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Dirk Uwe Hansen: aussichtsplattform

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Kristian Kühn

Dirk Uwe Hansen: aussichtsplattform // Michael Wagener: welten.9 / darsolarpolar. Frankfurt a.M. (gutleut verlag – reihe staben 15) 2019. 116 Seiten.  26,00 Euro.

Maulwurfsgänge


blut oder milch der ausgang
aller geschichten ein blick
in den himmel
immer
gibt es darunter noch eine schicht
was ein maulwurfsgang
vermisst
ist nicht das licht
(maulwurf, S. 53)

Zwei Bände in einem, ineinander gefaltet. Knapp 60 Gedichten stehen ca. 5o Bilder (Grafiken u.a. von Vinyl, Ultraschall) gegenüber. Die Gedichte Dirk Uwe Hansens befinden sich eher in einem fließenden Zustand, die Bilder, im festen Kontrast dazu, sind vom Verleger des Bandes, der auch Künstler ist, Michael Wagener. Sie wirken plastisch, wie Objekte. Doch will ich mich den zarten Textstrukturen Hansens zuwenden und lasse die teils tapetenartig erdrückenden Welten Wageners beiseite.  
    Die Gedichte haben den Titel „aussichtsplattform“ und sind in zwei Kapitel unterteilt, einen langen, der „von elementen“, und einen kurzen, der „von sappho“ handelt.

Gedichte und Bilder wollen die filigrane Doppelseite der Materie greifen, mal im festen, mal im fließenden Zustand. Es geht dabei vor allem um Aspekte des Unaussprechlichen, um das nicht Fassbare, wenn man so will, in diesem Fall um das Mysterium von Materie.
    Nun sind Gedichte ja bis zu einem gewissen Grad ohnehin Bilder, zumal Hansen auf dem Weg durch die Schichten seiner sinnlichen Wahrnehmung auch Tagebuchaufzeich-nungen benutzt, in denen er das Erlebte verarbeitet und zu durchdringen versucht. Doch geht es ihm primär um die Elemente, die zum Überfließen der Materie führen, Schichten abtragend hin zu den Ideen, die diesem Labyrinth der Wahrnehmung zugrunde liegen, also um ziemlich abstrakte Prinzipien, die – nach altgriechischen Vorstellungen – die Elemente bestimmen, etwa wasserloses Wasser.

ein organ vielleicht hinter der
scheidewand oder in
sonst noch bewährten verstecken das wird
täglich erfunden ist
jede teilung eine andere
wirklichkeit findet höchstens durch
osmose statt ist kein verschwinden
gründlicher als in den schichten von
nicht mehr messbarer dichte
                                              (dichte, S. 35)
               
Stilistisch schafft Hansen dabei in seinen leicht mäandernden, doch immer sehr präzisen Collagensegmenten eine „schnittmengenstreuung“, von der er schon in seinem Band davor („sonne geschlossener wimpern mond“) sprach, in dem er aber noch relativ nüchtern und bewusst „entzaubert“ wirkte, so bewegt er sich diesmal tiefer durch die Schichten der Wahrnehmung – wie ein Maulwurf seine Gedichtspuren an der Oberfläche hinterlassend. Der Humor, den ich bei „sonne geschlossener wimpern mond“ entdeckte, dass dieser sich wohl durch die Distanz ergeben habe – ist nun zugunsten poetischer Dichte und latenter Magie gewichen, zugunsten eines tiefer ergriffenen Blicks, als habe sich Hansen nicht nur durch Vorsokratiker geschaufelt, das auch, aber als sei ihre Wahrnehmung weitestgehend nun in die seine übergegangen, der seinen gewichen.

fällt schnee fällt bedeutung
in ritzen bebildern
was einmal wissen wird der welt

ist jede verbindung anfang
eines verschwindens ist jedes
zwischen zwei wassern ist still
                             (vielleicht runen, vielleicht schnee, 52)
               
Hinzu kommt ein gewisser Pointilismus, so als nähme Hansen aus dem dichten Teppich der Materie Gewebeproben, beobachte das, was - und wenn es geschieht - die Welt dabei punktuell anhält, verdickt, wenn zum Beispiel eine Möwe fliegt:
     
        schneidet die möwe
        ein stück sich vom himmel
        wird kubus und wasser wird glas
        hält an die welt
        für kurze zeit
                                    (luft, 9)

Er schaut zwar noch der Möwe „unter den Mantel“ (binz, 55), doch die Dichte verschließt sich wieder (das Bild von der Natur ist nicht zu entschleiern – s. Sais – Novalis, Schiller). Die herausgenommenen Proben bilden Löcher, Risse, sind wie radioaktive Partikel, doch finden sie am Ende wieder zurück an ihre angestammte Leerstelle, bzw. Position. Denn sie bewegen sich, jede Bewegung ist einem unaufhörlichen Tanz zugeordnet. Dem Tanz von Wellen und Materie.

„der unterschied von
mauer und eine frage der
lücke bewegung von wellen
längen sagt ein blick im vorbei
fahren wie ultramarin
das mag der wolken
letzter tag sein“
                        (vom sehen, S. 39)      

Der Doppelaspekt von Materie, zu kommen und zu gehen, sich zu öffnen und wieder zu verschließen, setzt den Gewebeteppich und die sinnliche Wahrnehmung zwar bei Hansen in Bewegung. Er taucht jedoch nicht wie Max Ernst in die Mikrostrukturen von Gewebemustern ein, in die Risse und Ritzen, er experimentiert nicht, unterdrückt die Vision, vielmehr beobachtet er und bleibt sozusagen teilnehmend, aber bei Verstand (s. „im beisein eines betrachters“, 10). Doch registriert er eine Vielzahl an Farben, sie sind es, die ihm die „aussichtsplattform für substanz“ ermöglichen und ihm Orientierung bieten. Sie bilden für ihn den „richtungswechsel“ (farben zwei, 15) vom Rand ins Innere, er sieht sie als Auftrag (farbauftrag, 31), zwischen Grenze und Unbegrenzt zu beobachten und die Dichte zu durchschaufeln – wobei die Kugelgestalt der Vollkommenheit (farbauftrag, 31) eine Illusion ist:

niemand beherrscht
zwei
seiten einer medaille
haben
zwei schneiden zwei scheiden
                         (farbauftrag, 31)  

Doch öffnen diese vorübergehenden Risse und Löcher und Lücken im Gewebe eine Schwelle zur Unterwelt des Todes, nähren den Zweifel an Beständigkeit von Leben:

        ein riss im all
        zwischen zwei wolken
                                  (salzwasser, 18)

Parallel dazu nennt Wagener eine seiner Bildstrecken „darsolarpolar“, ich würde das mit „Das polare Haus der Sonne“ assoziativ übersetzen, denn „Dar“ bedeutet auf Arabisch Haus.
    Um im vorsokratisch / platonischen Mysterien-Rahmen zu bleiben, kommt bei Hansen an dieser Stelle der Kranich ins Spiel. Und zwar in dem Gedicht „schaum“ (77), in dem er zunächst von einer schichtschreibenden Notwenigkeit spricht („es geht/ nichts verloren // satz von der stratigraphischen notwendigkeit“):
      
        ist schaum so ewig wie birken
        gewittert der kranich
        erinnert er zieht
        immer die gänze zurück
                                 (schaum, 77)

Man kann also nicht von der Kante des Himmels fallen (Skyrim), denn Materie und Kosmos sind letztlich ein sich bewegender tanzender Schaum, der immer wieder zurückwirft in ein Labyrinth der Illusionen. Und die andere Seite der Illusion von Licht und Leben ist der Tod:

        mal du dir doch einen vogel
        ins labyrinth vielleicht
        keinen, dummkopf, vielleicht einen adler    
                                (oberfläche, 33)

Das Hindurchdringen eines Lösungsmittels (Osmose) geschieht für Hansen im wellenartigen Tanz: „und schon / leuchtet das gold aus dem / schnabel des raben“.
    Den Adler, den Raben (unterste Einweihungsstufe in manchen antiken Mysterienkulten, weil er Verzauberung noch nahesteht,) tauscht Hansen schließlich in den Kranich ein, einen kosmischen Kranichtanz.  
    Nun wird innen zu außen und umgekehrt – die beiden Seiten der Medaille sind gleichzeitig erfahrbar. Doch wer bringt „am ende / die schäfchen nach haus?“. An diesem Punkt variiert Hansen die dunklen Fragmente Heraklits („keiner // gräbt zweimal / dasselbe loch im / all“ – keiner, 27)

Diese Diskrepanz des Doppelaspekts der Materie löst Hansen, wie einst parallel dazu die Romantiker mit ihrem Verweis auf einen Urzustand in Atlantis, indem er in seinem kurzen Schlussteil des Bands „von sappho“ Anleihen nimmt. Also aus einer fernen feierlichen Welt, dem Märchen nahe:

Kommen zehn Schuster mit sieben Armen,
kommen geritten auf Ochsen, fünf
Jahre brauchen sie, kommen
trotzdem nicht zu dir herein.
(Sappho, 12)

Immer sind es Bilder des Raums, die Hansen verwendet, etwa beim drohenden Schatten des Todes (60), beim Lied, das in den Boden hinein wächst (58), er kommt Stück für Stück immer näher (Sappho, 1), und mit geschlossenen Augen sieht man dann am besten die Schönheit (Sappho, 6 + 8) in diesem sakralen Raum – und auch bei Sappho ist es eher ein Raum, der sich sprachlich auftut, nicht die Figur, nicht das Angesicht. Es bleibt diese „räumlich begrenzte merkliche abwesenheit“ (vom schatten, 60). Man könnte meinen, ein Leben im sinnlich wahrnehmbaren Raum sei eigentlich der Tod (soma sema), bis man sich erinnert.
    Der Kranichtanz ist eine schillernde Metapher: Mit ihrem hohen Flug galten die Kraniche als Vermittler zwischen Himmel und Erde. Auf ihrem Rücken konnten die Erwählten zu den Inseln der Seligen reisen. Und als Demonstration seines Kampfes gegen den Minotaurus tanzte Theseus anschließend mit seinen Gefolgsleuten den Kranichtanz, um die verschlungenen Wege aus dem Labyrinth heraus anzudeuten. Man konnte also mit der Mimesis des Kranichtanzes das Mysterium der Materie ausplaudern, was allerdings mit Todesstrafe belegt war. Zugleich sollte dieser Tanz Quelle und Wurzel des Übergangs von den Elementen hin zur ewig überfließenden Natur anzeigen. Schwere Kost, aber eine sich lohnende, diese Stimme des Maulwurfs zu vernehmen. Dirk Uwe Hansen hat sich mittlerweile zu einem leisen aber sehr intensiven „Dichter“ entwickelt.


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