Erik Spinoy: Das Stockholm-Syndrom alter Haustiere
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Ulrich Koch - Foto:
Amrei Marie
Erik Spinoy -
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Erik
Spinoy
Das
Stockholm-Syndrom alter Haustiere
Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek
Zum Einstieg eine kurze Geschichte: Ende 2016 hatte ich im Übersetzer-Kollegium in Straelen eine
Begegnung – ein poetisches Blind date
– mit dem deutschen Dichter Ulrich Koch. Diese wurde unter anderem durch
Flanders Literature (damals noch Flämische Stiftung für Literatur) ermöglicht.
Wir wollten das Werk des jeweils anderen kennenlernen und übersetzen. Die
Ergebnisse dieser Zusammenarbeit sollten in einer noch zu gründenden
Deutsch-Niederländisch-Flämischen Zeitschrift publiziert werden; diese bekam
schließlich den Namen Trimaran. Ich
blickte dieser Herausforderung mit der notwendigen Skepsis entgegen. Denn
Poesie reist ja nur mühselig zwischen Ländern, Sprachen und Kulturen. Poesie
aus „anderen“ Literaturen zu lesen geht häufig mit der frustrierenden Erfahrung
einher, eine Vielzahl von Signalen zu erhalten, mit denen man wenig anfangen
kann, weil man die Codierungen nicht kennt, die man braucht, um die Texte zu
verstehen. Meine wiederholten Versuche, um – beispielsweise – Apollinaire zu
lesen, habe ich aus diesen Gründen jedes Mal recht schnell wieder aufgegeben:
Ein großer Dichter, kein Zweifel, aber was für ein kompliziertes Französisch
und dann noch all diese sous-entendus, die
so viel Wissen über einen undurchdringlichen literarisch-kulturellen und
historischen Kontext voraussetzen.
Zum Glück gibt es Ausnahmen. Gepanzert mit Skepsis näherte
ich mich also der Poesie von Ulrich Koch – und sie hat mich gleich voll
erwischt. Was für ein Dichter. Zwar wird mir auch in seinen Texten das ein oder
andere entgehen, was ein literarisch gebildeter deutschsprachiger Native
speaker wahrscheinlich bemerken würde, nur erweist sich das in diesem Fall
nicht als unüberwindliches Hindernis.
Koch wohnt in einem Fleckchen in der Nähe der Lüneburger
Heide. Von dort fährt er mehrmals in der Woche nach Hamburg, wo er als
Geschäftsführer einer Zeitarbeitsfirma für Pflegekräfte arbeitet. Auf seinen
Wegen zwischen Stadt und Dorf, die er mit Bus und Zug zurücklegt, beobachtet
und grübelt er, macht Notizen, schreibt Gedichte. Er nennt sich selbst ganz
bescheiden einen Sammler von Realien, und das ist noch nicht einmal falsch. Es
geht aber um Realien mit einem Mehrwert: In ihrer unabweislichen Konkretheit
fesseln sie nicht nur den Leser, sondern rufen dabei auch sehr prägnante
Gefühle und Assoziationen hervor. Außerdem verwendet Koch sie regelmäßig in
überraschenden Kombinationen, was verblüffende Effekte zur Folge hat.
Um zu verdeutlichen, wie das konkret passiert, gehe ich
näher auf ein Beispiel aus Selbst in hoher Auflösung (2017) ein, dem
jüngsten Gedichtband von Koch.
WIE ER LIEBTWie das Kälteparadox der Bäume,wenn sie sich ausziehen im Herbst.Wie der Blütenteppich aus Schwimmwestennach dem UntergangEnde Juni.
Wie es die Motten bei Einsetzen der Dämmerungzu den Straßenlampen zieht,lange Fühler der Toten für Licht,sie halten sie für ihresgleichen.
Wie eine Meerenge.Wie Engel, so rein,raus.Wie Perlen weinen.Wie das Stockholm-Syndromalter Haustiere.
In meiner Übersetzung lautet das Gedicht:
HOE HIJ LIEFHEEFT
Zoals de koudeparadox van de bomenals ze hun kleren uitdoen in de herfst.Zoals het bloementapijt van zwemvestenna de ondergangeind juni.Zoals de motten bij de eerste schemeringzwermen om de straatlantaarns,lange voelhoorns van de doden voor het licht,ze houden ze voor huns gelijke.
Zoals een zee-engte.Zoals engelen, zo zuiverzuiver zuiver.Zoals parels huilen.Zoals het stockholmsyndroomvan oude huisdieren.
Der
Titel des Gedicht verspricht, zu präzisieren, wie ein uns unbekannter „er“ (der
Dichter selbst?) liebt. Das Gedicht hält das Versprechen, indem dieses Lieben
in sieben mit „Wie“ beginnenden Strophen mit ebenso vielen divergierenden – nun
ja – Realien verbunden wird. Die Art dieser Verbindungen ist gleichermaßen
unerwartet wie offenbarend.
Die
erste Strophe assoziiert „sein“ Lieben mit den Bäumen im Herbst, ein
konventionelles Bild, das sowohl Wehmut als auch Verletzlichkeit aufruft. Koch
gelingt es aber, dieses Bild gleich zweimal neu zu prägen. Die Bäume werden
zunächst vermenschlicht, wenn er das Fallen der Blätter damit vergleicht, sich
auszuziehen. Das ist keine spektakulär neue Metapher, aber eine, die berührt:
Wer seine Kleider auszieht, steht – buchstäblich, aber auch bildlich – nackt
da. Der Striptease der Bäume ist aber vollkommen frei von jeglicher Erotik: Er
evoziert zunehmende Wehrlosigkeit, eine symbolische Destruktion: Wer seine
Kleidung verliert (eine Uniform, einen Maßanzug, des Kaisers Kleider …),
verliert meist auch seine symbolische Identität und wird auf einen Klumpen
sterblichen Fleischs reduziert, der wir letztlich alle sind. Außerdem ruft die
evozierte Vorstellung sich entkleidender Figuren eine bestürzende Flut
kultureller und historischer Assoziationen auf, von Franz von Assisi bis zu den
Opfern der Shoa.
Der
eigentliche Fund der ersten Strophe ist aber das bemerkenswerte „Kälteparadox“,
ein wissenschaftlicher Fachbegriff, ein Phänomen, das bei heftiger Unterkühlung
vorkommt. Wenn die Körpertemperatur bei erfrierenden Menschen unter 32 Grad
sinkt, wird ihnen merkwür-digerweise oft warm, und sie beginnen sogar zu
schwitzen. Das führt schließlich dazu, dass sie ihre Kleidung ausziehen
möchten. Nur schnelle Hilfe von außen kann sie dann noch retten. Auch Bäume
praktizieren dieses paradoxical undressing: Es wird kälter, aber sie
entledigen sich verrückterweise ihrer Kleidung. Sie können sich selbst nicht
mehr anders (be)helfen, agieren gegen ihre eigenen Bedürfnisse, brauchen
dringend Hilfe. Bringt uns die Liebe in einen vergleichbaren Zustand? Dann ist die
Liebe gefährlich, bedroht wenigstens unsere Autonomie und Eigenständigkeit –
und vielleicht unser nacktes Leben. Bei genauer Lektüre entstehen assoziative
Zusammenhänge zwischen Kälte, Wehrlosigkeit, Bedrohung, Verlust usw.
Der Rest des Gedichts arbeitet mit
demselben Modus operandi, der zu ähnlichen, mitunter bestürzenden Ergebnissen
führt. In der zweiten Strophe wird das Lieben mit einem „Blütenteppich“
verglichen – ein auf den ersten Blick kitschiges Bild, das jedoch mit kräftigen
Widerhaken in uns hängen bleibt, denn es stellt sich als ein Blütenteppich
„aus Schwimmwesten / nach dem Untergang“ heraus. Das verweist eindeutig auf das
Ertrinken so vieler Flüchtlinge im Mittelmeer. Aus dieser Engführung zweier
Realien entsteht ein radikal provozierendes Bild, das dem Leser seine
Illusionen sowohl über die Liebe als auch über den Zustand der Menschheit nimmt.
Wie dieses Gedicht die Liebe jenseits der Idylle verortet, so reißt es der
Wirklichkeit die Maske der ungetrübten Schönheit herunter. Die bunte Schönheit
des Blütenteppichs erweist sich (um Rilke zu paraphrasieren) als des
Schrecklichen Anfang. In unserer postmodernen Welt ist die Liebe ein Risiko,
Schönheit vergiftet und die Weltordnung eine Dystopie. Das lyrische Ich
verfällt nicht in ein Lamento, es beschreibt die Dinge auch nicht direkt in
abstrakten Worten, sondern macht sie in ansprechenden und suggestiven Bildern
erlebbar, geformt aus der Modelliermasse seiner Realien.
Desillusionierend ist auch die
fünfte Strophe, in der die Liebe zunächst durch die „rein[en]“ Engel idealisiert
zu werden scheint. In der deutschen Fassung klingt das so: „Wie
Engel, so rein, / raus.“ Das „rein“ gehört bei genauerer Lektüre also plötzlich
zu „raus“ und wird damit Bestandteil eines vulgären Ausdrucks für das
Liebesspiel. Naheliegend ist der intertextuelle Verweis auf den (selbstverständlich
dystopischen) Roman bzw. Film A Clockwork Orange (Anthony Burgess/ Stanley Kubrick), in dem die psychopathische
Hauptfigur über ‘the old in-out in-out’ spricht. Auch die mit der Liebe assoziierten,
gepriesenen Engel werden sozusagen mit Dreck beworfen und erweisen sich genau
wie die Wirklichkeit im Allgemeinen (um Rilke ein zweites Mal gegen sich selbst
zu wenden) bei näherer Betrachtung als schrecklich.
Und dann ist da
noch die unglaubliche Schlussstrophe, in der nach dem Kälteparadox aus der
ersten Strophe jetzt auch das Stockholsyndrom auftaucht. Abermals nimmt sie
Bezug auf ein irrationales und selbstzerstörerisches Verhalten, hier also auf
das Phänomen, dass Geiseln eine enge Bindung zu ihren Geiselnehmern aufbauen. Dieses
Verhalten wird im Gedicht „alte[n] Haustiere[n]“ zugeschrieben, wodurch eine
erschütternde Perspektive entsteht: Hinter dem Klischee der treuen
Zugehörigkeit von Haustieren zu ihren Herrchen zieht plötzlich das Bild der
brutalen Unterdrückung und der lebenslangen Freiheitsberaubung auf, der die
Tiere machtlos gegenüberstehen, bis sie irgendwann alt sind. Liebe ist in
dieser Perspektive nichts anderes als ein Krankheitssymptom – ein „Syndrom“.
Diese unter die
Haut gehende Ernüchterung und Desillusionierung ist alles andere als heiter –
und doch ist „Wie er liebt“ kein deprimierendes Gedicht. In gewisser Weise
besitzt es sogar eine aufmunternde, ermutigende Seite. Wie ist das möglich? Es
tröstet bereits, dass der Text die traumatischen Auswirkungen der angeführten
Realien bezeugt, und zwar in (häufig vollkommen unerwarteten) Kombinationen mit
anderen Realien, mit denen Gefühle und Bedeutungen verknüpft sind. Das schafft
einen großen Wiedererkennungswert und erzeugt – durchaus paradox – eine stille
Verbundenheit, einen sensus communis,
Sympathie zwischen Dichter, Text und Leser.
Darauf beschränkt
sich das Gedicht aber nicht. Gewiss, die Liebe ist also eine Lüge, die Welt ein
scary place, das Leben ein andauernder
sanfter und mitunter großer Schrecken. Diese Poesie kapituliert jedoch nicht
vor dem Schrecken der Welt: Sie schaut ihm geradewegs ins Gesicht und spricht
ihn in beherrschten, eleganten und angemessenen Versen, in denen jedes einzelne
Wort unverrückbar an seinem Platz steht. Ohne Umschweife geht die Poesie von
Ulrich Koch die Konfrontation mit jener Angst an, die zur Existenz gehört, und
ja, sie ringt mit ihr – erweist sich aber als stärker: luctor et emergo. „Wie er liebt“ erkämpft auf dem Terrain der
Menschlichkeit ein Sinnbild der Souveränität. Eine ermutigende Erfahrung: Diejenige,
dass wir als pathetische und verletzliche Geschöpfe diese ungeahnte Kraft und
Würde in uns tragen.
Erik Spinoy (1960) ist Dichter, Essayist und Professor für niederländische Literatur und Kulturtheorie an der Universität von Lüttich. Seit seinem Debüt De jagers in de sneeuw / Die Jäger im Schnee (Manteau 1986) publizierte er acht Gedichtbände. Die letzten sind Dode kamer / Toter Raum (De Bezige Bij Antwerpen 2011, Jan-Campert-Preis) und Nu is al te laat / Jetzt ist es schon zu spät (De Bezige Bij 2015). 2017 erschien die Poetikvorlesung Geen delicatessen. De waarheid van de poëzie / Keine Delikatessen. Die Wahrheit der Poesie (Poëziecentrum). Als Literaturwissenschaftler publizierte er vor allem über beliebte niederländischsprachige Dichter wie Paul van Ostaijen, Hugo Claus und Hans Faverey.
Trimaran. Lyrikmagazin für Deutschland,
Flandern und die Niederlande (# 1/2019) ist ein zwei-sprachiges Projekt der
Kunststiftung NRW, von Flanders Literature und der Niederländischen Literaturstiftung
und erscheint im Lilienfeld Verlag, Düsseldorf.
https://lilienfeld-verlag.de/buecher/trimaran/
Der Beitrag
erschien unter dem Titel „Het stockholmsyndroom van oude huisdieren“ in der Poëziekrant 6 (2019) 43 Jg.