Friedrich Christian Delius: Armes Schwein
Gedichte > Münchner Anthologie
Friedrich
Christian Delius
Armes Schwein
Um zwei Uhr nachts stürmten wir das Haus
des namhaften Kritikers. Der saß noch bei der Arbeit,
sprang sofort erleichtert auf und
nahm die Arme hoch. Sah zu, zufrieden
spielte er Entrüstung, als wir seine Bücher
in die Wäschekörbe packten, faßte aber nicht
mit an. Wir dachten an seinen bekannten
Enthusiasmus für >La Chinoise<, ließen ihm also
Majakowskij und Brecht. Schon holte er
Wein aus dem Keller. Als wir die Schallplatten
wegnahmen, sagte er bloß, er wolle von Beethoven
sowieso nichts mehr wissen, bestand aber plötzlich
auf Albert Ayler. Wir stimmten ab, ja der
sollte ihm bleiben. Wir tanzten mit seiner Frau.
Sie lud uns in die Küche, manierlich aßen wir
die Delikatessen auf. Er wollte uns dann
mit Whisky halten. Es wurde hell, wir schleppten
das Zeug endlich raus, da bot er uns das Du an.
Das, fanden wir, ging zu weit.
Da haben wir also doch wieder einen Fehler gemacht.
Kursbuch
15, 1968
Michael
Braun
Die
Idyllen der Revolte
Es ist eine
rührende Szene der scheinhaften Rebellion, eine Momentaufnahme aus den wilden
Tagen der selbsternannten Kulturrevolutionäre von 1968. Die Akteure, die sich
hier im Haus des prominenten Literaturkritikers tummeln, sind tief verstrickt
in ihre Ambivalenzen zwischen Revolte und Fraternisierung, Bürgerschreck-Posing
und Bildungsstolz. Was ist das nur für ein seltsamer Kulturkampf, der da tobt
und in dem die vermeintlichen Feinde sich in Partylaune und gegenseitiger
Anbiederung überbieten? Für seinen Erstdruck fand das Gedicht des damals
25jährigen F.C. Delius einen prominenten Ort: das legendäre „Kursbuch 15“, in
dem – so ein hartnäckiges Missverständnis - der „Tod der Literatur“ dekretiert,
in Wirklichkeit aber die Ära einer politisierten Literatur eingeläutet wurde. Später
wurde es in Delius Gedichtband „Wenn wir, bei Rot“ (Verlag Klaus Wagenbach,
1969) aufgenommen. Der junge Pastorensohn Delius war 1968 fast schon ein alter
Hase der für libertär-marxistische Denkfiguren offenen
Schriftstellergeneration, die den Literaturseminaren des Berliner
Literatur-Impresarios Walter Höllerer entsprungen war. Er hatte als
schüchterner 21jähriger Student bereits einen ersten Auftritt bei der Gruppe
47, ein Jahr später, 1965, erschien sein schmales Lyrikdebüt „Kerbholz“, ein
Band mit lakonischen, parabelhaften Gedichten. Während seine literarischen
Freunde wuchtige marxistische Reden schwangen, konzentrierte sich Delius aufs
Zuhören und Schweigen – und lernte viel dabei. Walter Höllerer und Klaus
Wagenbach förderten ihn nach Kräften, einige Jahre lang war Delius eine
Zentralfigur in Wagenbachs linkem „Verlags-Kollektiv“, bis dieses in einem
heftigen Streit über den publizistischen Umgang mit den Theoretikern und
Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) zerplatzte.
In seinem
autobiografischen Rückblick „Als die Bücher noch geholfen haben“ (2012) hat
Delius die lyrische Phantasie des nächtlichen Kritiker-Überfalls von 1968
entzaubert. Es ist nämlich reine Erfindung. Verbürgt ist nur die
Party-Bemerkung des Kritikers Reinhard Baumgart, der einmal hochmütig erklärte,
er wolle von Beethoven nichts mehr wissen. Delius rächte sich mit diesem
Gedicht, mit seinen Anspielungen auf Jean Luc Godards Film „La Chinoise“ und
auf den Jazz-Saxophonisten Albert Ayler, über den Delius später (2017) auch
einen Roman schrieb. Reinhard Baumgart wiederum erfand in seiner Autobiographie
„Damals“ (2004) eine Hausbesetzung unter Führung von Delius, die nie
stattgefunden hatte. Ein Gespräch über dieses Missverständnis konnte nicht mehr
stattfinden, Baumgart starb 2003. Nun ist mit Friedrich Christian Delius auch
der selbstkritischste und liebenswürdigste Schriftsteller der 68er Generation
gestorben. Er selbst hat sich freilich immer als „66er“ verstanden: Einer, der
ins Offene ging in „der Phase des Aufbruchs, des Kulturbruchs, der
Horizonterweiterungen“.