Direkt zum Seiteninhalt

David J. Chalmers: Realität+

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Felix Philipp Ingold
 
Von der Wirklichkeit literarischer Imagination


Die Welt eine Illusion, das Leben ein Traum, ich selbst ein anderer – die skeptische Infragestellung dessen, was als wirklich zu gelten habe, gehört zur althergebrachten Tradition mythologischen und philosophischen Denkens wie auch künstlerischer Recherche und Gestaltung. Der Barock, die Romantik, der Symbolismus, der Postmodernismus waren Hochzeiten einer multioptionalen Realitätswahrnehmung, in der wirkliche und mögliche Welten sich verschränken, bisweilen mit Vorrang des Möglichen vor dem Wirklichen. Die hiesige Welt wie die menschliche Existenz hienieden können einen (ihren) Sinn nur dann gewinnen, wenn sie von einer anderen, einer höheren Sphäre überwölbt sind, als deren Projektion sie gelten können und der gegenüber sie lediglich eine unvollkommene und trügerische Doppelung sind.
         Der Überhang des Möglichen in Bezug auf das Wirkliche wird aktuell weithin debattiert und ist Gegenstand zahlreicher Theoriebildungen wie auch Spekulationen aller Art, mit Bezugnahme auf Begriffe wie «virtuelle Realität», «alternative Fakten», «Illusion», «Simulation», «Fiktion», «Fake» oder «digitaler Schein». Die Kurzformel dafür bietet David J. Chalmers, Philosoph und Neurowissenschaftler an der New York University, mit seinem jüngsten Buchtitel «Realität+».* Das Pluszeichen bedeutet hier nicht einen Zusatz oder Mehrwert, sondern verweist darauf, dass Realität als solche mehr ist als die konkrete, messbare und sinnlich fassbare Welt; ihr implizites Plus ist die Virtualität – reale und virtuelle Welten befinden sich in komplexer, unauflösbarer Gemengelage und bilden eine und dieselbe, materielle wie immaterielle Welt, der sie nicht nur angehören, die sie auch tatsächlich sind.
         Chalmers liefert dazu in seinem umfangreichen Werk vielerlei Beispiele (allzuviele in Form unbedarfter Zeichnungen) aus vielerlei Fach- und Praxisbereichen, von der Philosophie zur Medizin, von der Psychologie zur Linguistik, von der Physik zur Theologie und zur zeitgenössischen Unterhaltsungsindustrie (Fantasy, Science Fiction, soziale Medien), alles abgestützt auf Hunderte von Referenzen, alles redundant erklärt, aber doch immer nur «gestreift», ohne ästhetische oder ethische Nachfragen – letztlich alles im Ungefähren belassend: es kann, muss aber nicht so sein; im Prinzip ist es so; ich behaupte nicht, dass … ich meine aber; ein Körnchen Wahrheit; meistens, vielleicht, könnte sein.
       «Die Realität enthält unsere Welt», meint dementsprechend der unentschieden dozierende Autor: «Und vielleicht enthält sie noch viele andere. Wir können neue Welten und neue Teile der Realität erschaffen. Wir wissen ein wenig über die Wirklichkeit Bescheid und wir können versuchen, mehr über sie zu erfahren. Vielleicht gibt es aber auch Teile davon, die wir nie erkennen werden.» Und noch unentschiedener: «Die Welt, in der wir leben, könnte eine virtuelle Welt sein. Ich behaupte nicht, dass sie das ist. Aber es ist eine Möglichkeit, die wir nicht ausschliessen können.» Damit ist soviel wie nichts gesagt; sicherlich zu wenig für einen Autor, der sich gern als Koryphäe und Pionier der Gegenwartsphilosophie geriert.
        Auf weit über 600 Druckseiten versucht Chalmers, immer wieder sich selbst zitierend, seine schlichte Hauptthese zu belegen, nämlich: «Simulationen sind keine Illusionen, virtuelle Welten sind real, und virtuelle Gegenstände existieren wirklich.» Und: «Dasselbe gilt für unsere eigene Welt. Selbst wenn wir uns in einer Simulation befinden, ist unsere Welt trotzdem real.» Und noch: «Ein virtueller unterscheidet sich zwar von einem nichtvirtuellen Gegenstand, aber beide sind gleichermassen real.» Diese durchaus ernstzunehmende (im Übrigen auch anderweitig schon vielfach vorgetragene) These wird hier – bei ständigem Schwanken zwischen abgehobener Fachsprache und feuilletonistischem Plauderton – ungeheuer wortreich erläutert und differenziert, und doch bleibt sie weitgehend Behauptung. Der höchst belesene und bestens informierte Autor ergeht sich auf seinem weitläufigen Themenfeld in mancherlei «Abschweifungen», bietet aber auch erhellende Einzelbeobachtungen (etwa zur Funktion der Sprache zwischen Realität und Virtualität), die über seine These hinaus von Interesse sind.


Über David J. Chalmers’ These hinaus – und gleichzeitig hinter sie zurück – reicht der Hinweis auf andere, ältere Medien der Simulation und Virtualisierung, auf mögliche Welten also, die nicht von künstlichen Intelligenzen geschaffen wurden, die vielmehr kollektives oder individuelles Menschenwerk sind, abgesehen von naturhaften, psychophysischen Phänomenen wie dem Traum, der Halluzination, der Vision. Ob und inwieweit Anormalitäten wie Schizophrenie, Farbenblindheit oder Taubheit ebenfalls virtuelle Welten erzeugen, bleibe hier lediglich als Frage nachgestellt.
         Die virtuelle Realität kann bewusst geschaffen (technisch simuliert) sein, kann aber auch den konventionellen, unbewussten Charakter von Einbildungen, Vorstellungen, Wahngebilden, vielleicht auch bloss von akustischen oder optischen Täuschungen haben. Anders als bei der simulativen Realität, die einen externen, von ihr unabhängigen Hersteller und Beobachter hat, ist beim Traum oder bei der Halluzination die betreffende Person in die virtuelle Realität integriert, sei’s als Akteur, sei’s als interner Betrachter. Ob und wie die virtuelle Realität als eigentliche Realität wahrgenommen wird, hängt von den jeweiligen praktischen Bedingungen und vom jeweiligen Bewusstseinsstand ab. Eine Simulation kann, je nachdem, als «echt» empfunden oder als «wie echt» erkannt werden.
      Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa hat als Autor wie auch als Kunstfigur die Gratwanderung zwischen der realen Welt und einer Vielzahl von möglichen Welten in einem Brief an den Kritiker Adolfo Casais Monteiro einprägsam nachgezeichnet: «Seit meiner Kindheit gab es bei mir die Tendenz, um mich herum eine fiktive Welt zu schaffen, mich mit Freunden und Bekanntschaften zu umgeben, die nie existiert haben […]. Seitdem ich mich als das kenne, was von mir ‘ich’ genannt wird, erinnere ich mich, geistig die Gestalt, die Bewegungen, den Charakter und die Lebensgeschichte mehrerer unwirklicher Figuren entworfen zu haben, die für mich so sichtbar und die mir so vertraut waren wie jene Dinge, die dem angehören, was wir vielleicht verkehrterweise als das ‘wirkliche’ Leben bezeichnen.» – Das ist lediglich ein Beispiel dafür, dass und wie die künstlerische Literatur schon lange vor der digitalen Erschliessung virtueller Welten ihre Realität+ erschaffen hat.
        Man erinnere sich beispielsweise an Miguel de Cervantes’ Titelhelden Don Quijote, der als begeisterter Leser mittelalterlicher Abenteuerromane davon überzeugt ist, das Gelesene als Wirklichkeit zu erleben – eine Fiktion innerhalb der Fiktion, die er in der Folge mit viel Aufwand gegen die reale Welt verteidigen und durchsetzen muss. Oder andersherum J. W. von Goethes Werther, dessen Leiden von vielen externen, realen Leserinnen und Lesern tatsächlich als Reality+ wahrgenommen wurden, was zu mehrfacher suizidaler Nachahmung Anlass gab; im Roman «Die Wahlverwandtschaften» bekräftigt Goethe viel später, dass – wörtlich – «die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche» durchaus behaupten könne.


Womöglich kann und sollte der Traum, der ja zur Erfahrungswelt der meisten Menschen gehört, als Modell einer virtuellen Realität herangezogen werden. Das Traumgeschehen folgt, unabhängig vom Willen oder vom Interesse des Träumenden, eigenen Regeln (oder auch bloss Impulsen), die in der realen Welt nicht vorhanden und hier auch nicht anwendbar, nicht durchsetzbar sind. Im Traum kann der Träumende (muss aber nicht) zur handelnden Person werden, er gerät ganz selbstverständlich in absurdeste, tatsächlich unmögliche Situationen und Verstrickungen und verhält sich darin durchaus «normal» insofern, als das, was in der realen Welt unmöglich ist, zur Normalität des Traums gehören kann, dort also nicht nur möglich, sondern wirklich ist. Unmöglich und unwirklich wird das Traumgeschehen erst dann, wenn der Träumer aufwacht und gleichsam von aussen darauf zurückblickt. Von aussen betrachtet, ist der Träumende eine reale (schlafende) Person, die aber gleichzeitig (meist kurzfristig) einer jenseitigen irrealen Welt angehört, die für ihn selbst durch und durch real ist und so auch – etwa im Albtraum – empfunden wird.
            Damit bietet der Traum, durchaus in Übereinstimmung mit der Chalmers’schen These, ein gültiges Beispiel für eine virtuelle Welt, in der alle Objekte und Geschehnisse real sind; in der es Monster, Engel, Avatare gibt, die es in Wirklichkeit nicht gibt, die aber – im Traum selbst – als reale Wesen auftreten und handeln. Es gebe «zwar keine physischen, sehr wohl aber virtuelle Drachen», die eben in ihrer Virtualität real seien, konzediert auch Chalmers, doch er spricht diesbezüglich einzig von «digitalen Objekten, die in Computern existieren» und deren «echte Realität» in Bits anzugeben sind.
         Unter diesem technizistisch eingeschränkten Gesichtspunkt fallen bei Chalmers die fiktiven Welten künstlerischer Gestaltung kaum in Betracht. Zwar wird da und dort beiläufig ein SF-Film oder ein Pop-Song als Beispiel herangezogen, doch insgesamt bleibt Kunst als Generator möglicher Welten unberücksichtigt: In Chambers’ Realität+ zählt allein die computierte Künstlichkeit – Simulation und Virtualität sind errechnete, digital bewerkstelligte Hervor-bringungen, die Werke der Kunst wohl zu imitieren, nicht aber zu schaffen vermögen.


Dass jedoch Hervorbringungen der Kunst, vorab der Literatur und Malerei, schon immer auf eigene Weise zum Plus der Realität beigetragen haben, sollte nicht – und kann auch gar nicht – vergessen werden. Dennoch wird vorzugsweise die Wirksamkeit und nicht die Wirklichkeit künstlerischer Werke thematisiert; ein Gleiches gilt für Mythen, Märchen, sakrale und gewisse philosophische Texte (etwa Platon, Plotin, die Mystiker). Selbst ein simples Genre wie die Tierfabel bildet eine in sich konsistente virtuelle Welt heraus, innerhalb derer alles «wirklich» ist für den Leser, der sich durch Einfühlung in den Text versetzt – dort kann der Löwe tatsächlich als König, der Esel als Richter, der Fuchs als Anwalt (oder als Dieb) fungieren. Erst wenn man vom Text zurücktritt und ihn aus Sicht der realen Welt betrachtet, verliert er seinen autonomen Wirklichkeitscharakter und wird als Fiktion erkennbar.
           Dies ist bekanntlich generell in der Erzähl- und Dichtkunst so zu erfahren, vorausgesetzt, dass die Lektüre hinreichend empathisch und intensiv praktiziert wird – sie kann bekanntlich auch heutige Leserinnen zu Tränen rühren, sie kann Ekel, Begeisterung, Mitleid, Wut erzeugen, eben weil die Fiktion als Realität wahrgenommen wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um einen Text der phantastischen, utopischen, symbolistischen oder realistischen Literatur handelt: Die Fiktion mag wie auch immer geartet sein und bildet doch stets einen spezifischen virtuellen Raum, der sie als real ausweist. Egal, ob Madame Bovary, Captain Ahab oder Rodion Raskolnikow reine Phatantasiegestalten sind, oder ob sie realen Menschen nachgebildet wurden, es handelt sich in jedem Fall, innerhalb der Fiktion, um eigenständige Gestalten mit eigenem Wirklichkeitsstatus – nicht anders als in digitalen Simulationen.
          Die Vermengung oder Verwechslung der fiktionalen mit der realen Welt, über die gelegent-lich (bei Ehrverletzung, Verleumdung, Diskriminierung) vor Gericht verhandelt wird, unterläuft ebenso häufig wie die Gleichsetzung des lyrischen oder des erzählerischen Ich auf Seiten der Leserschaft, bisweilen auch der Kritik. Doch hier hat man sich nun eben bewusst zu machen, dass es grundsätzlich zwei (zweierlei) Realitäten gibt, die sich zur Realität+ fügen können. So gehört das auktoriale Ich der realen äussern Welt an, während das Ich wie alle übrigen Objekte im Text als «reale» Fiktion zu gelten hat. Arthur Rimbauds vielzitiertes Diktum, wonach «ich ein anderer» sei, gewinnt hier seine ebenso natürliche wie logische Bestätigung.


Von daher liesse sich (durchaus in Übereinstimmung mit Chalmers’ Grundthese) sagen, dass künstlerische Fiktionen, begriffen als virtuelle Welten, ebenso «wirklich» sind wie die konkrete Wirklichkeit – sie bilden zu ihr ein keineswegs nur beiläufiges, sondern notwendiges, unabweisbares Supplement, und zwar als integraler Teil davon. Wenn einst der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz die «Lüge als einzige Wahrheit der Literatur» beglaubigt hat, trifft dies genau den Sachverhalt: Literatur ist immer «wahr», weil sie in ihrer eigenen fiktionalen Welt ihre eigene, eigengesetzliche Wirklichkeit konstituiert.


*) David J. Chalmers, «Realität+». Virtuelle Welten und die Probleme der Philoso-phie. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2023. 638 Seiten. 38,00 Euro.


Zurück zum Seiteninhalt