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David Howald: Die Rückseite des Gesangs

Montags=Text
David Howald
Die Rückseite des Gesangs


Ein Tyrann hat keine Wahl, keine Alternative: Sehr früh schon krankt er an der Einsicht, dass der Geist seiner Doktrin hinter der zwingenden Wucht seiner Gebärden und Worte zurückbleiben wird. Es ist kein Zufall, dass die meisten Tyrannen den Gesang als ihr Mittel wählen.

Am Ende einer Nacht, im sommerlich abgeschlagenen Morgengrauen, sah ich einst den Tyrannen aus einem meiner Freunde hervorbrechen. Er schimpfte und geiferte, noch mit dem unschuldigen Flitter des Festes im kurzgeschorenen, blonden Haar. Ein Anderer hatte die Frau mit nach Hause genommen, auf welche er Absichten hegte.
    Wir saßen unter einem Wellblechdach zwischen Radständern, während der Nieselregen den Anbruch des Tages auf leisen Sohlen herbei trug. Und mein Freund redete sich in Rage: Sein gummiger Mund entwickelte, von der verdickten Halsschlagader gespeist, eine enorme Wucht. Mir schien als würde sich sein Kopf dabei zusehends in die Höhe schrauben, wie ein Gewinde unter dem Anschwellen abnormer Druckverhältnisse. Im Schneidersitz hockte er, den Blick zum Himmel gerichtet (vielleicht reichte sein Blick auch nur bis zur Wellblechdecke) trinkend, rauchend und rumschreiend, in alle Richtungen austeilend. Seine Worte gellten von den Wänden der gegenüberliegenden Industriebauten zurück.
    Man kann nicht sagen, dass er keinen Klang oder keine Wucht in seinem ungebremsten Monolog entwickelt hätte, die Tyrannei darin war jedoch schlichtweg zu offenkundig. Er war zwar Sänger, aber es war die Rückseite des Gesangs, auf die er den Blick unbeschönigt freigab. Es war ein eindrücklicher Akt, in welchem er dieses zentnerschwere Bellen gebar: Er schien nicht mal allzu viel dazu beizutragen - es sprach einfach unaufhörlich durch ihn und durch seine kajalverschmierten, verzweifelten Augen hindurch.


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