Direkt zum Seiteninhalt

Erec Schumacher: Innenhoftherapie

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Kristian Kühn

Erec Schumacher: Innenhoftherapie. Berlin (Kafka Verlag bei Etcetera Press Berlin) 2020. 46 S. 5,00 Euro plus 1,00 Euro Versand.

Metamorphose in der Gischt


„ich schreibe, um nicht weinend im bett zu liegen.
ich schreibe, weil es wie das leben auf der straße ist.“

Erec Schumacher lebt als Künstler, Schriftsteller und Projektmanager in Berlin. Die Beiwörter, mit denen er sich für diese Rollen bezeichnet, sind Veganer, Antikapitalist und Zen-Sympathisant („Du bist die Summe deiner Atemzüge“). Seine Gedichte, Notate und Collagen erscheinen seit Jahren in Zeitschriften und Anthologien, unter anderem auch in den Signaturen. Seit etwas mehr als einem Jahr, also mit der Pandemie, produziert Schumacher allerdings auch – fast nun im Eiltempo – eine eigene Chapbook-Reihe, in der bereits 16 kleine Werke entstanden sind, welche poetologisch zum Teil sehr unterschiedliche Ansätze haben. Geplant ist, innerhalb von zwei Jahren 48 schmale Fibeln, mit je um die 40 Seiten, herauszubringen, im zweiwöchigen Turnus. Das Gemeinsame dieser vorgelegten Ansätze ist das Hybride, sowohl im Anspruch als auch in der Formgebung. Lyrik, Kurzprosa, Collagen, Fotos sollen als Dokumentation, als Feldforschung in diese Produktion einmünden, wie Stammbäume mit Verästelungen in sie zusammenfließen.

Die ursprüngliche Bedeutung eines Chapbooks als Volksbuch ist also hier subjektiv und umgestülpt, eine DOITYOUR-SELF-Praxis als Desktop Publishing, „die gleichzeitig aber auch künstlerischen Ansprüchen genügen“ soll, jenseits des etablierten Buchmarkts – in Variationen, „Brandungszonen“, wie er sie nennt, dessen, was in ihm zwischen Befindlichkeit, Wahrnehmung und poetischer wie spiritueller Praxis rumort. Schumacher sieht darin einen Brückenschlag zwischen spontaner Idee und konzeptionellem Ansatz. Als „Modus der Selbstbefreiung“ in Zeiten von Krise und Erschwernis.

Chapbook 6 zum Beispiel „wellenbrecher-november“ beinhaltet 120 Lockdown-Plakate und ein knappes Nachwort: „trump ist abgewählt, mit dem wissen, dass die zweite welle härter wird. wir verlieren den überblick, bleiben aber wachsam und behalten die mutationen im blick.“

Von Chapbook 7, den „zen/terr/itorien“, haben wir das letzte Jahr sechs Collagen gebracht.

Gerade herausgekommen ist Chapbook 16 – die entfesselung der unermesslichkeit („Im Kopf die Unermesslichkeit des Sicht- und Unsichtbaren, ihr Materialbestand, der von Unendlichkeit zu Unendlichkeit flutet“).

Hier nun soll der Ausgangspunkt, das Chapbook 1, im Vordergrund stehen, die Innenhoftherapie, mit kleinen Notaten und verstreuten Polaroids, das Ganze im Format A6 – quer. Schumacher sieht darin so eine Art Kino der moralischen Narben.

„ach, jetzt blende ich mich aus.“
(im kino der moralischen narben)

„wer hat uns das beigebracht mit dem unglücklichseinwollen?“
(erzähl mir eine bessere geschichte)
  
Schumacher sieht sich als freies Radikal, wäre gern so reaktionsschnell, zum Beispiel in der „beseitigung negativer ausdrücke.“ (feldversuche). Will keine Nebenrolle spielen, sondern „ganz trennungswolke“ werden (deutschland ist kaputt, und mir geht es blendend),

„als sei diese kurzprosa ein fenster zur welt. als sei darin etwas von der welt zu sehen: salzkristalle, deine halsschlagader oder auberginen.“
(ich will mich nicht verteufeln)

Bisweilen greift er in seinen Gedankenketten zu gewagten Genetivmetaphern, zu hybriden Formen kreativen Denkens:

„in der temporären lichtung der symptome schildere ich dir schlingerkurse.“
(freigänger)

„nacht für nacht schabe ich schreibmaterial von der seidenstraße.“
„erhalte galgenfristen von einem zentrum für osteopathisches schreiben.“
(rechtschreibekorrektururlaub)
    
Die Beschreibung seiner Befindlichkeiten, seine Geistesblitze und automatischen Wahrnehmungs-ketten sind aber keineswegs immer hochgeschraubt. Schumacher zeigt durchaus auch Sinn für Humor:

„die gesamtzahl der schwarzen löcher ist wieder gestiegen.“ (feldversuche)

„es fehlt nicht viel und wir nähen unsere zungen zusammen.“ (transmediale)

„ich schreibe, um im licht der entwerdung zu erblühen.“
(ich schreibe in der ankleide des lichts)

Dieses Schreiben, um einen Lichtkörper zu erzeugen und diesen sich überzustreifen, was eine „Entwerdung“ voraussetzt, geschieht in

„absprache und richtschnur der stille.“
(ich schreibe in der ankleide des lichts)

Zen, das ist für Schumacher nicht nur Übung und Achtsamkeit, sondern auch der Versuch, sich in der „Gischt“ chaotischer Ereignisse zu wandeln, zu fokussieren, die Pandemie und ihre Entgrenzungen zur eigenen Metamorphose zu nutzen.

„ich schwor mir, am dreißigsten geburtstag keine knochen mehr zu haben. ich schwor mir, allen menschen und tieren zu sagen, wie unglaublich sie seien, schwor mir, sie alle zu retten. Ich schwor mir, meinen vater vom alkoholismus zu befreien. Ich werde dafür bezahlen, sagte ich mir, in allen graustufen. mein dreißigster geburtstag liegt weit zurück. der spuk scort im allzeithoch, in scherben seht ihr mein ego, und mein vater ist tot.
(halte durch)


Zurück zum Seiteninhalt