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Dominik Dombrowski: Fermaten

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Armin Steigenberger

Das dombrowskieske Paradies – Neues aus der Reihe mit „F“



Pünktlich zur Leipziger Messe hat die Dresdener edition AZUR mit Fermaten nun den dritten (und letzten?) Gedichtband von Dominik Dombrowski vorgelegt, – ein neuer Wurf in der Reihe mit „F“. Es macht so kurz nach Finissage und Fremdbestäubung fast den Eindruck: Je schneller seine Bände erscheinen, desto umfangreicher sind sie. Dabei darf man nicht vergessen: Der Autor hat einen großen Fundus an Texten, da er erst spät debütierte und schon als Jugendlicher schrieb. Als die Finissage erschien, war er fast 50. Er schöpft nun, so das Gefühl beim Lesen, aus dem Vollen. Gleich vorab: Die Gedichte haben mehr denn je einen gewissen spirit, den irgendwie darzustellen an sich schon sehr reizvoll ist. Ist es die unbeschreiblich anziehende Morbidität¹ oder die dunkelschwarze Schönheit² seiner Gedichte? Der spirit beginnt bereits beim Cover, das nachtblau und samtig wirkt und das den Charakter von D.D.s Gedichten einfängt: mit einem weißen abstrakten, ätherisch wirkenden Gebilde, deutbar als beschneiter Gipfel, als aufgeschichtetes und schon zu Asche gewordenes Feuerholz, als Engelsflügel oder sogar als gefaltete Hände. Aus dem Gedicht Freskenreste:

Ernüchtert fühle ich mich eingemauert Hals / über Kopf hochgestapelt
mit wem auch immer wie eins
der Bilder in der Abendzeitung wo abgeblitzt
körnig die Gehetzten mit schwarzweißen Wundmalen
auf ihren papiernen
Gesichtern eingefroren in der Schmerzgebärde harren / druckfrisch
über den Scheiteln
blonder Pin-ups als Fresko unter dem aufgerissenen Mund
eines Boxers im Mond / alles auf meinem Küchentisch
ist jetzt ein Menetekel (...)


Fermaten als Symbole der Notenschrift kenne ich seit meiner Kindheit aus dem klassischen Gitarrenunterricht. Doch nie hätte ich geahnt, dass sich in diesem Wort faktisch eine metaphysische Dimension verbirgt. Eine Fermate ist zunächst eine „verlängerte“ Note, eine Dehnung, Ausweitung – und es steht dem Interpreten oder dem Dirigenten zu, sie solange zu halten, wie es beliebt, maximal bis zur doppelten Notenlänge – irgendwann muss freilich Schluss sein³.


Aus dem Gedichtzyklus Lukianische Fiktion:

[Fund]
Zwingendes Gesetz ist dass der Mensch nackt davongeht
Haus & Acker & Geld
jedoch immer wieder anderen gehören
kommt Staunen auf
was da alles in diesem Lukian steht
gefischt aus dem Altpapier
für etwa dreißig Minuten kann der Text betören
für eine halbe Stunde
während die Maschinen ruhen fühlen sie sich wie vom Pferd
gefallen

(…)


Kennt man die beiden Vorgängerbände, so nimmt sich dieser Band zuallererst sehr prosanah aus. Narration und Bildhaftigkeit halten sich die Waage, schrieb schon 2013 Jan Kuhlbrodt zur Finissage. Dombrowskis Gedichte sind unterschiedlich lang, kurze Gedichte sind dabei eher die Ausnahme, was von ihrem narrativen Duktus herrührt, der für die außergewöhnliche Variationsbreite der Verse sorgt, die teils die Zeilenlänge sprengen oder sehr lakonisch teils nur aus ein bis zwei Worten bestehen – ganz charakteristisch mit den „typischen“ Schrägstrichen versehen, die weitere Interruptionen und Fermaten implizieren. Und es finden sich im neuen Band mehr Gedichte denn je, darunter auch mehrere Zyklen, was für Dombrowski überraschend ist; wo Finissage schon aufgrund des parasitenpresse-Formats naturgemäß sehr schmal ausfiel, rein quantitativ, und Fremdbestäubung als Band der Nummernlosen Reihe im selben Verlag etwa um die Hälfte dicker war, sind nun die Fermaten in der edition AZUR im Vergleich ein richtiger „Lyrikziegel
“ – aber eben nicht nur verdichtete Lyrik sondern auch prosanahe (wie auf der Website der edition AZUR ebenfalls zu lesen ist:) „Storys“ finden sich in einem Band zusammen, was ich so lese, dass innerhalb der Gedichte diverse Narrationen auftreten. Wobei der Dichter im Interview kühn seine Kurzgeschichten als Gedichte bezeichnete und so lässt sich das auch umgekehrt an.

Dombrowskis Texte haben seit eh und je einen Hang zum Narrativen, und so ist es auch gleich das erste Langgedicht, das mir anhand seiner originellen, humorvollen Einfälle, die zugleich sozialkritisch sind, so manche „Epiphanie“ bereitet. Diesmal, das Gefühl hatte ich beim Lesen, klappt Dominik Dombrowski (s)ein ganzes Panoptikum auseinander: ein vielfältiges Themenrepertoire. Der Einstieg passiert mit Texten aus der Kindheitsperspektive. Immer wieder ist Vor dem Jungsein Thema. Ich denke wie erwachsen / ich als Kind noch war ist der Topos, mit dem auch gleich der allererste Text der Auswahl einsteigt und der sich im Gedichtband einige Male wiederholt: die frühen Jahre der Reifung, als das Kind zum Jugendlichen wurde. Im ersten Gedicht mit dem Titel Fernhin wird gezeigt, was alles gleichzeitig da ist, wie das Junge und das Alte parallel passiert, wie auch die Katze ein mystisches Wesen der Verortung ist, was sie in ihren Augen trägt. Das erwachsene lyrische Ich wähnt sich schon in der eigenen Meerestiefe angekommen, während das kindliche Ich mit all seiner (behaupteten) Weisheit und Ernsthaftigkeit aus dieser Warte auch wirklichkeitsfremd erscheint. Das eigentlich Absurde an dem Gedicht ist, dass das erwachsene lyrische Ich ein Leben im Inneren eines (gestrandeten?) Blauwals, zusammen mit seiner Katze und seiner Nixe, die im Tabakrauch einschläft, als heutige Realität definiert.

Fermaten sind ein weites Feld; spontane Assoziationen reichen von der Spiel- oder auch Lebensverlängerung über das Hinauszögern von etwas Begehrtem
im Sinne von langsam und in aller Ruhe Auskosten ad libitum („Genieß das Gute immer zuletzt!“) bis hin zur luststeigernden Verzögerung des Liebesspiels. Eine Verzögerung oder Verlängerung bedeutet immer auch ein Innehalten, neudeutsch „Entschleunigung“: eine kurze Pause, sprich ein „Haltezeichen“, bevor es weitergeht – wohin eigentlich? Gebietet etwas Einhalt? Eine Verlangsamung also, „zum Zweck“ des Auskostens? Oder ein letztes Aufatmen ritenente vor dem irreversiblen Schlusspunkt? So gesehen wäre der Tod weniger ein Endpunkt als ein apostrophierter Höhepunkt des Lebens. Die Tragweite der Fermate im übertragenen Sinne ist erheblich; in letzter Konsequenz klingt selbst Horaz’ Non omnis moriar an. Das umgekehrte Zeichen gibt es nicht, also die Verkürzung einer Note; allerdings ist ein Anheben des Tempos ebenso sehr spielerisch, kann hinzunotiert werden; einige russische Lieder sind uns bekannt in ihrer forcierenden Temposteigerung.

Schon das an den Anfang gestellte Motto von Raymond Carver
¹⁰ zeigt, dass Dombrowski (der wie Carver in den USA geboren wurde) für sich das Mysterium entdeckt hat. Traum und Surreales sind inzwischen ein weiteres poetisches Gebiet des Dichters. Anknüpfend an sein schon etwas älteres Gedicht Mysterium erschafft er im neuen Band weitere Traumbilder. Manches wirkt gar wie aus einem (Alp-)Traum und manchmal fließen Realität und Traum in einander. Aus dem Gedicht Antilopenherz:

(...)
Er zog mit mir um die Dörfer / an den Bahndämmen entlang
zuletzt zu einer Parkbank am Wald von Puppen & Plastikvögeln
umsäumt zerrte er mich
in seinen Voodoozauber: denn hier
schrie er /
fängt für dich die Zeit wieder ein wenig an / keine
Ahnung wie lange & dann robbte er sich unter einen beigen Bus durch
und beschimpfte mich silbern / glänzte der Markenname
Vechta auf
(...)


Was den Endzeitflair ausmacht, das ganz Eigene seiner Gedichte, wird allmählich auch wahrgenommen. Auch wenn Autoren wie Kerouac, Ginsberg, Cassady, Snyder, Creeley, Corso, Ferlinghetti und Co. sich aus reiner Daseinsfreude selbst mystifiziert haben und ihren Mysterien nahestanden und huldigten, ist Dombrowski nicht deren Epigon, sondern hat – vor allem auch im neuen Band – sehr jetztzeitige Gedichte-Storys zu erzählen. Dombrowski hat sich nie groß gekümmert, was gerade so gemacht wird und was gerade auf den neuesten Fahnen steht. Er wächst somit auch langsam und fermatisch aus seinen Beatpoet-Schuhen heraus. Dombrowski ist Endzeitdichter mit Utopie.
¹¹ Und das genau ist, wenn man so will, sein Markenzeichen jenseits der Beatgeneration.

Aus dem Gedicht Flor

Die Chance auf eine noch nicht so ganz tote Geisterstadt
wo ich als Arbeitsloser vielleicht
auf immer zur Ruhe finden könnte
wie in einem dieser Feel-Good-Movies aus Detroit
oder Frankfurt/Oder würde mir ja schon
genügen nach all den Zeiten als Astronautenmakler

(...)


Dem Zauber hinter diesen Worten, den man nur kryptisch wahrnimmt, möchte man immer wieder sein Geheimnis abluchsen, das sich aber wie die Katze in seinem Gedicht Fernhin gerade da verweigert. Was ist es? Was ist der Hintergrund, was erzeugt eigentlich die Poesie? Da schwanken der Tonfall, der Sound – oder sagen wir lieber: die poetische Melodie in den Gedichten zwischen morbide und nekromantisch, zwischen humorvoll und beißend, zwischen zärtlich, leise, unaufgeregt – und dennoch spannungsgeladen. Geheimnisse und Rätsel sind dem Autor wichtig. Nicht alles liegt offen da. Dombrowski legt zudem wenig Wert auf eine Sprache, die sich lifestylemäßig perfekt manikürt oder derart unter dem Sprachpantoffel ihres Autor stünde, dass das Ganze bis zum Gehtnichtmehr durchperfektioniert wäre. Er verwendet für meinen Geschmack auch total unverkrampft so manche Genitivmetapher und hat ein bewundernswert nonchalantes Verhältnis zu Pathos; so manche Gedichte wirken – und da bin ich überzeugt, dass es Absicht ist – eher wie ein Tresengespräch, bei ein paar Zigaretten zum Bier locker hingeplaudert; und ohne dass es ein bewusst eingesetzter Parlandoton
¹² wäre. Eine Nonchalance, die verstört. Dabei wirkt dieser neue Band sogar wie ein Konzeptalbum, mit Prolog und Epilog und allerhand Zyklen mit bis zu zehn „Unter“gedichten – ein Novum für den Autor¹³. Dombrowski trägt Heikles und Brisantes immer schon mit einer fast heiteren Gefasstheit vor, die wirklich erstaunt. Genau hierdurch aber entsteht jene lächelnde Unschärfe und vielleicht auch seine ganz ureigene poetische Melodie¹⁴. Und die auch zu den Fermaten passt, weil diese ja eben doch ein wenig lebensfroher¹⁵ sind als der „Rest“. Man spürt die Tragik hinter allem und dennoch ist da ein entspannter, wohlwollender Ton gegenüber allem. Aus dem Gedicht Narkose:

(…) Da trafen wir uns aber irgendwann an / seinem Radio wie er SULTANS
OF SWING von den Dire Straits hörte & mir zuflüsterte
was für ein Weltsong das einst werden wird
und weil ich doch mehr damals auf A GLASS OF CHAMPAGNE
von Sailor stand lächelte er dabei
und schnipste immer mit den Fingern deshalb hielt ich ihn
hinter seiner coolen Lochbrille für den absoluten
Maestro über alle diese Lieder
(...)


Dombrowski schwimmt gegen den Strom, ohne dass es bei ihm eine bewusste, verkrampfte Verweigerungshaltung wäre, er dümpelt nicht in Klischees herum und kokettiert nicht mit seinem cool-abgewrackten Vorleben (!) als Beatnik (das wäre ja wieder bewusst zur Schau gestellter Lifestyle!) oder damit, welche und vor allem wie viele Drogen er schon genommen hat. Dombrowskis Dichtung ist bei allen Geschichten, die sie erzählt, sperrig, unangepasst und kantig. Dominik Dombrowski gehört derselben Generation an wie ich, wo genau das bei einem Dichter in statu nascendi fürs Ernstgenommenwerden absolut obligatorisch erschien: sich an nichts und niemanden anzupassen und obendrein auf hypebare Stromlinienförmigkeit zu pfeifen. Genau dieser mir wohlbekannte Geist blitzt mir da frisch aus den Zeilen entgegen und ich ertappe mich bei dem Gedanken: Dass es das noch gibt?

In vielen der neuen Gedichte höre ich – darf ich es so sagen? – ein überkandideltes Lachen, das davon lacht, was Freiheit ist, was Freiheit bedeuten muss. Die uns gerade heute, so scheint es qua Sicherheitsbedürfnis etc. stückweise abhandenkommt. Wenn ich mich zurückerinnere, war es Mitte der Achtziger in allen künstlerischen Bereichen in der BRD eher so, dass gebrochene Biografien interessanter waren als lückenlose Studiengänge, wo jemand sich aus Umständen zur Not mehrfach freigeschaufelt hat, sich von Ballast befreit hat, um sein Eigen(tlich)es zu finden.

Aus dem Gedicht Die Rekonstruktion des Regens:

Zwei Kugeln in der Waffel Vanilletropfen / fallen
uns in die Kniekehlen
wir staksen (du im orangenen Bikini)
über die Halden balsamiert
glänzt oliv uns / die Haut / über den Sehnen im Sand
flattert
eine Eidechsenhülle (...)


Genau betrachtet geht es um die Mehrzahl, gemeint sind Fermaten, die ihre gehaltenen Noten hinauszögern. Der dritte und letzte Band seines „Triptychons“ (oder auch Trilogie) mit dem Titel Fermaten besingt nun die leichteren, positiven Seiten des Lebens. Der Weg dahin war steinig, per aspera ad astra, oder, wenn man das Ganze dantisch begreift, wäre Finissage, der „novembrige“
¹⁶ Debütband des Dichters, mit dem Inferno gleichzusetzen, Fremdbestäubung der Läuterungsberg und Fermaten das Paradies¹⁷ – oder, naja, was man in dombrowskieskem Sinn ein Paradies nennen könnte. Eine Bewegung vom endzeitlichen Abgesang über ein Sich-Zusammenraufen¹⁸ hin zum zuversichtlichen hoffnungsvollen Aufbruch in Richtung einer neuen Glückseligkeit?

Aus Barbarische Sagen:

(...)
Du durchschreitest viel zu früh die Straßenschluchten
und überall flaggt wie Verkündigung
DAS VERLORENE PARADIES

(...)


Die Fermaten atmen durch und durch frische Luft. Und was Themen angeht wie Erotik und auch Religion, nehmen sie nie ein Blatt vor den Mund. Und dennoch: hochtönende Hochsprache ist nirgends, wobei es wie gesagt manche Abschweifer in eine Pathetik gibt, die aber stets gebrochen wird. Es geht auch um eine Auseinandersetzung in puncto Solidarität mit den – wie man sie heute nennt – sozial Schwachen. Und es geht um Selbsterkenntnis, gerade in den Traumbildern: wer ist man selbst? Vom Sound her „down to earth“ und locker bis luftig haben D.D.s Gedichte viel Atmosphäre. Aus dem Gedicht Die Jules-Verne-Vision:

Auf eine Zigarette zur Frühe am Fenster im Licht
des Kühlschranks wie unter einem Leuchtturm denke ich
an meine früheren Vorgesetzten
die alle ziemliche Arschlöcher waren

Wie sie alle wie in einem letzten Akt / immer aufs
Streichen der Stellen fixiert
wenn man zu spät kam / fragten: warum?

man sein Mobiltelefon nicht eingeschaltet hatte
um ihnen Bescheid zu geben / sie alle waren
möglicherweise verzweifelt & benötigten meistens nur
vier Stunden Schlaf / sie schliefen wie umgekippte Stehlampen
sie strichen / in ihren gebügelten Camouflagehosen
die ganze Freizeit / über durch die Baumärkte
(...)


Reise(erinnerunge)n, Sex, Tütenwein, Reflexionen über das Göttliche, Visionen und Mysterien, die Arbeitswelt – und Hunde sind wiederkehrende Motive in Dombrowskis Gedichten. Im Gedicht Barbarische Sagen gibt es Orangenhunde. Auch in seinen Kurzgeschichten tauchen immer wieder Hunde auf, sind eine Art Chiffre, symbolistisch oder auch surrealistisch und lassen an Luis Buñuels Andalusischen Hund denken.

Ich habe im Internet eine Ausleihhündin gefunden
für die Wochenenden denn
meine Mietwohnung erlaubte mir
kein dauerhaftes Tier
Es war eine ältere Dame namens Charlotte
ihre Herkunft verlor sich
an einer korfiotischen Bushaltestelle
(…)

Irgendwann aber
als ich zum Tierheim kam / hieß es
mein Leihtier sei jetzt / vermittelt
worden lebe / bei irgendjemandem
da in der Bahnhofsgegend
(...)


Dombrowski ist ein Autor, der einiges erlebt und selbst erfahren hat, was Krankheit und Abschied angeht (Verschiedenes davon erfährt man in den Gedichten, die doch recht nahe, man spürt es, um Autobiografisches kreisen), zugleich spürt man: er arrangiert sich mit manch anderen Dingen, die er noch vor sich hat. Die Zeit, die einem bleibt, fühlt sich wie geschenkt an, sie ist eine Art Zusatz, nach der Fermate. Mors ultima linea rerum est – auch das ist Horaz. Trost ist ein Thema. War doch schon das neudeutsche (Kunst-)Wort Finissage (das Dombrowski m. E. auch mit einem gewissen Schmäh verwendet) gewissermaßen ein Schlussbild, eine Schlusseinstellung, sprich die Beendigung einer Ausstellung, die das Abhängen der Exponate markiert – so sind es nun die Fermaten um so viel mehr. Ab jetzt (habe ich gehört) möchte der Dichter, der neuerdings unter dem Prädikat „Lonely Rider“
¹⁹ firmiert, übrigens dann (nur noch?) Prosa²⁰ schreiben. Also doch sein letzter Gedichtband? Schade eigentlich.


¹  http://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/finissage
²  
http://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/finissage

³  Die Fermate (ital. fermare: anhalten) ist in der Musik ein Ruhezeichen in Form einer nach unten offenen Parabel mit Punkt in der Mitte über einer Note oder Pause, das auch als Aushaltezeichen verwendet wird, Innehalten in der Bewegung anzeigt oder dem Solisten signalisiert, diese Stelle nach seinem individuellen Bedürfnis zu verzieren, lesen wir bei Wikipedia.

⁴   ein (wie ich finde sehr treffender) Ausdruck von Tobias Falberg über dicke Lyrikbände generell
⁵   
poesie[magazin] bei Radio Lora München 92,4 am 22.01.2016

⁶   Und Schlag auf Schlag! / Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn! / Dann mag die Totenglocke schallen, / Dann bist du deines Dienstes frei, / Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, / Es sei die Zeit für mich vorbei!, heißt es in Goethes Faust 1.
⁷   
Dabei hat die Fermate bei Dombrowski für mich ganz und gar nicht diesen populären Anhauch von Entschleunigung oder Prokrastination, dieses bis vor ein paar Jahren ständig und überall durchgenudelte Thema unserer Jetztzeit, wo jeder plötzlich ein/e große/r Prokrastinierer/in war. Immerhin gibt es in München inzwischen ein Büro für Beschleunigung, was den (eben noch) aktuellen Verlangsamungstrend ganz angenehm unterläuft. Solange es sich nicht bald in ebenso populäre Hörner stößt und man sich allseits wieder im Einklang mit Momos Grauen Herren um Beschleunigung dreht!?

⁸   (wie der Duden es weiß)
⁹   
accelerando, stringendo, poco più ...
¹⁰  
den Dombrowski auch übersetzt
¹¹  
Es ist eben doch nicht vorbei nach dem Ende.
¹²  
im Sinne von artifiziell, affektiert, mimetisch, gesteigert
¹³  
Ob der Länge zählte ich 27 Gedichte auf 84 Seiten.
¹⁴  
vorab als spirit bezeichnet

¹⁵ Also da, wo auch Heine von Platen brüskiert (Die Bäder von Lucca) mit dem Vorwurf, letzterer hätte seine Texte allzu sehr durchgearbeitet.

¹⁶  So beschrieb der Autor mehrfach die Stimmung seines Gedichtbands.

¹⁷  Es gäbe auch Gründe, das Ganze umzukehren und Fermaten als Inferno zu lesen. Doch egal.

¹⁸  Im Sinne eines Sich-neu Definierens
¹⁹  
José F. A. Oliver

²⁰ Immerhin habe er ja auch noch einen Roman in petto, auf den man gespannt sein kann. Bleibt zu sagen: Nach Fermaten (zumal in der Mehrzahl!) geht es für gewöhnlich ja auch noch weiter: die Verzögerung der Note wird nur angezeigt, weil danach noch etwas folgt. Eine Fermate am Ende eines Musikstückes wäre gewissermaßen sinnlos. Insofern kann man sich auf weitere Gedichte des Autors sicherlich noch freuen.


Dominik Dombrowski: Fermaten. Gedichte. Dresden (edition AZUR) 2016. 90 Seiten. 17,90 Euro.

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