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Erkennen

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Christian Morgenstern

Erkennen


1896
Unser Begreifen ist Schaffen; seien wir doch selig in diesem Bewußtsein.
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Der Mensch ist ein in einem Spiegelkerker Gefangener.

1905
Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht.
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Ein jeder sollte erst seine Grenzen anzugeben suchen, soweit er sie selbst erkennen kann, um darauf umso freier und unbefangener seine Beobachtungen und Meinungen niederzulegen.
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Die Menschen haben sich daran gewöhnt, von hinten nach vorn, statt von vorn nach hinten zu denken.

1906
Bedeutet es schließlich etwas, seine Kniee und Füße anblicken zu können? Und doch kannst du es nur solange, als du in dir lebst.
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Nur der Erkennende lebt.
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Ich darf wohl sagen: Ich liebe die Wissenschaft von Grund aus und hasse alle Schwarmgeisterei. Eine Wissenschaft aber, die vergißt, daß sie eine seltene, wunderbare Blume auf dem Boden des Mysteriums ist, ja, die vergißt, daß sie selbst Mysterium ist, sie fällt mit der übelsten Schwarmgeisterei in eins zusammen, sie ist im Tiefsten inferior, allein schon rein intellektuell genommen.
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Die Wissenschaft ist nur eine Episode der Religion. Und nicht einmal eine wesentliche.
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Alles erkenntnistheoretische Denken ist ein Spielen mit dem Feuer. Wenn der Alltag nicht wäre mit seinen 24 breiten Körperstunden, wenn wir nicht als Tiere so fest und ökonomisch gebaut wären, so würde unser armes Gehirn zehnmal statt einmal verbrennen, so wäre philosophische Begabung und Anwartschaft auf Verrücktwerden dasselbe. Und so wird dieses Spiel denn auch immer gewagt werden dürfen. Zwar, der Einsatz ist dein Leben, aber wenn du auch die Gefahr nicht bestehst, so brauchst du selbst keineswegs grundsätzlich zu verlieren.
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Der Denker, der dir kein Grauen erregt, ihn magst du zu Tisch einladen.
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Jedesmal wieder, wenn man so recht in die ›Welt‹ hineindenkt, kommen einem alle menschlichen Gedanken darüber vor wie Kinderstammeln, was sage ich, wie Bewegungen von Insekten, die von der Spitze ihres Grashalms in die Luft hinaustasten. Und das gilt nicht nur von gewöhnlichen Gedanken, das gilt ebenso von den tiefsten Gedanken unserer fähigsten Köpfe. Nur daß wir durch unsere Sinne die Welt so vereinfacht – besser vielleicht von einem Unendlichfachen auf ein Fünffaches gebracht – haben, ermöglicht uns, in ihr mit so festen Schritten zu wandeln; nur daß wir meinen, ›die Welt‹ in Wahrheit vor uns zu haben, wie ein gewaltiges Gemälde, das – wenn auch nur im Großen – so sei, wie wir es sehen, ermöglicht den ganzen Schatz menschlich-bürgerlichen Hochgefühls, die Freudigkeit des Tatmenschen, den tragischen Stolz des Philosophen, die königlichen Empfindungen des Künstlers. Unsere Armut ist es, die uns reich macht, unsere Beschränktheit, der wir das Gefühl unbeschränkter Entwickelungsfähigkeit verdanken. Aber umsonst. Irgend einmal und dann immer wieder wird – wenn auch nur blitzartig – die Armut als Armut, die Beschränktheit als Beschränktheit erkannt, die großartige Illusion zerreißt und die Geschichte der Erde und seines Bewohners entpuppt sich in der Riesensaison des ›Universums‹ als – bürgerliches Schauspiel, eines unter unzähligen, Verfasser unbekannt, Wert indifferent.
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Das Urbuch der Welt wird mit sympathetischer Tinte geschrieben.
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Nur im vorbereiteten Herzen kann ein neuer Gedanke Wurzel fassen und groß werden. Sich vorbereiten, sich zubereiten, den Acker lockern für das beste Korn, ist alles.
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Es gibt kein größeres Hindernis, zur Wahrheit zu gelangen, als – schreiben zu können. Vergiß deinen Stil, vergiß allen Stil, überlaß dich ganz dem Rhythmus der inneren Stimme, überlaß alle ›Kunst‹ denen, die mehr Künstler sind als Wahrheitssucher.
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Der Materialismus hat uns in viele Jämmerlichkeiten gestürzt, aus denen wir uns erst nach und nach wieder erheben werden.
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Alles Denken ist Zurechtmachen.

1907
Wunder ist ein Orientierungsbegriff wie tausend andre. Wird dieser Begriff mehr und mehr aus der Welt geschafft, so heißt das nichts weiter als: wir brauchen diesen Orientierungsbegriff nicht mehr, er ist für uns aufgegangen in den Begriff Entwickelung.

Wunder nannte man einst alles Übernatürliche. Da man heute übereingekommen ist, alles überhaupt Mögliche dem Begriffe Natur unterzuordnen, gibt es nichts Übernatürliches, also auch kein Wunder mehr. Aber Natur ist auch nur ein heuristischer Begriff und wer sich in der Zwangsjacke eben dieser Begriffe nicht wohl fühlt, wird ihn abermals entthronen und das alte Wort Wunder – vielleicht auf lateinisch als ›Mysterium‹ – in einem neuen größeren Sinne über ihn setzen. Worte, Worte! Wird man nie begreifen, daß Worte nur Entscheidungen sind, nicht Erkenntnisse?
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Es ist eine sehr geistreiche (!) Forderung, die ›Natur‹ auf ›natürliche‹ Weise erklärt sehen zu wollen.
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Wie mancher Gedanke fällt um wie ein Leichnam, wenn er mit dem Leben konfrontiert wird.
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Ich meine: Gehirn und Dinge sind in Einem Zirkel beschlossen. Im Gehirn kann nicht sein, was nicht im Stoff ist.
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Wenn die Gehirnorganisation all ihr Um-sich unter den Formen von Zeit und Raum begreift, so ist anzunehmen, daß der unendliche Stoff hier keine ihm nicht entsprechende Organisation wird hervorgebracht, oder: wird zugelassen haben. Ich meine, diese Organisation, die unter Raum und Zeit begreift, erstand doch selbst aus dem, was sie nun begreift, und kann darum als Funktion des zu Begreifenden nicht essentiell von diesem verschieden sein ...
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A. Wenn jemand von einer Philosophie der Ameisen reden würde, so möchte er wohl fröhlichem Lachen begegnen. Aber ist die Philosophie der Menschen wirklich etwas so sehr, sehr anderes, als eine Philosophie der Ameisen wäre? Stelle dir nur an einem schönen Sommerabend den Erdball und das Leben auf seiner Oberfläche vor!

B. Ja ja, mein Lieber, wenn es die Menschen nur nicht zu dem einen Gedanken gebracht hätten: alles ist mir nur insoweit bekannt, als es meine Vorstellung ist. Dieser Gedanke, der ihm alles zu nehmen scheint, gibt ihm zugleich das Recht, sich selbst dem Sternenhimmel gegenüber zu behaupten, denn das Bewußtsein, daß alles, was er da erkennt, nur ein Bild in ihm ist, ja, noch mehr, das dies ›er selbst‹ nur ein Bild – soll er sagen sein Bild? – ist, erlaubt ihm, deinem Ameisengleichnis den Stachel zu nehmen, so gut, wie dem Eindruck gestirnter Ewigkeit. Die Rechnung steht nun für ihn so: Auf der einen Seite ›alles Seiende‹ als Bild. Auf der andern das, welches ›all dies Seiende zusamt sich selbst‹ – als Bild empfindet. –

Wir sind wieder da, wo jeder zuletzt hinkommt, und was ich beim Lesen Meister Ekkeharts einmal so formulierte: Gott ist ein Subtraktionsexempel.
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Betrachte den Fühler dieses feingliedrigen Käfers. Was ist der Mensch anderes als solch ein Fühler, von unbekannter Urkraft ausgestreckt, tastend sich über die Dinge zu unterrichten suchend, zuletzt forschend zurückgekrümmt auf sich selbst – ? Der Mensch, ein Taster Gottes nach Sich selbst.
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Alles Denken ist Übersetzen Gottes ins Rationalistische. Von Gott, dem Original, wissen wir nur durch Gott, den Übersetzer.
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Man hat Hegel verspottet, weil er sagte, aus ihm rede der Weltgeist. Ach, auch aus ihnen, den Spöttern, redet leider nichts anderes.
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Ich lese mit Erschütterung in Hegel, an dem ich immer vorbeigegangen war. Zwei Dinge hielten einst schon den Studenten ab, Hegeln eine unbestimmte geheime Neigung zu entziehen: Seine überlebensgroße Büste, die ihm am Kastanienwäldchen hinter der Berliner Universität manchen bedeutenden Augenblick schuf, und das über ihn umlaufende Wort: niemand habe Hegeln zuletzt mehr verstanden, nicht einmal er selbst. Ich halte den nämlich nicht für den Träger und Offenbarer höchster Erkenntnisse, der diese Erkenntnisse ein für alle Mal ›versteht‹. Das Höchste vermag der menschliche Geist auch nur in höchsten Momenten zu leisten, und manchmal ist es nur ein Blitz, der die Tiefe der Welt sekundenlang aufreißt.
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Entweder man ist Künstler oder Philosoph. Der Philosoph achtet die Kunst, ja liebt sie, – aber er komplimentiert sie hinaus, wenn er mit seinem Ernst allein sein will.
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Wogegen ich mich vor allem richte, das ist die Bürgerlichkeit so vieler bisheriger Philosophie. Es fehlt mir darin zu sehr an jener Überwältigung des menschlichen Geistes durch das, was ihn wohl überwältigen darf: die nicht nur rechnerisch gebrauchten, sondern innerlich erlebten Vorstellungen von Ewigkeit und Unendlichkeit. Für mich beginnt Philosophie hart vor dem Wahnsinn, sonst ist sie ein Handwerk wie andre auch. Und sie muß immer wieder bis hart an den Wahnsinn führen, das ist beinahe eine Forderung der Sittlichkeit philosophischen Denkens, da es sonst einen Mangel an Leidenschaft zu bedenklich verrät. Ohne Leidenschaft aber ist jede Tätigkeit großen Stiles, so erhaben sie sich auch geben mag, gemein.
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Wie mancher Steinregen im Hochgebirge verdankt dem Klettern einer Gemse seinen Ursprung. Dies bedenke auch du, der du auf Gedankenbergen herumkletterst, und – freue dich dessen oder mache dir Vorwürfe darüber oder beides zugleich, je nachdem du geartet bist.

Man muß Pessimismus und Optimismus als ›Stimmungen‹ hinter sich lassen, wenn man, obzwar erkenntnislos, aber von allen Seiten umwittert, den Pfad der Wirklichkeit wandelt.
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Sei nur Skeptiker, es gibt keinen besseren Weg als den fortwährenden Zweifelns. Denn nur, wer die Relativität jeder Meinung eingesehen hat, sieht zuletzt auch die Relativität dieser Einsicht ein – und schwingt sich endlich vom letzten Erdenwort in – Sich selbst zurück.
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Wenn ich wüßte, welches Wort der Erde keine Vorstellung enthielte, so würde ich es dazu gebrauchen, das Wort Vorstellung zu überwinden. Aber dieses Wort Vorstellung bleibt zuletzt als einziges auf dem obersten Siebe liegen, das alle andern passiert haben.

Nur glaube man nicht, damit etwas anfangen zu können. Denn wenn ich sage: Die Welt ist meine Vorstellung, so sage ich damit nichts andres als: eine Vorstellung ist meine Vorstellung. Es gibt keinen Weg hinaus, es gibt nur einen Weg hinein.
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Welche Vorstellung wäre zuletzt nicht anthropomorph! Anthropomorph, sagt man, sei die Vorstellung eines persönlichen Gottes. Aber der Naturforscher, der sich die Welt unpersönlich, nämlich als Natur, als Wirklichkeit, als einen unendlichen Knäuel von Wirkungen denkt – hat ja auch von sich selbst kein anderes Bild; er sieht sich, interpretiert sich ›naturwissenschaftlich‹ als ›Natur‹ und projiziert sich (in seiner neuen Weltinterpretation) nur ebenso unvermeidlich ins ›Universum‹ hinein wie früher. Oder vielmehr: Universum ist bereits Selbstprojektion. Anthropomorph ist und muß ›alles‹ bleiben.
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Das menschliche Denken ist wie eine trübe Flüssigkeit, die sich im Lauf der Jahrhunderte langsam klärt. Nach immer mehr Erklärung trachtet der Geist, aber das Ergebnis ist nur immer mehr – Klärung. Und zuletzt wird das Denken schön geworden sein, wie klarer Honig, klares Wasser, klare Luft.
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Mir fällt in aller bisherigen Philosophie eins auf: Sie hat nie recht genug – Phantasie, Sie zerbrach nie ihre Begriffe – aus Phantasie.
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Lichtenberg's Bemerkung, die docta ignorantia mache weniger Schande als die indocta, scheint mir das Erschöpfendste, was über das Problem der Wissenschaften gesagt werden kann.

Nicht nur der Weg nach der Wahrheit scheint mehr wert als die Wahrheit selbst, um Lessingsch zu reden; noch wertvoller als der Weg selbst scheint der Wille zu solch einem Wege.
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Wer sich an Kant hält, dem muß alle Metaphysik erscheinen wie das hartnäckige Surren einer großen Fliege an einem festgeschlossenen Fenster. Überall wird das Tier einen Durchlaß vermuten und nirgends gewährt die unerbittliche Scheibe etwas anderes als – Durchsicht.
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Gesetzt und endlich einmal festgehalten, daß alle Wissenschaft nur Beschreibung und nicht Erklärung sein kann, steht dem nichts im Wege, den Menschen als das bescheidenste Tier katexochen zu beschreiben.
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Alles Denken ist wesentlich optimistisch. Der vollendete Pessimist würde verstummen und – sterben.

1908
Alle Wissenschaft hat einen doppelten Wert. Einmal ihren Wert als Wissenschaft, den man allgemein für ihren eigentlichen, für ihren Hauptwert hält, und der doch nur ein Hilfswert ist; und ihren Wert als einer Art moralischer und intellektueller Gymnastik, deren Übung dem Einzelnen die Möglichkeit gewährt, seine Persönlichkeit (ganz ebenso wie es z.B. die Disziplin bei einem Streckenwärter tut) zu kräftigen, zu entwickeln, zu erhöhen. Und das ist ihr Hauptwert.

Und das ist der Hauptwert aller historisch gegebenen Berufe. Sie sind vor allem Kunstgriffe – um der Kultur der Persönlichkeit willen. Es könnten auch andere sein, und es werden sich auch vermutlich mit zahllosen Planeten noch zahllose andere finden. Die Gesamtheit dieser Kunstgriffe und ihrer Benutzung nennt man dann die Geschichte des Planeten.
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Eines bleibt keinem Philosophen erspart: Das Offene-Türen-Einrennen. Dreiviertel seiner Kraft geht darauf flöten.
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Von letzten Dingen kann man nicht immer gemein-verständlich reden. Genug, fürs erste, daß man sich selber verstand. (›Ich und Mich, der Freund ist immer erst der – Dritte.‹)
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Ich möchte bisweilen eine Erkenntnis in Form einer mathematischen Figur geben, z.B. die Anschauung Gottes in Form einer Kugel, aus einem Mittelpunkt strahlend.

1909
Es gibt keine Wahrheit an sich. An sich ist einer der größten Materialismen der Epoche.
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Man fragt sich oft: wie ist es möglich, daß dieser große Intellekt dies und jenes nicht gesehen oder seines Blicks nicht gewürdigt haben sollte. Aber ebenso übersehen vielleicht unsere Zeitgenossen Dinge, von denen wieder spätere nicht begreifen werden, daß sie für uns offenbar völlig im Schatten lagen. Man darf wohl sagen, jeder Blick vorwärts ist zugleich ein Nichtbeachten dessen, was zur Seite liegt. Der Geist gleicht einer Granate, deren Gebiet das vertikale Segment zwischen dem Punkt ihres Ausflugs und dem ihres endlichen Aufschlags ist.
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Frage die Philosophie sich erst einmal: ›wo bin ich hergekommen?‹
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Alle Geheimnisse liegen in vollkommener Offenheit vor uns. Nur wir stufen uns gegen sie ab, vom Stein bis zum Seher. Es gibt kein Geheimnis an sich, es gibt nur Uneingeweihte aller Grade.
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Ein vorläufiger kritischer Gedankenstrich: daß man über ein gewisses Maß hinaus nicht wissen könne, verwandelt sich unvermerkt in das Postulat, niemand habe außer den ›nun einmal festgestellten‹ Grenzen etwas zu suchen. Man fühlt sich vor solchem Doktrinarismus an das Gebahren kleiner Kaufleute erinnert, die von einer Ware, die sie nicht führen, erklären, es gäbe diese Ware überhaupt nicht.

1910
Du siehst in etwa 100 Meter Entfernung einen Mann Holz spalten. Das auf den Hackblock geschmetterte Scheit sinkt bereits nach links und nach rechts auseinander – da erreicht dich erst der Schall. So mögen wir die Welt ein halbes Leben lang betrachten, bis wir das Wort vernehmen, das zu ihr gehört, die Seele, die von ihr redet.
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Niemand wird die Welt verstehen, der sie von heut auf morgen verstehen zu müssen glaubt, der sich über die augenblickliche Konfiguration der Erde nicht so hinwegzusetzen vermag, daß ihm heut und morgen zu Unwesentlichkeiten werden. Niemand wird die Götter und ihre Werke verstehen, vor dem tausend Jahre nicht wie ein Tag sein können und wie eine Nachtwache.
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Man muß aufhören können zu fragen, im Täglichen wie im Ewigen.
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Weder ›ich‹ bin, noch jener ›Baum‹ ist, sondern ein Drittes, nur unsere Vermählung, ist.

1911
Über jedem Gedanken, jeder Vorstellung liegen hundert Gedanken und Vorstellungen, die uns das jeweils Gedachte, jeweils Vorgestellte verhüllt.
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Es gibt kurz- und weitsichtige Idealisten. Jene pflegen sich mit Stolz Realisten und den anderen Teil schlechtweg Idealisten zu nennen.

1912
Die Rhetorik ist die Politik in der Philosophie. Der wirkliche Philosoph ist nicht Politiker, sondern Künstler. Er ›redet‹ nicht, er bildet, baut.
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Der Systematiker nötigt mich, ihm seinen Weltbau nachzudenken. Er sagt: Baue mir meine Gedankengebäude nach – und mit ihm bauend werde ich selbst zum Gedankenbaumeister. Er wendet sich an das reine Denken in mir, an den Geist.

Der Nichtsystematiker wendet sich mehr an die – Seele. Hegel. Nietzsche.
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Wer bei einem Denker vor allem fragt, aus welchem persönlichen Grunde hat er das gesagt, – fügt sich selbst den größten Schaden zu; denn er geht am einzig Wesentlichen in dessen Sätzen vorüber, daran nämlich, ob sie wahr in sich selbst sind oder doch sein können, oder nicht. Gewiß ist jede Philosophie von der Persönlichkeit ihres Erzeugers gefärbt und darf dementsprechend empfunden und gewürdigt werden; aber über alledem steht ihr Gehalt an Wahrheit, der nachgeprüft und entschieden werden kann, ohne Ansehen der Person ihres Urhebers.
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Was wird einem geistigen Wanderer nicht alles angesonnen, über Kopf, Hals und Schulter gesonnen! Wieviel Mühe gibt man sich nicht, ihn und das Seinige abzuleiten! Als ob ein geistiger Weg nicht aus sich selbst verstanden werden könnte, müßte.
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In aller Wahrheit steckt heute notwendigerweise bereits ein Teil Binsenwahrheit, aus dem einfachen Grunde, weil der Mensch schon lange denkt, während die Menschen erst zu denken anfangen, also das ganze Pensum des Menschen noch einmal zu rekapitulieren und, noch mehr, zu popularisieren ist. Der Mensch ist nicht so von Gott verlassen, wie die Menschen glauben, aber auch nicht immer in dem ausnehmenden Grade von Gott erfüllt, wie sie annehmen, wenn einer einmal etwas Unerwartetes sagt.
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Die Mission der Wahrheit ist, den Menschen in Geist aufzulösen, wie, materialistisch gesprochen, die Mission der Zeit, den Erdball in Luft.
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Mancher wird die ihm so bequeme Joppe des Materialismus mit nichts vertauschen wollen; es geht ihm, wie er sagt, ›der Sinn für Feierlichkeit‹ ab.
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Abstrakte Gedanken sind zuletzt auch nichts als – konkrete Wesenheiten; es ist ganz umsonst, das Leben aus dem Leben heraustreiben zu wollen.
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Zu Ende denken ist alles ... Da wäre das erste, diesen Satz zu Ende zu denken. Will man ihn zu Ende denken, so darf man ihn nicht ›zu Ende‹ denken wollen. Denn alles Ende endet alles, also auch das Denken. Alles, also auch alles Denken, endet in Gott. Gott ist, wie der Anfang, so das Ende von allem. Etwas zu Ende denken wollen heißt also, es bis zu Gott hinaus denken wollen; Gott aber hat mit Denken nichts mehr zu schaffen.
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Wie dereinst die sancta simplicitas des Glaubens, so schleppt heute die sancta simplicitas der Wissenschaft ihre Scheiter herbei, den ›Ketzer‹ zu verbrennen.

1913
Die Weltanschauungen mancher Menschen gleichen lächelnden Festungen.
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Wenn einer heute in zehn Büchern dargetan, daß der Mensch nichts wissen könne über Gott und die Welt, dann nennt er sich, dann nennt ihn seine Mitwelt einen › Wissenden‹ und erbringt damit den Beweis, daß man zehn Bücher schreiben und zehn Bücher lesen und doch noch nicht so weit sein kann, sich folgerichtig auszudrücken.
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Wer die Welt zu sehr liebt, kommt nicht dazu, über sie nachzudenken; wer sie zu wenig liebt, kann nicht gründlich genug über sie denken.
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Inmitten unzähligem Hin- und Herreden der Einzelnen wächst still und groß das ewige Weisheitsgut der Menschen weiter.


In Christian Morgenstern: Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen. Sortiert von Margareta Morgenstern, 1917.


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