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Frank Schirrmacher: Der Kunstwille oder Orte, die leicht gar nicht erreichbar sind

KIOSK/Veranstaltungen > Lyrikpreis München 2024
Frank Schirrmacher
Der Kunstwille oder
Orte, die leicht gar unerreichbar sind


„In einer der seltenen poetischen Stellen der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ vergleicht Kant sich mit einem Landvermesser, der auf große Seefahrt geht, um einen Ort zu suchen, den er womöglich nie erreichen wird. … Kants Vermessungs- und Navigationsmotiv steht in der unabsehbaren Kette der Expeditions- und Eroberungsmetaphern, die aus der Lebenswelt in die Wissenschaften und Künste eindringen und bald keinen seiner Nachfolger mehr loslassen. Mitte des 19.Jahrhunderts beginnen die Künstler, gleichsam als Funktionäre einer romantischen Universalkartographie, die Welt ein letztes Mal zu vermessen. Sie koalieren mit der Wissenschaft. Sie erobern sich fremde Gebiete, beanspruchen die Herrschaft, beginnen mit der Topographie der Seele, ….

Wenn es stimmt, dass der Ethnograph der ‚reisende Revolutionär‘ ist, so ist der Künstler der Jahrhundertwende der träumende Revolutionär, der, wie die berühmte Prophezeiung Coleridges lautet, die Rose, die ihm soeben im Traum geschenkt wurde, beim Erwachen in den Händen hält. Dazu verhalf ihm die Wissenschaft. Die brüderliche Verwandtschaft zwischen ihr und der Kunst, die die Zeit erwarten durfte, gehört zu den großen Verlustanzeigen unseres heutigen Fin de Siècle. Das Bündnis zwischen Romantik und der Technik, zwischen Wissenschaft und dem Gedicht hat am Ende jene Katastrophengeschichte ausgelöst, die in den beiden wissenschaftlich sich missverstehenden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zum unüberschreitbaren Zeichen wurde.“


(Zitiert aus Frank Schirrmacher: Die Eroberung des Mondes oder eine Anekdote über den Kunstwillen. In: Die Stunde der Welt. Fünf Dichter – ein Jahrhundert, George, Hofmannsthal, Rilke, Trakl, Benn. Blessing Verlag. 2017. S 16 + 21)


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