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Dmitri Kusmin: Zwei Gedichte

Gedichte > Zeitzünder
Dmitri Kusmin
Zwei Gedichte
aus dem Russischen von Andreas Weihe


***

Die neueste Meinungsumfrage besagt:
88* Prozent der Bevölkerung meines Landes sind Faschisten.
Das ist eine beschissene Nachricht, denke ich im zum Bersten gefüllten U-Bahn-Waggon.
Zwar befragen sie keine Minderjährigen, aber mit solchen
Eltern, Lehrern, Passagieren braucht man sich keine falschen Hoffnungen machen.
88, eine schlaue Zahl, da muss man sich nicht
länger hinter dem Rücken der 14* verstecken.
Natürlich ist das nur ein Mittelwert, geht mir durch den Kopf,
im Parlament meines Landes erreicht die Ziffer leicht 100 Prozent,
und auf der gestrigen Dichterlesung war sie womöglich nicht größer als Null.
Aber in der Metrostation "Oktjabrskaja" werden die Menschen kaum übler stinken
als in der Station "Komsomolskaja", denn sie hat ja der Zufall zusammengebracht.
Ich vermute, es sind ungefähr hundert Leute im Waggon,
doch wer von ihnen zu den verbleibenden 12 Prozent gehört, kann man nicht erkennen.
Am ehesten noch der Mulatte im weißen T-Shirt, bedruckt mit schwarzen kyrillischen Lettern:
"Behandle die anderen so, wie du selbst behandelt werden möchtest" -
man kann sich leicht ausmalen, was für eine Erfahrung hinter diesem Schriftzug steht.
Da, der Junge mit den lila Haaren, um die zwanzig,
da bin ich mir fast sicher, wenn der ins falsche Viertel gerät, setzt es Schläge,
und der da, mein Altergenosse, mit dem rot-grünen Tattoo auf dem Unterschenkel,
schon fraglich, zu aufgepumpt. Der Alte neben ihm mit den Dreitagestoppeln
und den Ordensspangen liest die "Komsomolskaja Prawda" - völlig ausgeschlossen,
der andere mit dem gepflegtem Bart und der "Nowaja Gazeta" -
ungewiss, ohne Garantie, die ältere ungeschminkte Dame
mit einer dünnen Broschüre in der Hand - man sieht nicht was für eine, wenn es
Kochrezepte sind, besteht eine Chance, sind es Gebete - dann auf keinen Fall.
Weiter hinten im Waggon lässt sich nichts ausmachen.
Aber es gibt natürlich welche, die es verstanden haben sich zu maskieren,
die sich durch nichts in Kleidung, Frisur, Manieren zu erkennen geben.
Das ist eine nützliche Fähigkeit. Und du, Zazie*,
älter geworden, aber noch immer mit deiner Ponyfrisur,
den orangefarbenen Pullover gegen rote Hosen getauscht,
mit einem einzelnen Ring im rechten Ohr, nimm dich in Acht,
glaub nicht, dass man im Gedränge nicht sieht, wie du deine Freundin umarmst,
glaub nicht, dass deine Minderjährigkeit irgendwen milder stimmt,
und wenn einer von den 88 an den Notsignalknopf gelangt,
dann könnte der Zugführer die Sicherheitsstreife der Gestapo
auf der Station "Leninski Prospekt" direkt vor die Waggontüren rufen.

* "88" ist der Neonazi-Code für "Heil Hitler",
"14" (14 words) bezieht sich auf ein Zitat des US-amerikanischen Rechtsextremisten David Eden Lane („We must secure the existence of our people and a future for white children“ );
Zazie verweist auf Raymond Queneaus Roman "Zazie in der Metro" bzw. dessen Verfilmung durch Louis Malle



***
Für A. R.
Schön bist du, mein Geliebter,
auf dem grünen Laken über dem lädierten Sofa,
mit deinem zwanzigjährigen Gesicht, von dem die Pickel noch nicht verschwunden sind,
mit der Schwellung vom letzten Piercing in der Oberlippe,
mit den zerzausten Haarsträhnen von der Farbe verrottenden Strohs,
mit deiner mondgelben Haut, gewohnt an schäbige Klamotten,
unberührt selbst von der hiesigen kränklichen Sonne.
Verkörperung des Eros unter der kruden Kruste des Thanatos.
Zum fünften Mal klingelt endlos lang dein Handy
und die Rufnummeranzeige poppt auf: "Mumi-Mama",
aber du verscheuchst nur die unsichtbare Hummel vom Ohr,
ohne aufzutauchen aus stoßweisem Schnarchen, Absinth und Gin in deinem Atem.
Ich könnte deine Mappe durchsuchen, all deine Taschen kontrollieren,
deine Boxer Shirts und deine stinkenden Socken abstreifen,
ich könnte dich vögeln, da du dich eh schon auf die Seite gedreht hast
und die Oberschenkel an den Bauch ziehst,
du wirst nicht aufwachen, bis zum Morgengrauen wirst du nicht aufwachen,
und wenn der Morgen graut, wirst du dich nicht daran erinnern, was am Abend im Pub
geschehen ist und in der Nacht in der angemieteten Wohnung in der Straße des Frühlings,
da war etwas, aber es ist dir durch die Finger geronnen
unter das Eis in die dunklen Wasser des Unterbewußtseins,
zusammen mit dem Namen des Mädchens, mit dem du vorgestern zusammen warst,
                                                                                                         und dem Wort "Vergeblichkeit".
Vergeblich hast du zwei Monate im Hospiz als Volontär gearbeitet,
vergeblich hast du dich mit einem plumpen falschen Namen vorgestellt,
vergeblich hast du, vorm Einschlafen, meine Hand an dein zaghaft erigiertes Glied geführt,
und dann hast du versucht, mir die Vene am linken Handgelenk durchzubeißen,
Rache für die Beharrlichkeit meiner rechten Hand
(leg mich, wie einen Cockring, über dein unbeschnittenes Herz), -
der Tod überzieht dich mit einer dicken Schicht,
türmt sich auf wie ein Eisblock,
aber wenn ich auf dich schieße wie damals in Brüssel,
wenn ich dir eine Salve von Metall oder Samen entgegenspucke,
dann wird, ich weiß es, etwas hervorbrechen, mir entgegen:
Blut, Liebe, Verse, Verse, Verse.


Vorabveröffentlichung aus „Ost Südost! Poetische Töne aus Europa“,
herausgegeben von Ralf-Rainer Rygulla und Marco Sagurna; POP Verlag 2021.



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