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Das fünfte Schock

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Christiane Kiesow


Das fünfte Schock



In einer limitierten Auflage von 120 Exemplaren ist im Distillery Verlag Das fünfte Schock erschienen. Eine Mini-Anthologie mit Gedichten von Peter Engstler, Dirk Fröhlich, Jayne-Ann Igel, Lilly Jäckl und Urs Jaeggi. Sie beerbt Die Schock Edition, eine Lyrikreihe der EdK Berlin, die „in 4 Ausgaben zwischen Januar 2011 und April 2013 erschienen ist [und] jeweils 12 Gedichte von fünf Autoren in fünf Heften mit jeweils einer Grafik im Innenteil versammelt [hat].“¹ Im Unterschied dazu sind die Texte beim fünften Schock nun stärker zusammengerückt und in einem gemeinsamen Band vereint. Illustriert wurden die Seiten mit Zeichnungen unterschiedlich scharfkantiger Gesteine von Jochen Scheiper, die zuweilen an fossile Funde erinnern.

Das 12-Gedichte-Format ermöglicht es den Autor_innen, ein poetisches Programm auszuprobieren, das sich in nur einem Text nicht unterbringen ließe, gleichwohl aber in der Dimension eines ganzen Gedichtbandes überstrapaziert wäre. Diesem Umstand, ich nenne ihn mal unbekümmert »Freiraum«, ist es auch zu verdanken, dass die Texte sehr unterschiedlich und „teils experimentell“, wie es auf der Verlagsseite heißt, mit den Möglichkeiten poetischen Ausdrucks spielen können. Der rezeptionsästhetische Vorteil gegenüber anderen Anthologie-Varianten ist: ich kann mich länger in die jeweiligen Schreibansätze vertiefen.

Der Band startet zunächst mit Miniaturen von Peter Engstler:


»Kein Vergleich übereinstimmendes
immerwährendes Entleeren Fliehen
aus Raum So stille Rose mit Falten Rot
Ereignisse verlaufen linear
so ist ihr Verhängnis«


Sie sind so angeordnet, dass nicht recht auszumachen ist, ob es sich um ein einziges Gedicht mit 12 Strophen oder aber 12 Variationen eines Themas handelt, das „Manzanita 1-12“
² heißt. Beim lauten Sprechen fällt mir ein ganz eigenwilliger Rhythmus auf und im Schriftbild dezent gesetzte Abweichungen vom herkömmlichen Sprachverständnis. So werden z.B. allein durch das Unterlaufen der Groß- und Kleinschreibepraxis deutliche Akzente gesetzt. Im Gedächtnis bleiben mir Zeilen wie „im Pulver Natürlich standen Bäume“ und „jeder Baum gleich diesem weichen Fell Tier“. Ein eher punktuell gesetztes Abweichen von der automatisierten Sprachfolie, ganz im Gegensatz zu den gleich darauf folgenden Texten NOi+iDE von Dirk Fröhlich, die ein bisschen das Hirn zerfransen. Er scheint eine ganz neue Art von (Schreib)Sprache zu erfinden, eine wilde Kombination von Buchstaben mit Zahlen und Sonderzeichen an der Grenze zur Bildlichkeit; und beginnt damit schon bei seinen eigenen Namen: er schreibt unter dem Pseudonym dirk frölic. Seine Texte zwingen eigentlich zum lauten Lesen, da Wörter wie „ainzaitic“ immerhin beim Aussprechen an Existierendes erinnern (einseitig/einzeitig), aber man stößt schnell an Grenzen. Wie kann etwa die Zeichenkombination +X+ korrekt ausgesprochen werden? Spricht man bloß „Plus - großes X - Plus“, dann unterschlägt man die Bärenschnute bzw. das vielleicht so in die Zeichenwelt hinübergerettete Sprichwort „drei Kreuze machen“. Ein ganz eigenes „Schalks=Esperanto“, wenn man so will – die Nähe zu Arno Schmidts Etym-Theore ist zumindest denkbar.

»tekzte: dinge vi ferfloxtene doxte«


Mit erfundener Sprache arbeiten auch zwei der zwölf Texte von Urs Jaeggi. Mein Lieblingsgedicht von ihm ist xlifojot povu:

xlifojot povu

ein wort und noch eines in
einer unbekannten sprache
sjuzerwabe

sjuzerwabe
im entfernen sich nähern
xlifojot povu di
sjuzerwabe dac salba kalaka
pin klong zu


dicht werden


Der Text lässt mich an Jürgen Buchmanns Band Grammatik der Sprachen von Babel denken. Darin gibt es einen Bericht über eine besondere Papageienart, die „Dulucati“ genannt wird. Der Erzählung nach lebten die Dulucati zusammen mit einem kleinen Stamm von Einheimischen, denen Schriftkultur noch fremd war, auf einer entlegenen Insel. Dieses Völkchen hatte eine eigene Sprache entwickelt, deren Worte die Papageien nach ihrer Art zuweilen imitierten. Nachdem durch Kriege der ganze Stamm ausgelöscht worden und somit die Sprache unwiederbringlich verloren war, galten jene Dulucati als letzte lebende Träger der ansonsten toten Sprache. Sie wurden sehr teuer gehandelt. Ich stelle mir die unbekannten Wörter im Gedicht wie Protokolle vom munteren Geschwätz der Dulucati vor und phantasiere ein wenig über ihre möglichen Bedeutungen. Sjuzerwabe und xlifojot povu weisen dabei einen besonders zärtlichen Klang auf. Ich möchte sie sofort als Kosenamen für mir selbst besonders liebe Dinge verwenden.

Blättert man im fünften Schock wieder ein wenig zurück, findet man die Gedichte von Jayne-Ann Igel. Sie sind nachdenklich, schwermütig, nostalgisch und ein bisschen morbid, bei Zeilen wie „alle mühselig bemühte verwandlung muß scheitern“ oder „wächst das rettende auch, holder, oder sind wir längst verlorene, weil wir die regeln außer kraft gesetzt?“ oder „der schatten licht, reflektiert von den wassern, verlor sich, gleich dem perlmuttschimmer…“ Igel arbeitet mit Gesten der Andeutung bzw. offenen Enden, viele Gedichte laufen in Auslassungszeichen aus. Vielleicht sind es aber auch Stellen zum freien Andocken eigener Gedanken?

»knurrende klaviere, wir liebten diesen tiefsten ton, der
selten zu vernehmen, der mich an dunkel, schmutz
keller denken ließ, an dessen niedrige decke, von der die
spinnweben, schwarz, in fetzen hingen ….«


Bei Lilly Jäckl schließlich wird jedes ihrer Gedichte von der Nachricht „drunk man hangs from electricity wires in china“ eingerahmt – einer Überschrift zu einem Video, das durchs Netz gegangen ist und unter dailymotion angesehen werden kann: Der Mann, der sich betrunken an den Kabeln entlang gehangelt hat, überlebte den Sturz aus großer Höhe nahezu unbeschadet.

Der Bilderrahmen ist ein Verweis auf eine andere Medienform (muss sich das Gedicht dazu ins Verhältnis setzen?) und wirkt zugleich wie ein lakonischer Kommentar in Erinnerung an die Redewendung „In China ist ein Sack Reis umgefallen“. Wird hier der Nachrichtencharakter dieser Meldung in Frage gestellt? Und was ist eigentlich ein Ereignis? Ist ein Gedicht ein Ereignis? Und worin unterscheidet sich die Ereignishaftigkeit einer Meldung von einem Gedicht?
Einige Texte von Jäckl sind dann auch politischer Natur. Sie tragen Titel wie „Problem-kindergarten“, „karriere“ und „Mein Platz in deiner Schublade“. Andere entwerfen interessante Räume:

Z.B. so:

» (…)
an der wand des gesagten
das portrait einer ratte
hängt an haken oder fallbeil
blutet aus maul oder körper
sieht dich unvermittelt an. «


Oder auch so:

»links: gaskammer rechts: mottenkiste vorne: zierrat
hinten: separé drüber. Einkaufstasche drunter: was von
ethik seitlich: erinnerung mitunter: hauseingang letztens
keimfähig übrigens morgen: beweislastend gestern:
verhörzimmer morgen: baudenkmal links: beweisstücke
(…)«


Was mir insgesamt gefällt, ist dies: Das fünfte Schock versammelt sehr verschiedene Schreibansätze und lässt sie friedlich nebeneinander koexistieren. Allein für diese unaufgeregte Vielfalt muss man dieses Buch schon schätzen.

___________

¹ http://www.distillerypress.de/edk/schockedition.html
² Ibid.: 117. https://de.wikipedia.org/wiki/Manzanita


(Peter Engstler, dirc frölic, Jayne-Ann Igel, Lilly Jäckl, Urs Jaeggi:) Das fünfte Schock. Leipzig (Distillery) 2016. 80 Seiten. 12,00 Euro.


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