Frank Schirrmacher: Der Kunstwille oder Orte, die leicht gar nicht erreichbar sind
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Frank Schirrmacher
Der Kunstwille oder
Orte, die leicht gar unerreichbar sind
„In
einer der seltenen poetischen Stellen der ‚Kritik der reinen Vernunft‘
vergleicht Kant sich mit einem Landvermesser, der auf große Seefahrt
geht, um einen Ort zu suchen, den er womöglich nie erreichen wird. …
Kants Vermessungs- und Navigationsmotiv steht in der unabsehbaren Kette
der Expeditions- und Eroberungsmetaphern, die aus der Lebenswelt in die
Wissenschaften und Künste eindringen und bald keinen seiner Nachfolger
mehr loslassen. Mitte des 19.Jahrhunderts beginnen die Künstler,
gleichsam als Funktionäre einer romantischen Universalkartographie, die
Welt ein letztes Mal zu vermessen. Sie koalieren mit der Wissenschaft.
Sie erobern sich fremde Gebiete, beanspruchen die Herrschaft, beginnen
mit der Topographie der Seele, ….
Wenn
es stimmt, dass der Ethnograph der ‚reisende Revolutionär‘ ist, so ist
der Künstler der Jahrhundertwende der träumende Revolutionär, der, wie
die berühmte Prophezeiung Coleridges lautet, die Rose, die ihm soeben im
Traum geschenkt wurde, beim Erwachen in den Händen hält. Dazu verhalf
ihm die Wissenschaft. Die brüderliche Verwandtschaft zwischen ihr und
der Kunst, die die Zeit erwarten durfte, gehört zu den großen
Verlustanzeigen unseres heutigen Fin de Siècle. Das Bündnis zwischen
Romantik und der Technik, zwischen Wissenschaft und dem Gedicht hat am
Ende jene Katastrophengeschichte ausgelöst, die in den beiden
wissenschaftlich sich missverstehenden Totalitarismen des 20.
Jahrhunderts zum unüberschreitbaren Zeichen wurde.“
(Zitiert
aus Frank Schirrmacher: Die Eroberung des Mondes oder eine Anekdote
über den Kunstwillen. In: Die Stunde der Welt. Fünf Dichter – ein
Jahrhundert, George, Hofmannsthal, Rilke, Trakl, Benn. Blessing Verlag. 2017. S
16 + 21)