Dieter M. Gräf: Versetzung des Hirschs in die Dose
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Rauschstudien
mit Sprachwölfen
Der
Dichter und Fotokünstler Dieter M. Gräf erkundet die Jahre des Aufbruchs
Von Michael
Braun
Als an einem Wintertag vor über dreißig Jahren zwei ganz in schwarz gekleidete „Sprachwölfe“ die Bühne der Alten Feuerwache in der Rhein-Neckar-Metropole Mannheim betraten, war es mit der literaturfrommen Gemütlichkeit sofort vorbei. Der aus Ludwigshafen stammende Dichter Dieter M. Gräf und sein Mannheimer Kombattant Thomas Gruber fegten damals mit ihren wuchtigen Performances alle überkommenen Vorstellungen vom Gedichteschreiben vom Tisch. Es ging darum, Gedichte als „Zuckungsbringer“ vorzuführen, als eminent körperliche Erfahrung. Zuckungsbringer, so lautete denn auch der Titel einer Anthologie, in der das Dreamteam Gräf/Gruber 1990 die „Neue Literatur Rhein-Neckar“ zelebrierte. Der Auftritt in der Feuerwache, bei dem die beiden Lyriker die ganze Skala des poetischen Sprechens vorführten, vom eindringlichen Geflüster bis hin zum outrierten Gebrüll, war auch als regionale Initialzündung für eine Generation junger Lyriker gedacht, die sich im Gefolge der historischen Avantgarde-bewegung daran machte, eine neue, experimentierfreudige Dichtkunst zu entwickeln.
In seinem
neuen, überaus sorgfältig gestalteten und mit vielen Fotografien ausgestatteten
Buch Versetzung des Hirschs in die Dose lässt Dieter M. Gräf diese
Schwellenzeit der deutschen Lyrik und sein frühes Werk wieder aufleben. Der
Band versammelt eine Auswahl aus seinen ersten drei Gedichtbänden, die zwischen
1994 und 2002 im Suhrkamp Verlag erschienen sind, wobei Gräf die Texte mehr oder
weniger stark überarbeitet und neu gruppiert hat. Der Band will weit mehr als
nur eine strenge Bestandsaufnahme des Gräfschen Frühwerks vorlegen. Er will ein
literaturgeschichtliches Panorama entrollen: „Ein flirrenderes Tempo kam auf,
ein Flackern, neue Heftigkeit, und ein anderer Sound. Kann man von Celans Todesfuge
lernen und von Nina Hagen Band? Ja.“
Bei der
Re-Lektüre stellt man beglückt fest, dass die meisten Gedichte ihre Frische und
kühne Widerständigkeit bewahrt haben, was primär der unorthodoxen
Kompositionstechnik des Dichters zu verdanken ist. In seinen Gedicht-Klassikern
Ludwixhafen oder Rauschstudie Vater+Sohn unterzieht Gräf sein
Wortmaterial einer heftigen Zerreißprobe. In vielstimmigen Montagen werden
O-Ton-Versatzstücke, Sprichwörter, politische Parolen und versprengte
Assoziationen in schroffer Fügung kombiniert. Ludwixhafen, das wohl
bekannteste Gräf-Gedicht, entwirft einen dämonischen Schöpfungsmythos: Dem
vergifteten Rhein entspringt eine Art Cyborg, der „Aniliner“. Und die Rauschstudie
Vater+Sohn führt einen Gedanken des Kulturtheoretikers Klaus Theweleit
fort: in der „Todbereitschaft“ gleichen sich die soldatischen Männer des
Zweiten Weltkriegs und die rebellierenden Terroristen der RAF: „Doch selbst in/
den Rauschpausen (da wird gelöscht: ein Ab/ drehen des Tons – geschlachteter
Lärm, wird / in Rillen gepresst - , des Todes) ekeln/ wir uns: vor euren
Schildkrötenkörpern, wie ihr/ sie verlängert habt.“
Im zweiten
Teil des Bandes sind dann zarte, leisere Gedichte versammelt, Liebesgedichte
wie „Lovergestrüpp“ und „Ingwerblütentraum“, die von den englischen metaphysical
poets ebenso inspiriert sind wie von buddhistischen Weisheitslehren.
Ein
Highlight dieses Buches ist die unverstellte essayistische Selbsterkundung, die
Gräf dem Band als Nachwort beigefügt hat. Es ist eine sehr nachdenkliche Erinnerung
an die Euphorie des literarischen Aufbruchs Ende der 1980er Jahre und eine
selbstkritische Betrachtung seines Lebenswegs, der ihn von Ludwigshafen nach
Köln und schließlich 2005 nach Berlin geführt hat. Gräf skizziert hier auch die
Schwierigkeit von Dichterfreundschaften, die im Fall des früh verstorbenen
Sprachekstatikers Thomas Kling (1957-2005), der allseits verehrten
Schlüsselfigur der avancierten deutschen Lyrik um die Jahrtausendwende, an
Grenzen stieß: „Zu mir sprach er mit schneidender Stimme, wie ein
Frontoffizier, aber seine Hand ließ er in meiner zart liegen, als wäre er ein
scheues Mädchen.“
Gewiss ist
Gräfs persönliche Sicht auf die Lyrikgeschichte der letzten dreißig Jahre
überaus anfechtbar. Sicher aber ist, dass er mit seinen Büchern Rauschstudie
Vater+Sohn (1994) und zuletzt mit Falsches Rot (2018), einem die
deutsche Unheilsgeschichte reflektierenden Band mit längeren, erzählenden
Gedichten, Maßgebliches zu dieser Lyrikgeschichte beigetragen hat.
Dieter
M. Gräf: Versetzung des Hirschs in die Dose. Frühe Gedichte in Neufassung. Moloko
Print, Schönebeck 2022, 108 Seiten, 15,00 Euro.