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Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod

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Jörg Neugebauer

Wiederbelebungsversuche


Zu Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz



Sein Leben lang wollte er es schreiben, nun - zwanzig Jahre nach seinem eigenen Tod - ist es da: Das Buch gegen den Tod von Elias Canetti. Es ist schwerlich das geworden, was er einst im Sinn gehabt hat. Die Herausgeber haben aus seinen bereits publizierten Aufzeichnungen und noch mehr Unveröffentlichtem aus dem Nachlass eine weitgehend chronologisch geordnete Folge von Notizen zu einem Buch gemacht. Über fünfzig Jahre - von 1942 bis zu seinem Sterbejahr 1994 - werden so "abgearbeitet" - fünfzig Jahre Welt- und persönliche Geschichte fokussiert auf ein Thema, alles andere erscheint bloß als "Drumherum". Insofern macht das Buch den Eindruck einer leicht willkürlichen Materialsammlung, aus der erst noch etwas Gestaltetes werden könnte.

Canetti sah sich als den Todfeind schlechthin, empfand ihn, den Tod (ohne sich indes je genauere Gedanken zu machen, was darunter eigentlich zu verstehen sei) als große Ungerechtigkeit, verweigerte ihm seine Anerkennung und wollte ihn von der Menschheit "geächtet" wissen. Dabei gelingen ihm neben einer Fülle von Banalitäten und etwas schrägen Witzen nicht wenige äußerst lesenswerte Passagen. Man könnte sagen: Immer wenn es dem "Dichter" (er gebraucht dieses Wort allzu häufig, fast wahllos, wenn auch keineswegs nur in Bezug auf sich selbst) Elias Canetti vergönnt ist, seinen blinden Hass auf das Faktum der Endlichkeit menschlichen Daseins mal außer acht zu lassen, entsteht tatsächlich so etwas wie Poesie. Sich theoretisch, argumentativ auf das Thema einzulassen, ist nicht seine Sache: "Ich lese, was die unterschiedlichsten Philosophen über den Tod gesagt haben und schäme mich für sie" (S. 148). Damit lässt er es, was die geistige Auseinandersetzung betrifft, auch weithin bewenden.

Für Canetti besteht eine enge Verknüpfung zwischen der Tatsache, dass alle Menschen sterben müssen und ihrem Zu-Tode-Bringen durch politische und sonstige Machthaber. Gäbe es keinen Tod, hätten Leute wie Saddam Hussein, den er mehrfach in diesem Zusammenhang anführt, nichts in der Hand. So formuliert, mag das kindisch klingen, oder auch primitiv, wie Canetti seine eigene Haltung selbst öfters nennt. Es schimmert aber ein Leiden durch, ein nicht zu stillender Schmerz darüber, dass Menschen, die im Besitz der Macht sind, dieses Mittel - zumindest als Drohung - einsetzen können, um ihre Macht zu erhalten. Dann wäre jedoch nicht der Tod, sondern die Macht das zu Bekämpfende. Und der Kampf dürfte sich nicht weitgehend in Tiraden erschöpfen.

Canetti war vom Tod auf eine sehr vordergründig anmutende Weise fasziniert.

Er merkt das selbst hin und wieder, spricht dann von sich in der zweiten oder dritten Person oder beschließt feierlich - aber nur für kurze Zeit - auch der Gegenpartei Gelegenheit zum Vortrag ihrer Argumente zu geben. Das ändert sich erst ganz am Schluss, als er in Zürich auf dem Friedhof seine Grabstelle aussucht. Zwar ist er auch dann noch nicht mit allem ausgesöhnt und stört sich etwa an der räumlichen Nähe zu den Gebeinen des von ihm ungeliebten James Joyce, aber er läßt nun doch sein ewiges monologisches Wettern und Stöhnen.

Zum ersten Mal erscheint er als möglicher Gesprächspartner, als jemand, der zu einem Dialog fähig und dazu bereit ist. Die vielen Seiten zuvor veranschaulichen eher, weshalb Don Quijote für Canetti die größte Figur ist, die der europäische Geist hervorgebracht hat. Immer wieder preist er auch Musil und Goethe, während Hölderlin nur einmal als Name auftaucht und Kleist aufgrund seines Selbstmordes quasi automatisch aller literarischen Verdienste verlustig geht. Hegel und Nietzsche erregen nur seinen Abscheu, was ein Licht auf seine Denkstruktur wirft, soweit es dieses Thema betrifft: Für das in sich Unterschiedene, für die dynamische Selbstbewegung des Denkens, für die Möglichkeit, dass eine These nur aufgestellt wird, um die Gegenthese zu provozieren - für all das fehlt ihm, zumindest in diesem thematischen Kontext, offenbar jeder Sinn. Alles bleibt, bis ganz kurz vor Schluss, mumienhaft statisch.

Deshalb haben seine Notizen oft etwas Eindimensionales, sind reine Bekundungen, unartikulierten Aufschreien ähnlich. Vieles ließe sich gewiss mit Canettis "biografischem Hintergrund" erklären, doch für einen Autor seines Ranges, gar Nobelpreisträger, wäre es eine Beleidigung, hier nach so etwas wie "mildernden Umständen" zu suchen. In seinem Nachwort verweist Peter von Matt darauf, dass Canetti trotz oftmaligen Anlaufs nie der berühmte "erste Satz" gelang, der die Initialzündung hätte bringen sollen für eine gewiss geistreiche Abhandlung im Range von "Masse und Macht". Dass dieser erste Satz niemals kam, ist vielleicht doch ein Zeichen gewesen. Nicht alles, was einen Schriftsteller persönlich im Innersten umtreibt - und sei es sein Leben lang - hat deshalb schon das Zeug, zu einem literarisch bedeutsamen Werk zu werden. Auch der große Schriftsteller darf stammeln in Angelegenheiten, die ihm allzu nahe gehen, darf sogar unter das sinken, was als "sein Niveau" angesehen wird und seine Produkte käuflich und verkaufbar macht. Indes, wie gesagt, enthält das Buch nicht wenige sehr lesenswerte Passagen, von denen unten einige zitiert werden sollen. Als Ironie am Rande mag erscheinen, dass ausgerechnet der von Canetti ob seiner vermeintlichen Todesbejahung wenig geschätzte Thomas Bernhard in seinem Roman "Beton" von 1982 den Protagonisten an dem gleichen Problem des "ersten Satzes" leiden lässt, bezüglich einer lange geplanten Arbeit über Mendelssohn Bartholdy.

Canetti hat, unter anderem in seiner dreibändigen Autobiografie (Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr, Das Augenspiel), großartige Literatur verfasst. Hier, im Falle von Das Buch gegen den Tod, lohnt die Lektüre allein schon wegen der zahlreichen mit abgedruckten Zitate anderer Autoren, die Canetti sich notiert hat - auch und gerade solcher, denen er nicht zustimmt, wie z.B. Novalis. Freilich erwächst daraus jeweils kein Dialog, die Gegenposition bleibt meist unkommentiert. Fast scheint es, als habe eine Innere Instanz Canetti es untersagt, mit solchen Leuten, die so etwas schreiben, auch nur zu reden. Stattdessen Zurücksinken in Selbstbespiegelung und Grübelei. Dass es sehr wohl möglich ist, als Schriftsteller den Leser für die Todes-Problematik zu sensibilisieren, zeigt ein Zitat von Robert Walser, das Canetti sich herausgeschrieben hat:

"Es ging mit ihr ja doch zu Ende, und es muß mir niemand sagen wollen, daß Schlachtfelder und sonstige Schrecknisse schrecklicher und erschreckender seien als eines jeden beliebigen Menschen Ende. Enden an sich ist grausam, und jedes Menschenleben ist ein Heldenleben, und Sterben ist überall und bei welcher Gelegenheit es auch sei, gleich trostlos, grausam und traurig, und jeder Mensch hat sich auf das Ärmste und Schlimmste gefaßt zu machen, und jede Stube, wo ein Toter liegt, ist eine tragische Stube, und in keinem Menschenleben fehlte je die erhabene Tragödie."       

Robert Walser, Frau Scheer, S. 310 (zitiert bei Canetti auf S. 123)


Ihm selbst waren - selten genug - aber auch Momente vergönnt, in denen er wie erlöst schien vom Gewicht all seiner Toten, und dann entstand Wunderschönes wie dieser Eintrag vom 12. März 1983:      

Heute ist Hera fünfzig Jahre alt geworden.
Daß ich diesen Tag erlebt habe, versöhnt mich mit vielem.
Wir saßen zu dritt in der Sonne, an jenem Tisch, der die weitoffenen gelben Rosen trug und der uns vertraut geworden ist, seit er anders steht.
Es war ein ganz stiller Tag, das glückliche Lachen Johannas, das leuchtende Lächeln Heras, meine schweren Späße.
Es weiß niemand, was kommen wird, als Boten melden sich überall Schmerzen, bis jetzt sind sie wieder vergangen, vielleicht bleiben sie bald, vielleicht geht es zu Ende, aber dieser Tag ist gewesen. Ich bin mit meinen Geliebten gesessen, mit der Göttin und mit dem Kind, und wenn ich gehen muß, bleibt dieses Bild in meinen Augen.
(225)


Als völlig unerträglich müsste Canetti die heute medial allgegenwärtige Totalbanalisierung und hemmungslose Instrumentalisierung des Todes empfunden haben, wie sie sich in den ständigen "Tatorten" im Fernsehen zeigt sowie in der Erhebung von Totschlag-Autoren wie H. Mankell in den Rang von international beachteten Schriftstellern. Nicht der biologische Tod schlechthin ist zu bekämpfen, sondern seine Ausschlachtung durch die Unterhaltungsindustrie und ihre bedenkenlosen Zulieferer, die sich gern noch ein "sozialkritisches" Mäntelchen umhängen und dafür beklatscht werden. Insofern könnte aus Canettis zusammenhanglosen Notizen ein Impuls erwachsen, andere Texte und Filme entstehen zu lassen und zu verbreiten, solche, die den Tod nicht zum lösbaren "Kriminalfall" plattbügeln, sondern zeigen, wie er - auch im Bewußtsein der Menschen - zum irdischen Dasein gehören könnte, als Bereicherung allerdings, nicht als Feind.

Abschließend ein paar kleine Auszüge als Anregung zum Weiterlesen - gleich ob in Zustimmung oder Widerspruch:

Auf seinem toten Pferd reitet er weiter. (S. 253)

Wer über den Tod geistreiche Dinge sagen kann, wer das über sich bringt, der verdient ihn. (256)

Nach einem Leben voller Furcht gelang es ihm, ermordet zu werden. (186)

Wenn ich ganz aufrichtig zu mir wäre, müßte ich sagen, daß ich alles, wofür Joyce stand, zerstören möchte. (145)

Gedanken an Tote sind Wiederbelebungsversuche. (83)

Willst du auf die Veränderung der Toten in uns verzichten. In ihrer Verklärung erkennst du den Ursprung des Schönen. Was nicht mehr da sein kann, wird schön. Unerlangbarkeit ist Verklärung. Ein wunderbares Wort – wieviel muß abfallen, wieviel Belangloses und Verwirrendes fällt ab bis zur Verklärung. Die Herrlichkeit der Toten ist, daß sie dagewesen sind und erinnert werden. Willst du, kannst darauf verzichten? (148)

Jeder ist zum Hüter mehrerer Leben bestellt, und wehe ihm, wenn er die nicht findet, die er hüten muß. Weh ihm, wenn er die schlecht hütet, die er gefunden. (48)

Alle versäumten Leben. Alle die nicht geliebt wurden, Alle die nicht lieben konnten. Alle die kein Kind bewachen durften. Alle die nicht in den Ländern waren. Alle die die Vielfalt der Tiere nicht kannten. Alle die nie unter fremden Sprachen horchten. Alle die nicht über Gläubigkeiten staunten. Alle die sich nicht mit dem Tod herumschlugen. (...) Alle die sich nie arm schenkten. Alle die sich nie betrügen ließen, und alle, die es vergaßen, wie sehr sie betrogen wurden. Alle die ihrer Überheblichkeit nicht den Kopf abschlugen, alle die nicht aus Weisheit lächelten. Alle die nicht aus Großmut lachten. Alle versäumten Leben. (280)



Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München (Carl Hanser Verlag) 2014. 352 S., 24,90 Euro.

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