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Daniel Bayerstorfer: Gegenklaviere

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Kristian Kühn

Was alles verdeckt


Die hochroth-Editionen gibt es seit Herbst 2017 nun auch aus München. Tristan Marquardt und Tim Holland, die beiden Herausgeber hier, eröffneten mit zwei jungen Autoren, Felix Schiller (aus Berlin) und Daniel Bayerstorfer aus München.

Daniel Bayerstorfers Debut trägt den Titel „Gegenklaviere“ und beinhaltet drei Kapitel, nämlich eine „Plutosuite“ (6 Gedichte), gefolgt von „Netzhautfresken“ (16 Gedichte) und dem „Wiegenlied am Tage“ (1 Abschweifung). Schließlich noch das Glossar (7 Seiten Erklärung zu Begrifflichkeiten und Zitaten in den Texten).

Die sechs Gedichte der „Plutosuite“ spannen – allein durch ihre Titel – einen weiten kosmischen Bogen zu Sphären der Musik als geheimer Sprachenergie für unsere sichtbare wie unsichtbare Welt. Doch wird sie zugleich – im Gegensatz zur Lehre der Harmonik mit Ordnungsketten und Hierarchie – mikroskopisch dekonstruiert (z.B. „Gaspedal der Jahreszeit für die Strecke ‚Blatt‘“), dekonstruiert auf geheimes getaktetes Geschehen hin, nicht sichtbar fürs menschliche Auge – zum Beispiel das Achselzucken der Häuser, ein Blick in Pappeln wie in den Keller, oder eine Wahrnehmung, die aus Wolken „das stumme Fleisch der Wolkenauster“ sichtbar macht.

Nimmt man beispielsweise E.T.A. Hoffmanns „Goldnen Topf“ als Vergleich, in der es auch zwei Welten gibt, die der Spießer und die magische, die nach Atlantis führt, in den Urzustand der Menschheit – so hält sich Bayerstorfer an den Zwerg Pluto, dem die Referenz, Planet zu sein, mittlerweile von der Wissenschaft abgesprochen wird.

Bayerstorfer interessiert die Gegenseite, die dunkle des Mondes, in der das Bewusstsein unserer sinnlichen Wahrnehmung schwindet, zum Beispiel nicht Romulus sondern Remus – wie schmeckt die Wolfsmilch ihm? Wie hätte Rem ausgesehen statt Rom? Wie steht es mit der Rückseite? Dem Negativ unserer Bilder? Wär Hannibal dann nicht mit Elefanten über die Alpen gezogen, sondern durch grüne Hügel? „ohne Elefanten und Kriegsgerät?“

Jede Polarität hat nicht nur zwei Pole – Bayerstorfer bringt die Gegensatzpaare, aber ihn interessiert auch, was auf den jeweiligen Rückseiten sich befinden könnte.

                                                    Quod tegit omnia: Horizont. Zentral-
Perspektive hält Entfernung auf Distanz. Man will das Absinken
von Städten durch stützende Städte verhindern und diese Städte
besiedeln.
     
So sind sie, unsere Gegenklaviere – spielen eine Fuge aus verbotenen bzw. gelöschten Bewusstseinsbildern – benutzen ihre eigene Gegenoktave. Wenn die Entwicklung ein Rem zugelassen hätte statt dieses Fresko Rom, dann vielleicht auch statt Mai ein Floréal – wie es im Glossar heißt:

Von lat. flos, floris (Blume), wurde im Republikanischen Kalender der Französischen Revolution der Zeitraum vom 20. April bis zum 19. Mai genannt (vgl. 18. Brumaire VIII). Die Tage dieses Gegenmais tragen die Namen: Rose, Eiche, Farn, Hagedorn, Akelei, Nachtigall, Maiglöckchen, …
 
Blattlaus statt Blumenstruktur, Bayerstorfer zeigt in seinen kryptischen Gedankengängen immer mal Humor – „die Innenseite der / Lider aus Schmirgelpapier“.

Es stimmt nicht, was Juliette Gruner („Verweigerte Oberfläche“) in fixpoetry zu dem Band schreibt, dass dieser uns vor allem nur mit „Bedeutungsscherben konfrontiert“, im Gegenteil: Bayerstorfer führt behutsam in die Gegenwelt (Adagio), gibt Beispiele, Erklärungen, nimmt die Lesenden bei der Hand, manchmal fast zu deutlich, möchte ich sogar meinen, vorausgesetzt, man lässt sich auf diese Plutoseite der Welt ein, auf dieses Zwergenhafte des Makrokosmos im Mikrokosmos, auf unsere Wahrnehmung innerhalb der Nuss, die wir Welt nennen. Wir kommen über die Innenseite der Schale nicht hinaus. Warum?

Der Hauptteil des Bandes heißt „Netzhautfresken“ – ist uns diese uns zugewandte Seite der Matrix bereits eingebrannt? Bayerstorfer gibt bereits mit dem Motto des Hauptteils die Richtung vor. (Marcel Proust: Es fing damit an, daß ich in der mir ungewohnten Drehtür das Gefühl hatte, ich fände niemals wieder heraus.)
 
„Gegenklaviere zu uns stehen irgendwo verteilt in
dieser Stadt, deren Anschlag man
manchmal während einer Zigarettenpause spürt.“  
     
Bayerstorfer erweitert im Hauptkapitel seinen mikroskopischen Kosmosblick und verengt ihn zugleich, nach dem Chaos-Motto: Quod tegit omnia, indem seine Autopsie diverse Städte untersucht, um herauszufinden, inwieweit unsere Netzhaut uns mit versteinerten Wahrnehmungs-fresken täuscht bzw. einengt, und was trotzdem möglich ist (Humor zum Beispiel).  
 
Dieses Chaos-Motto ist ein Zitat von Ovid: Metamorphosen, I, 5-9:
 
Ante mare et terras et quod tegit omnia caelum
unus erat toto naturae vultus in orbe,
quem dixere chaos: rudis indigestaque moles
nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem
non bene iunctarum discordia semina rerum.

Vor dem Meer, dem Land und dem allesbedeckenden Himmel gab es auf
der ganzen Welt nur eine Gestalt der Natur, die man Chaos nannte: ein
roher und ungeordneter Klumpen und nichts anderes als träge Masse und
ebendahin zusammengehäufte zwieträchtige Samen nicht gehörig
verbundener Dinge.
        
Warum also verwehrt das Negativ uns die Sicht? Weil die Gestalt der Welt für uns dort im Chaos versinken würde, deute ich mal.

Zum Schluss das "Wiegenlied am Tage", die Abschweifung – nun vergleicht Bayerstorfer den Kosmos mit einem Laib Brot, also mit einem Nahrungsteppich – darauf deutet das Motto Julio Cortázars: Im Brot ist es Tag.

Chaos und Ordnung, Harmonie und Kakophonie – zwei Seiten der Medaille Welt, Bayerstorfer gibt noch ein drittes hinzu, den permanent möglichen Wechsel, die Drehtür zwischen Erfolg und Versagen, Eindruck und Grenze, und so beginnt dieses Wiegenlied am Tage mit dem Vers:

             „Im Fallen zerdrückt, lauschen die Kirschen der Rinde.“

Der Brotlaib, die Rinde unserer Wahrnehmung, Hamann nannte sie „Nuss“ in seinem Essay „Aesthetica in nuce“ (206, 21: „Wenn eine einzige Wahrheit gleich der Sonne herrscht; das ist Tag.“), wir aber sind Gefangene unserer ästhetischen Wahrnehmung, wie ein Laib im Ofen.
 
Und es ist Tag, aber wir sehen ihn nicht.

Und man sagt: Zu jedem Gedanken
gibt es in der Tiefsee irgendein Getier,
das diesem an Gestalt gleicht.
 
So endet das Debut: Wie Hekate mit den zwei Lichtern und den zwei Hunden (oder wie Hermes, der Dieb bei Nacht), lenkt uns Bayerstorfer durch schwarze Löcher des Bewusstseins in Zusammenhänge (durch die Drehtür) von Harmonie und Chaos, mal mikroskopisch, mal grobflächig, ins Reich der Eidola und ihrer Gegenbilder. Wer Lust auf Vexierspiele hat und ausreichend in der hermetischen Tradition und ihrer Abarten sich zuhause fühlt, der lese unbedingt diese „Gegenklaviere“. Es gibt viel darin zu finden, um möglicherweise damit die Netzhaut zu reinigen.

Aber vielleicht muss man erst geneigt sein, eigene Wirklichkeitsmodelle links liegen zu lassen, denn – wie es in einem astrologischen Buch über den feurigen Schöpfungskern Plutos heißt – „Die Unterscheidungen passieren folglich im Gehirn, in unserem Denken. Die plutonischen Kräfte aber strömen jetzt aus Quellen, wo wir die Gegensätze nicht mehr so ohne weiteres verdrängen können, weil uns der als positiv erkannte Pol tief im Innern unangenehm berührt. Pluto verkörpert eine Macht, vor der wir unbewußt zurückschrecken, weil wir instinktiv erahnen, daß sie uns zu überwinden droht. Diese Macht werden wir nie beherrschen können, weil sie, einmal entfesselt, alles überrollt.“


Daniel Bayerstorfer: Gegenklaviere. München (hochroth) 2017. 56 Seiten. 8,00 Euro
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