quasi-säkularisierten Klerikalismus, gewillt, das allseits Beste zu denken, und sogar bereit, mit geweihter Hand verdienstlicher Kunst und Poesie den Klaps oder Schubs der Zeit mitzugeben. Das Philistertum hätte weit besser daran getan (vorausgesetzt, es sei möglich), Kunst & Künstler sofort zu vernichten, zu hängen, zu verbrennen, aus dem Weg schaffen––als darauf zu sinnen, ihnen die Augen auszustechen und als moralisches Korn in seinen Mühlen zu zermahlen; was sicher nichts Gutes bewirkte. Wieder und wieder hat es eine Zeit gegeben, wo Kunst nirgendwo auf der Welt der Rede wert gewesen wäre; doch kein einziges Mal kann es eine Zeit gegeben haben, wo Kunst––nennenswerte Kunst––dem Puritanismus tatsächlich Dienst leistete oder darin schwelgte, teilzuhaben am ungesunden Appetit, Seelen zu salvieren oder die Humanität hilfreich auf den Weg des Fortschritts zu bringen.
Algernon Charles Swinburne:
William Blake. A Critical Essay, 92 f.,
übersetzt von Günter Plessow
(1868 / 2022)














01.10.2022
Wie kommt es, daß ein Versagen, ein Fehler, eine Schuld uns so lange nachhängt und daß die vollkommene Tilgung nicht gelingt? Noch immer fühle ich, daß ich von Halle her in der Schuld der Mutter bin. Diese Unruhe ist spezifisch und fast tantalischer Natur. Mit einem Unglücksfall werden wir wieder fertig und auch mit einem Unrecht, selbst einem schweren, das uns angetan wurde - das heilt die Zeit. Aber warum schmerzt die Erinnerung an ein Unrecht, das "im Eigenen" geschah, so lange und und auf so unheilvolle Art? Das sind keine Narben; es sind offene Wundränder, und die Erinnerung geht mit, sie greift bis auf das erste Schuljahr zurück?
Es scheint, daß wir einen Richter in uns haben; ja, wir haben einen Richter "in uns".
Ernst Jünger:
Fügen und Richten, 197
(in: Annäherungen, der Orient) 1970









24.09.2022
Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich -
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.
Gottfried Benn:
Ein Wort
(in: Statische Gedichte) 1943
17.09.2022
Hast du Angst vor allem, so lies dies Buch,
aber zuerst hör zu, was ich dir sage:
wenn du lachst, so nur, weil du Angst hast.
Ein Buch, meinst du, ist ein lebloses Ding.
Das ist möglich. Aber was, wenn du -
das gibt es doch - nicht lesen kannst?
Wirst du dich fürchten...? Bist du allein?
Frierst du? Weißt du, bis zu welchem Grade
<du selbst> der Mensch bist?
Dumm? Und nackt?
Georges Bataille:
Motto 1 zu Madame Edwarda.
1956/72






11.09.2022
Insofern ist das Element geistiger Wesen nicht so sehr die Zeit, sondern ihr Schnittmuster, die Wiederholung. Und nur Unschuld oder Ignoranz scheinen einen Weg zu bieten, der Klemme der Wiederholung zu entkommen, indem man wohl nichts variieren kann, von dem man keine Ahnung hat. Sodass die Mischung der Bewegungen und Formen, welche die Naive irgendwo planlos aufgeschnappt hat, etwas Neuem wenigstens zum Verwechseln ähnelt.
Ann Cotten:
Blendwerk der Wiederholung.
(In "Fast dumm", Essays von on the road, starfruit, 2017)



04.09.2022
Jedes Wort steht auf der Kippe, keins mehr zu sein. Jedes ist also nicht Teil eines Ganzen, sondern Teil einer potentiell unendlichen Reihe von anderen Wörtern und Wortteilen, die ihm fehlen und immer gefehlt haben, und also Teil nicht nur keines Ganzen und keines Teils, sondern 'Teil' nur von dem, was nie gegeben war, prekäres Gegengewicht zu dem, was zu ihm selber fehlt. Jedes amputiert, ein Stumpf mit Phantomschmerzen; jedes seinerseits Phantomglied, Phantommitglied einer Wort'familie', die sich ins Unendliche verliert.
Werner Hamacher:
Anataxis. Komma. Balance.
(Nachwort zu Jean Daive:
Erzählungen des Gleichgewichts 4 / W - Urs Engeler Editor, 2006 (1985), S. 136)



27.08.2022
Im späten 20. Jahrhundert, in unserer Zeit, einer mythischen Zeit, haben wir uns alle in Chimären, theoretisierte und fabri-zierte Hybride aus Maschine und  Organismus verwandelt, kurz, wir sind Cyborgs. Cyborgs sind unsere Ontologie. Sie definieren unsere Politik. Die Cyborg ist ein verdichtetes Bild unserer imaginären und materiellen Realität, den beiden miteinander verbundenen Zentren, die jede Möglichkeit historischer Trans-formation bestimmen. In der Tradition der »westlichen« Wissen-schaft und Politik, der Tradition des rassistischen und patriar-chalen Kapitalismus, des Fortschritts und der Aneignung der Natur als Mittel für die Hervorbringung von Kultur, in der Tradition der Reproduktion des Selbst durch die Reflexion im Anderen, hat sich die Beziehung von Organismus und Maschine immer als Grenzkrieg dargestellt. Die umkämpften Territorien in diesem Grenzkrieg sind Produktion, Reproduktion und Imagi-nation. Dieses Essay ist ein Plädoyer dafür, die Verwischung dieser Grenzen zu genießen und Verantwortung bei ihrer Kon-struktion zu übernehmen. Es ist zugleich ein Versuch, zu einer sozialistisch-feministischen Kultur und Theorie in postmoder-ner, nichtnaturalistischer Weise beizutragen. Es steht in der uto-pischen Tradition, die sich eine Welt ohne Gender vorstellt, die vielleicht eine Welt ohne Schöpfung, aber möglicherweise auch eine Welt ohne Ende ist. Die   Inkarnation der Cyborg vollzieht sich außerhalb der Heilsgeschichte.
Donna Haraway:
Ein Manifest für Cyborgs.
Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, 1991/95
(Übersetzt von Fred Wolf)


















20.08.2022
Ich fühle mich, mein Lucilius, in einem Zustande nicht der Besserung, sondern geradezu der Umwandlung, ohne jedoch mich zu der Versicherung oder Hoffnung zu versteigen, daß ich in mir nichts mehr finde, was einer Besserung bedürftig wäre. Wie, sollte ich nicht noch manches an mir haben, was der Sammlung, was der Minderung, was der Steigerung bedarf? Und eben dies ist ein deutliches Zeichen innerer Besserung, daß man die eigenen Fehler, soweit sie einem noch unbekannt waren, erkennt. Manchen Kranken wünscht man Glück, wenn sie anfangen sich krank zu fühlen.
Seneca:
Epistulae morales, Brief 6, 1






 
14.08.2022
(109.) Es ist nicht notwendig, daß Du aus dem Haus gehst. Bleib bei Deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich Dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor Dir winden.
Franz Kafka:
Die Zürauer Aphorismen
(Von den 109 Aphorismen - der 109.)
 
06.08.2022
Vielmehr aber ist der uneigentliche, der bildliche Ausdruck Kern und Wesen aller Poesie: jede Dichtung ist durch und durch ein Gebilde aus uneigentlichen Ausdrücken. […] Die Leute suchen gern hinter einem Gedicht, was sie den ‚eigentlichen Sinn‘ nennen. Sie sind wie die Affen, die auch immer mit den Händen hinter einen Spiegel fahren, als müsse dort ein Körper zu fassen sein.
Hugo von Hofmannsthal:
Zitat aus Sebastian Schmitter: Basis, Wahrnehmung und Konsequenz. Zur literarischen Präsenz des Melancholi-schen in den Schriften von Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil. Königshausen & Neumann 2000, S. 274
30.07.2022
Die imaginativ-irrationalen Elemente der Romantik sollten nicht
zugunsten eines rational-kritischen Erbes ausgeklammert wer-den, wie es noch immer die Versuchung der derzeitigen auf-klärerischen Apologetik ist, sondern gerade die Elemente des /Phantastischen/ und /Bösen/ müssen genau gesehen und auf ihre moderne Kapazität hin befragt werden. […]
Karl Heinz Bohrer:
Die Kritik der Romantik - Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne (Suhrkamp, 1989)

23.07.2022
Den stärksten Grund verdanke ich den «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» des Historikers Jacob Burckhardt. Er war selbst nicht fromm, aber Religion gehörte für ihn zu den drei fundamentalen «Potenzen» der menschlichen Gesellschaft – als Antagonistin für den «Staat» und die «Kultur». Fällt die Religion aus, wird nicht nur die Balance, sondern sogar das Fundament aller drei hinfällig. Die Freiheit wird bodenlos. Kultur und Staat verlieren ihre bindende Kraft und müssen sich wie jedes andere Produkt auf dem Markt gut verkaufen. Auch das Christentum wird Esoterikern, billigen Jakoben oder evangelikalen Marktschreiern ausgeliefert, und die historischen Kirchen leeren sich. Da wird es Zeit, sich auf ihre Seite zu schlagen. Ohne Religion ist der nackte Affe nichts weiter als defizitär.
Adolf Muschg:
Interview in der NZZ vom 8. Juli 2022
("Im Grunde habe ich gar nicht mehr mitzureden")









16.07.2022
Diese Doktrinen sind:
1) Daß die Grenzen unseres Geistes sich ständig verschieben und daß viele Geister gleichsam ineinander fließen und einen einzigen Geist, eine einzige Kraft hervorbringen oder offenbaren können.
2) Daß auch die Grenzen unserer Erinnerungen sich ständig verschieben und daß unsere Erinnerungen Teil einer großen Erinnerung, der Erinnerung der Natur selber sind.
3) Daß dieser große Geist und diese große Erinnerung durch Symbole heraufbeschworen werden können.
William Butler Yeats:
Magie
(in: Gedanken über Gut und Böse, 1903)






10.07.2022
So sah ich auch bei den Dichtern in kurzer Zeit, dass sie ihre Werke nicht aus Weisheit schufen, sondern aus einer gewissen natürlichen Anlage und in göttlicher Begeisterung, ähnlich wie die Seher und Orakelsänger; auch die reden viel Schönes, verstehen aber nichts von dem, was sie sagen.
Platon:
Die Apologie des Sokrates, 22 c.
(Frühwerk, nach 399 v. Chr.)

02.07.2022
Vorschlag eines neuen Begriffs anstelle des Geschmacksbegriffs

Aber am liebsten würde ich für die Kunst der Reaktion auf Kunst einen neuen Namen prägen, der seinerseits eine gute Tradition hat. Ich würde diese Art geschulter Reizbarkeit >Kriterium< nennen wollen, den Terminus aktiv und für das Vermögen gebrauchend, wie es im Spanischen üblich ist und im Englischen bis Ende des 17. Jahrhunderts üblich war. Kriterium ist das, was über Authentizität befindet, "qui permet de distinguer le vrai du faux, de juger et d'estimer" (Larousse, 1960). In diesem Sinne ist Kriterium ein >Objektiv<, das sich der Urteilende vorhält. Oder auch dem Ding vorhält, es ist das gleiche. Etwas ganz und gar Sokratisches.
Hilde Domin:
Werten und >Gebrauchen< von Kunst (in: Wozu Lyrik heute, II, 2 - Fischer Verlag, 1971/93)                            








26.06.2022
Im naturalistischen heute
herrscht sentimentalische einfalt.
Neo. Neo. Post.
Aber dilemma hat standhaftigkeit.
Neo sagt: "Ich bin hier, ich werde hier sein und
solang wird es nicht vorbei sein, wie du es willst."
Der fluss ist über die ufer getreten.
Tim Trzaskalik:
Western (Nachspann, S. 100,
Matthes & Seitz, 2022)                            



19.06.2022
Kennt ihr die Raserei, die sich in der Magengegend festsetzt und den Atem verschlägt; so daß man nicht mehr weiß, wie man sich drehen und wenden soll; und man zerwühlt das Bett; man kratzt die Wände ab; man würde aufbrüllen, wenn man die Kraft dazu hätte, und alles, selbst der Anblick alltäglicher Dinge flößt unerträglichen Abscheu ein, und mehr als alles irritiert jeder Vorschlag zur Heilung, der uns von denen kommt, die um uns sind und uns anschauen - und die unsere Erbitterung angesteckt hat. Glücklicherweise dauert eine solche Raserei nur kurze Zeit.
Luigi Pirandello:
Die Bank unter der alten Zypresse
(Erzählung, deutsch 1989)





12.06.2022
Das Ganze des menschlichen Wesens, seine biologische, muskuläre, tierische Körperlichkeit ist in die mechanischen Prothesen übergegangen. Nicht einmal mehr unser Gehirn ist in uns verblieben, sondern flottiert in den unzähligen Hertzschen Wellen und Vernetzungen, die uns umgeben. Das ist keineswegs Science-fiction, sondern bloß die Verallgemeinerung der Theorie McLuhans über die "Ausdehnungen des Menschen". Sofern man die Elektronik und die Kybernetik als Ausdehnung des Gehirns bezeichnet, ist unser Gehirn selber gewissermaßen zum artifi-ziellen Auswuchs des Körpers geworden, der also an sich selbst gar nicht mehr zum Körper gehört. Man hat das Gehirn zum Modell hypostasiert, um seine Funktionen besser operationali-sieren zu können; man hat aus ihm eine Prothese innerhalb des Körpers gemacht.
Jean Baudrillard:
Videowelt und fraktales Subjekt (in "AISTHESIS", Reclam-Verlag Leipzig, 1991)









05.06.2022
"Ihr habt keine Körper, ihr seid Körper!" rief Wilhelm Reich aus; darauf entgegnen heute die Macht und ihre Techniken: "Ihr habt keine Geschwindigkeit, ihr seid Geschwindigkeit."
Paul Virilio:
Der Film leitet ein neues Zeitalter der Menschheit ein (in "AISTHESIS", Reclam-Verlag Leipzig, 1991)
29.05.2022
Aber alles kann immer auch anders gewesen sein.
    Ich sage das ... ich rede bedenkenlos weiter, rede über den Text, über den Tod hinaus, sehr wohl wissend, dass ich als der, der die Geschichte erzählt, in der Geschichte eigentlich gar nicht sterben kann - eigentlich, das heißt, ich meine: logischerweise.
       Egal, mit wem ich identisch bin und wessen Namen ich trage, egal, wem ich gleiche und worin - ich bin bestenfalls eine Möglichkeit von mir, und in der Möglichkeitsform behaupte ich mich gar nicht schlecht, würde mich sicherlich in vielen Rollen beweisen können, mich beweisen als einer, der ich nicht bin, der ich aber - so oder anders - sein könnte.
Felix Philipp Ingold:
Die Zeitinsel. (Episode 1: Ich bin bestenfalls eine Möglichkeit von mir),
Ritter Verlag, 2022






22.05.2022
In einem guten Teil dessen, was gelegentlich (mit einer unwill-kürlichen theologischen Unterstellung) "modernistischer" Vers genannt wird, findet man entweder ein Übermaß oder einen Mangel an technischer Sorgfalt. Das erstere drückt sich in einem mehr auf das Wort denn auf die Dinge gelegten Nachdruck aus, der letztere in einem Nachdruck auf die Dinge und einer Gleich-gültigkeit gegenüber dem Wort. In jedem Fall ist das Gedicht formlos, so wie das vollendetste Sonett formlos ist, wenn es versucht, einen für die Sonett-Form ungeeigneten Gegenstand auszudrücken.
T. S. Eliot:
Einleitung zu Marianne Moore - Gedichte. Eine Auswahl. Wiesbaden, Limes Verlag, 1951/54





15.05.2022
Im frühen Mittelalter stellte Russland für den Westen eine durchaus bekannte Größe dar. Dynastische Verbindungen und Handelsbeziehungen zwischen der Kiever Rus’ und den west-lichen Staaten waren damals recht intensiv. 1240 geriet Russland allerdings für beinahe zweieinhalb Jahrhunderte unter die Herr-schaft der Tataren und verschwand weitgehend aus dem abendländischen Bewusstsein. Erst zu Beginn der Neuzeit, vor allem im 16. Jahrhundert wurde es neu entdeckt – also etwa zur gleichen Zeit wie Amerika. Viele Diplomaten, Kaufleute, aber auch Abenteurer gelangten nun nach Moskovien – so wurde Russland damals genannt – und schrieben über das Erlebte Reiseberichte. In der Flut der damals erschienenen Reise-beschreibungen ragen insbesondere drei Werke heraus: die Schrift des österreichischen Gesandten in Russland Sigmund Freiherr von Herberstein vom Jahre 1549, das Werk des Jesuiten Antonio Possevino vom Jahre 1583 und der Bericht des eng-lischen Diplomaten und Dichters Giles Fletcher, der im Jahre 1589 verfasst wurde. Alle diese Autoren betrachteten Russland als eine Despotie.
Leonid Luks:
Europäisch oder Eurasisch? Kontroversen um die russische Identität (1.1.1. Moskau als das 'Dritte Rom'), 2020













08.05.2022
Das Gedicht als ein Formgebilde aus Signifikanten, sprachlichen Zeichen, ist deshalb ein Ding, weil es sich nicht in Bedeutungen auflösen lässt. Wir können ein Gedicht zwar auf seine Bedeutung hin lesen, aber es geht nicht in ihr auf. Das Gedicht hat eine sinnlich-körperliche Dimension, die sich dem Sinn, dem Signifikant entzieht. Es ist gerade der Überschuss des Signifikanten, der das Gedicht zu einem Ding verdichtet.
Byung-Chul Han:
Undinge. Umbrüche der Lebenswelt
(Ullstein, S. 74) 2021




01.05.2022
Die Teilung der Sprache in zwei irreduzible Ebenen prägt das gesamte abendländische Denken, vom aristotelischen Gegensatz von erster ούσία und den anderen Kategorien (der von dem die gräkolateinische Spracherfahrung nachhaltig prägenden Gegen-satz ars inveniendi und ars iudicandi, zwischen Topik und Logik abgelöst wurde) bis zur Dualität von Sage* und Sprache* bei Heidegger und der von Zeigen und Sagen bei Wittgenstein. Die Struktur der Transzendenz selbst - die die philosophische Reflexion über das Sein maßgeblich charakterisiert - liegt in dieser Teilung begründet: nur weil das Sprachereignis das, was in ihm gesagt wird, je schon transendiert, kann etwas wie eine Transzendenz im ontologischen Sinne überhaupt nachgewiesen werden.  
Giorgio Agamben:
Die Sprache und der Tod
(Achter Tag)
1982









23.04.2022
Über Gedichte zu sprechen, heißt, einen Felsen mit einem Taschenmesser spalten zu wollen.
Christoph Meckel:
Was ein Gedicht kostet
(in Sinn und Form 1/22)
17.04.2022
Ich wohne in der Möglichkeit -
Und nicht im Prosahaus -
Sie ist an Fenstern reicher -
Hat Türen - übergroß -
Emily Dickinson:
Ich wohne in der Möglichkeit
(Sämtliche Gedichte, Hanser Verlag, übersetzt von Gunhild Kübler) 2015
10.04.2022
Denn Mythen bedeuten für die Religion dasselbe, was die Poesie für die Wahrheit bedeutet: Es sind lächerliche Masken, hinter denen die Leidenschaft, leben zu wollen, sich versteckt.
Albert Camus:
Die Wüste
(in "Die Hochzeit des Lichts" - "Noces")
1938
03.04.2022
Ich las auf dem College-Rasen Rimbaud und achtete darauf, dabei gesehen zu werden, aber ich las, verschlang außerdem die schlechtesten Dichter der englischen Sprache. Eines der ersten Bücher, das mir Keith und Rosmarie Waldrop - zwei der gebil-detsten Menschen, die ich je kennengelernt habe - in Providence gaben, war eine Anthologie mit dem Titel Pegasus Descending, die in ihrem Kleinverlag erschienen war, "ein Buch der besten schlechten Versdichtung", ein Buch, so James Wright, das "nichts Mittelmäßiges" enthält. Diese Anthologie wahrhaft miserabler Gedichte ist natürlich oft urkomisch, aber der Komik ist ein Element von Idealismus beigemischt; die schlimmsten Gedichte zu lesen ist eine Methode, wenn auch negativ, jenes Echo poetischer Möglichkeit zu spüren. Man denke an Platons Argument der Unvollkommenheit im Phaidon: Um wahr-nehmen zu können, dass etwas unvollkommen ist, müssen wir ein Ideal von Vollkommenheit im Kopf haben.
Ben Lerner:
Unvollkommenheit
(in "Warum hassen wir die Lyrik?")
2016 / 2021











27.03.2022
Im einundzwanzigsten Jahrhundert sind die Massaker an die Stelle der Opfer getreten. Sie durchsetzen den Lauf der Zeit, einer formlosen, konvulsivischen Zeit, so wie die heiligen Zere-monien den Kreislauf des Kalenders durchsetzen. Der Offiziant kann sich mit seinen Opfern selber opfern; oder er kann Abstand halten, soweit eine Fernbedienung es erlaubt. Das Massaker kann eine finale, abschließende Tat sein; oder es kann zu einer Serie gehören. Das Fundament bleibt das gleiche. Gegenüber jedem anderen - politischen, kriegerischen, diplomatischen, aufrührerischen - Akt bietet das Massaker eine Gewissheit: Seine Wirkung ist garantiert. Es ist die einzige zweifellos wirksame Tat inmitten von zahllosen anderen Taten, an denen man zweifeln kann. Es ist die sichere Verankerung der Bedeutung.    
Roberto Calasso:
Die Massaker
(in Der himmlische Jäger, Kap.:
Die Nacht der Hermenverstümmler)
2016 / 2020








19.03.2022
Die Poesie arbeitet wie der Ton (in der Musik) nicht unmittelbar für den äußeren Sinn des Ohres, sondern für den inneren Sinn, für die Vorstellung; aber sie bleibt nicht, wie der Ton, beim Gefühlsausdruck stehen, sondern erhebt sich zu festen, streng abgegrenzten Anschauungen und Begriffen. So ist die Poesie wie die Musik eine Darstellung des innern Gefühlslebens und hat doch zugleich, wenn auch nur für das geistige Auge, die ganze plastische Gestaltungskraft der bildenden Künste.
Der Brockhaus von 1895:
Poesie
(1895)




12.03.2022
Dieses Grauen, zu schreiben, um zu schreiben, und zu ver-öffentlichen, um zu veröffentlichen.
Aura Xilonen:
Schreiben, um zu schreiben, ist nichts als Müll. Der letzte Dreck, 7.
(in Neue Zürcher Zeitung, 05.03.2022)
06.03.2022
Der Lyriker kann seinen Stil erarbeiten, seine Formen schärfen, er kann seinen Wortschatz vertiefen und erweitern, aber er kann die Wörter nicht zwingen, wahr und wirklich zu sein. Wahrheit und Wirklichkeit dichterischer Sprache sind teuer erkauft. Wör-ter sind Beglaubigungsstempel. Sie besiegeln eine Wahrheit …“
Christoph Meckel:
Was ein Gedicht kostet
(in Sinn und Form 1/22)

26.02.2022
Es ist nur eine eigentümliche Aufrichtigkeit, die, in einer Welt, die zu erschreckt ist, um aufrichtig zu sein, etwas eigentümlich Erschreckendes hat. Es ist eine Aufrichtigkeit, gegen die sich die ganze Welt verschwört, weil sie unerbittlich ist. Blakes Dichtung hat das Unerbittliche großer Dichtung.
T.S. Eliot:
William Blake, 1
(1920)  

19.02.2022
Wenn die Prinzipien des Spiels in der Tat mächtigen Trieben entsprechen (Wettbewerb, Verfolgung der Chance, Verstellung, Rausch), begreift man leicht, daß sie nur unter idealen, fest-umrissenen Bedingungen, wie sie die Regeln der Spiele in jedem Fall vorschlagen, ein positives und schöpferisches Genüge finden können. Sich selbst überlassen, können diese ursprünglichen Antriebe, die wie alle Triebe maßlos und zerstörerisch sind, nur bei unheilvollen Folgen enden. Die Spiele disziplinieren die Instinkte und zwingen sie zu einer institutio-nellen Existenz. In dem Augenblick, in dem sie ihnen eine formelle und begrenzte Befriedigung zugestehen, erziehen sie sie, befruchten sie und impfen die Seele gegen ihre Virulenz. Gleichzeitig werden die Triebe durch die Spiele fähig gemacht, die Stile der Kulturen zu bereichern und zu fixieren.
Roger Caillois:
Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch.
(Teil: Korruption der Spiele)  
1958








13.02.2022
Wir zeichnen immer von der Vorstellung ausgehend. Es kann so-gar sein, dass etwas anzuschauen bedeutet, es sich vorzustellen, das Objekt. Wir wissen nicht, was Vorstellung sein könnte. Wir wissen nicht mal, was das ist, das wir "Vorstellung" nennen. Man muss es für sich selbst interpretieren. Aber was es bedeutet, etwas zu sehen, das wissen wir nicht. Wir tun es andauernd, aber wir wissen es nicht.
Etel Adnan:
Wir wurden kosmisch
(Teil 3: Joshua Groß und Moritz Müller-Schwefe im Gespräch mit Etel Adnan)  


06.02.2022
Damit bin ich beim zweiten Vorschlag: einer Poetik der Form. Wir könnten mit festen Gedichtformen experimentieren, sie jedenfalls nicht reflexhaft verwerfen. Denn wenn unsere Gesell-schaft keine Formen autoritär vorgibt, wenn so vieles in ihr flüssig, berweglich und unsicher ist, dann benötigen die Indivi-duen für sich einen Halt. Einen solchen Halt können Gedichte geben, wenn sie erkennbar geformt sind, tradiert oder indivi-duell. Dann wären Gedichte ein Raum, um einzutreten und sich heimisch zu fühlen. Die Gestaltung dieses Raums ist selbst-gesetzt, so wie man sich einrichten mag, man kann ihn wieder verlassen, in einen anderen eintreten, später zurückkommen.
Dirk von Petersdorff:
Wozu Gedichte da sind
(Münchner Rede zur Poesie #21, Stiftung Lyrik Kabinett 2019)  






29.01.2022
Einbildungskraft, angewandt auf die ganze Welt, ist leer,
verglichen mit Einbildungskraft, angewandt auf ein Detail.
Wallace Stevens: Einbildungskraft
(Adagia, in "Der Planet auf dem Tisch", 1961, 1983)  
22.01.2022
Mythen sind ethnogenetische oder, wie Peter Sloterdijk sagen würde, „ethnoplastische“ Erzählungen. Sie fundieren und for-men eine kollektive Identität in Analogie zur narrativen Struktur des autobiografischen Gedächtnisses, auf der eine persönliche Identität basiert. Sie haben ihre Wahrheit nicht in der histo-rischen Wirklichkeit, sondern in der Gesellschaft, die in und mit diesen Mythen lebt. Wie performative Sprechakte stellen sie die Wirklichkeit her, auf die sie sich beziehen. Diese Form einer performativen Verbindlichkeit gilt nicht für Sagen und Märchen. Im Hinblick darauf verbietet sich auch der Begriff der Fiktionalität, der nun wiederum für die Literatur konstitutiv ist.
Jan Assmann:
Mythen stellen Wirklichkeit her
(Interview mit Tobias Lehmkuhl, Philosophie-Magazin, 13.06.2016)  






16.01.2022
Nur durch seine Loslösung von Sinn (in dieser spezifischen und multidimensionalen bürgerlichen Bedeutung des Wortes) ver-mag der moderne Dichter, die Reinheit von Sprache und Dichtung jenseits sozialer Konventionen und Verständigungs-zwänge zum ästhetischen Ideal zu erklären. Sinn überhaupt fällt nunmehr mit dem Sinn der Sprache als solcher zusammen …., so kommt es dazu, daß die Sprache, wenn sie zum einzigen Sinn erklärt wird, nur das ausdrücken kann, was nach bürgerlichen Maßstäben sinnlos ist.
Panajotis Kondylis:
Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen, Weinheim, S. 73. 1991




09.01.2022
Nur im Zeitalter ihres Verfalls sind die freien Rhythmen nichts als untereinander gesetzte Prosaperioden von gehobenem Ton. Wo der freie Vers als Form eigenen Wesens sich erweist, ist er aus der gebundenen Strophe hervorgegangen, über die Subjek-tivität hinausdrängt. … In den freien Rhythmen werden die Trümmer der kunstvoll-reimlosen antiken Strophen beredt.
Theodor W. Adorno:
Minima Moralia, Nr. 142
1951


02.01.2022
Das Gedicht der neueren Zeit muß in sich selbst sowohl die eigene kosmische Syntax formulieren als auch die von der kos-mischen Syntax erlaubte autonome dichterische Realität gestal-ten: Die ‚Natur‘, die einst vor dem Gedicht kam und der Nach-ahmung zur Verfügung stand, hat jetzt denselben Ursprung wie das Gedicht in der Schöpferkraft des Dichters.
Charles Taylor:
Das Unbehagen an der Moderne (S. 97)
2018


25.12.2021
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