Das Humboldt Forum Berlin. 33 Gedichte
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Ulrich
Schäfer-Newiger
Das
Humboldt Forum Berlin. 33 Gedichte aus aller Welt zur Eröffnung im Jahr 2021. Mit
Beiträgen von Harald Albrecht, Klaus Anders, Lina Atfah, Daniel Bayerstorfer, Maddalena
Bergamin, Timo Berger, Timo Brandt, Jürgen Brôcan, Max Czollek, Hasune El-Choly,
Iain Galbraith, Nicoletta Grillo, Maricela Guerrero, Anna Hetzer, Jorge J.
Locane, Steffen Marciniak, Luis García Montero, Denise Pereira, Dídio Pestana, Luís
Quintais, Clea Roberts, Tobias Roth, Jordan Lee Schnee, Volker Sielaff, Sjón, Michael
Speier, Armin Steigenberger, Jochen Thermann, Nachoem Wijnberg. München (Aphaia
Verlag) 2021. 112 Seiten. 17,00 Euro.
Umbilicus Hernia Berolinensis
Die
italienische Autorin Nicoletta Grillo hat ihrem Gedicht Wilhelm / Guglielmo,
welches in dieser Gedichtsammlung – wie alle fremdsprachigen Gedichte – in
der Originalsprache und in der Übertragung ins Deutsche (dieses von Tobias Roth)
auf den Seiten 52 und 53 abgedruckt ist, ein Zitat Wilhelm von Humboldts aus
dessen großem Essay Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues vorangestellt.
Es lautet: Der Mensch lebt mit den
Gegenständen ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Diese Feststellung hätte gut als Motto für
diese interessante Gedichtanthologie gepasst, wenn ihr nicht schon eine andere
Äußerung des Wilhelm v. H. vorangestellt wäre: Das Studium der Sprachen ist die Weltgeschichte der Gedanken und
Empfindungen der Menschheit.
Das Humboldt Forum also, oder seine
architektonische Absicht, oder die dahinter liegende, von allerlei Beteiligten
behauptete, alle Welt umspannende, gemeinsame kulturelle Idee als
Inspirationsquelle, als Ausgangspunkt sprachlicher Einkreisungsversuche, als
das poetisch zu Jagende und Einzufangende. Ein spannendes, nicht risikoloses
Unterfangen, dessen Ergebnis das Risiko gelohnt hat. Die 33 Gedichte von 29
Dichterinnen und Dichtern zu diesem Thema sind unbedingt lesenswerte
poetologische Versuche, das Phänomen ‚Humboldt-Forum‘ sprachlich einzufangen,
oder besser: Sprachlich uns zuzuführen.
Wobei zuerst aber die Optik des Bandes auffällt,
seine gelungene, hier ist das altabge-griffene Wort erlaubt: schöne,
handwerklich-ästhetische Gestaltung. Die wiederum wird geprägt durch die im
Buch verstreuten, dreizehn farbigen Collagen der spanischen Künstlerin Sofίa de
Juan, deren erste schon auf der Titelseite zu sehen ist. Die Collagen
beschäftigen sich mit dem architektonisch-ästhetischen Baufortschritt und den
dahintersteckenden kulturellen Ideen des wiedererrichteten Berliner
Stadtschlosses, dem Sitz des Humboldt Forums. Man erkennt Bau-gerüste, Kräne,
Fassadenfragmente, Teilansichten der auf alt gemachten und der modern
gestalteten Fassade, aber auch, wohl u.a. als Reminiszenz an Alexander von
Humboldt, Spuren und Teile von Tieren, Pflanzen, Steinen, Wurzeln und Blätter.
Alle diese Bruchstücke sind collagenartig miteinander verbunden und bilden auf
diese Weise jeweils interpretierbare Gebilde. Aber diese Gebilde wirken nie in
sich geschlossen, nicht, wenn man so will, abgerundet, fertig oder vollendet,
sondern ausschnittartig, brüchig. Sie sind selbst wieder Fragmente, Fragmente
eines von vorneherein bestehenden Bruches. Das ist eine treffende darstellerische
Interpretation des Phänomens Berliner Stadtschloss – Humboldtforum.
Über jede Autorin und jeden Autor, über jede
Übersetzerin und jeden Übersetzer finden sich hinten im Buch informative Kurz-biographien.
Allein über die die äußere Gestalt der Anthologie so sehr prägende Künstlerin
Sofίa de Juan findet sich im Buch enttäuschender Weise keinerlei Informationen.
Nur im Vorwort wird sie kurz namentlich erwähnt. Dieser Mangel ist ausdrück-lich
zu kritisieren.
Die Gedichte selbst lassen sich grob in zwei
Gruppen unterteilen. Die eine Gruppe beschäftigt sich direkt oder indirekt mit
dem Humboldt Forum und zwar sowohl als Gebäude (dem Stadtschloss also), als
auch als Idee, die andere Gruppe beschäftigt sich mit den Humboldt-Brüdern.
Wobei die eingangs erwähnte Nicola Grillo und Timo Brandt interessanter Weise als
einzige sich Wilhelm von Humboldt widmen, alle anderen dem Bruder Alexander,
dem Naturforscher, Genauigkeitsfanatiker, Entdecker, Erkunder.
Gegenstand von Grillos Gedicht Wilhelm
/ Guglielmo (so auch der Titel im italienischen Original) ist das Verhältnis
zwischen Vernunft, Welt – die dein Bruder durchmisst, um Ordnung
in die Arten zu bringen, / während du still und stimmlos die Namen hauchst – und Sprache/Sprechen:
im
Anfang war immer das Wort, / das Zeichen, das Form gibt, / die Stimme die ruft,
die Klage, / die über Not aufklärt … Und, an anderer Stelle, im Original: Ma
Wilhelm, hai mai pensato / come il tuo nome risuano diverso / in ogni lingua und in der
deutschen Fassung: Aber Guglielmo, hast du je gedachte /
wie anders dein Name klingt / in jeder anderen Sprache … Der
Übersetzer Tobias Roth spielt hier geschickt mit den Namen Wilhelm/Guglielmo
und auch Guillaume, der noch dazukommt, so, dass die Fremdheit des Namens in
der jeweils anderen Sprache deutlich wird: Wilhelm in der italienischen Fassung
und Guglielmo in der deutschen Übertragung. Wo bleibt, fragt die Dichterin
Wilhelm, wenn der Optimismus der Vernunft… entschlummert,
…. die einigende Sprache, / die verlorene Sprache – ohne eine
Antwort zu erhalten.
Von den von mir hier so genannten
Alexandergedichten sei beispielsweise Michael Speiers Humboldt
geht aufs Ganze und Maricela Guerreros Wie die festliche
Zusammenkunft von Wissenschaft, Kunst, Poesie und Humboldt einige Hindernisse
der gesellschaftlichen Glückseligkeit aufhebt (übertragen
aus dem Spanischen von Johanna Schwering) erwähnt. Beide umkreisen
poetisch-kritisch in längeren Texten Person, Reisen und Wirkung Alexander von
Humboldts, letztere auch im Hinblick auf die ökonomischen Folgen seiner gewonnenen
Erkenntnisse. In einem interessanten Prosa-Bildgedicht, Tektonische
Übung über Alexanders Ruhm und andere Kreise des historischen Vulkanismus, welches ein
Haus mit Dachgiebel von vorne zeigt, worüber aber ein Abstract
und Schlüsselwörter gelegt sind,
versucht die portugiesische Gedichtperformerin Denise Pereira dem Wirken und
Reisen Alexanders beizukommen (Übertragung aus dem Portugiesischen von Mário Gomes).
Im Vorwort der Anthologie wird erklärt, die
eingereichten Beiträge vermittelten die Vor-stellung des Humboldt Forums in der
Mitte Berlins „als Ort der Reflexion und der Offenheit, der Umarmung der Welt…“.
Das mag auf die Gebrüder Humboldt und vor allem auf Wilhelms Vorstellung von
der Weltansicht
der Sprache … weil erst die Verwandlung, die sie mit den Gegenständen vornimmt,
den Geist zur Einsicht des von dem Begriff der Welt unzertrennlichen
Zusammenhanges fähig macht (Über die Verschiedenheit des menschlichen
Sprachbaues) zurückzuführen sein. Diese angesichts des zwischenzeitlich
angefangenen Krieges in Europa wie aus der Zeit gefallen wirkende
Weltumarmungsfantasien werden von vielen eingereichten Beiträgen tatsächlich auch
nicht beglaubigt, jedenfalls nicht unkritisch bestätigt.
Einige wenige Beispiele: Volker Sielaff erinnert in
seinem Beitrag (Die Siebziger) an die
Vorgeschichte des Forums, an den Palast der Republik, der ja ebenfalls Teil,
Zeichen und Ausdruck deutscher Geschichte war. Der Dichter geht nachts durch
den Palast der Republik und durch das Berliner Stadtschloss, ungeachtet der
Tatsache, dass beide nicht mehr stehen, sondern von den jeweils Mächtigen
entsorgt wurden. Er fragt, ohne eine Antwort zu erhalten: Wem
gehören die Dinge, die erinnerten und die vergessenen? Harald
Albrecht nennt das Forum in seinen beiden Beiträgen Omphalos Berlins…Aber er
Ist Kains Mal,/ das Anfang ist / trotz allen Widers. Auch Daniel
Bayerstorfer (Schlösser die im Monde liegen und
erwachen) will einen Omphalos erkennen, der ist / Zentrum und Fenster
zugleich und so ein Sandstein am richtigen / Ort, wenn er das überlieferte
Viereck ermöglicht, ist ein Schloss. Und am Schluss die dazu naheliegend-unvermeidliche
Mythe: Es ist / spät abend, als K. ankommt.
Oder Max Czollek entdeckt in seinem Gedicht alphabet.
irrtum. methode … die rekon-struktion der alleebebauung als verlängerter
verlust, / versuch, zeit hinter den Augen einzuschließen wie bernstein. Der
portugiesische Dichter Dίdio Pestana (Von dir weiß ich nichts) bekennt
ganz unpathetisch: Ich las du warst dies und jenes / doch
für mich bist du: / Schule und Baumaterial, / Busunglück und Stadt … Armin
Steigenberger (videopanorama humboldtiensis) beschreibt
das Forum aus der Sicht eines Touristen gekonnt humoristisch-ernst, indem er
jeweils aus der Pandemie erinnerte Warnhinweise karikierend einflicht: auf
einen spannenden rundgang in berlin / durch das gesamte gebäude der geschichte,
/ ein großer paradeplatz / bitte maske aufsetzen!
Die poetisch sprachliche und inhaltliche
Vielfältigkeit der einzelnen Gedichtbeiträge kann hier nur angedeutet werden.
Jordan Lee Schnees Text (Deutungen) z.B. erscheint
dreisprachig: Ivrit, Jiddisch und Deutsch (Übertragung von Arndt Beck). Wer des
Arabischen mächtig ist, kann auch Lina Atfahs Gedicht Alexander
von Humboldt geht im Gedicht spazieren (Übertragung ins Deutsche von
Osman Yousufi) im Original lesen. Der Abdruck fremdsprachiger Gedichte in der
Originalsprache ist auf alle Fälle ein Lese- und Erkenntnisgewinn. Auch wenn
nur zwei der Autorinnen außerhalb Europas leben (Clea Roberts in Kanada und
Mericela Guerrero in Mexiko-Stadt), die Gedichte also nicht „aus aller Welt“
kommen, tut dieser Umstand der Variationsbreite und Abwechslung in sprachlicher
und poetischer wie politischer Hinsicht keinen Abbruch. Der Band ist unbedingt zur
Lektüre zu empfehlen.