Christian Steinbacher: Gräser im Wind
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Jan Kuhlbrodt
Beliebigkeit, Ordnung und Zufall
zu Christian Steinbachers Gräser im
Wind
Ein Dehnen von Momenten ist's, das uns da zum zentralen Vorhaben wird. Ja, immerzu gedehnt will das sein, ja und ja, und ja, und ja und ja und ja.
Beliebigkeit ist eine Behauptung,
die sich angesichts von Literatur und Kunst nicht aufrechterhalten lässt,
wiewohl sie der Hauptvorwurf gegen die Postmoderne ist. Ein Text, der beliebig
in seiner Struktur anmutet, verliert diese Anmutung, wenn man ihn lange genug
betrachtet. Denn dann tritt seine Ordnung hervor, auch wenn der Autor das
vielleicht gar nicht im Sinn hatte. Aber Sprache an sich birgt schon Ordnung.
Das unterscheidet sie vom Geräusch.
Etwas anderes ist es mit dem
Zufall. Vielleicht kann man sagen, dass man den Zufall nutzen kann, um eine
Ordnung herzustellen, oder das sich zufällig etwas in eine Ordnung bringt.
Das Kaleidoskop verbindet beides.
Eine zufällige Anordnung von Elementen wird durch Spiegel in eine Ordnung
gebracht. Sich wiederholende Strukturen. Aleatorik und Zwölftonmusik. Eine
begrenzte Anzahl von Elementen, strenge Wiederholungen. Und eben Spiegelungen.
Als Kind habe ich Stunden mit einem Kaleidoskop zugebracht, ich hatte einige davon, aus Pappe, und in der Kinderarztpraxis, in der ich an der Seite meiner Mutter meine Mumpsbacken vorstellte, gab es große Säulen, mit Sicht-löchern und Rädern, hinter denen sich auch Kaleidoskope verbargen. Das machte die teils langen Wartezeiten trotz Wangenschmerzen erträglich.
Eva: Und er sprach nicht mehr davon.
Elmar und Erika: Und er redete nicht mehr darüber.
Ausgangspunkte in Steinbachers Texten sind alternierende Übersetzungen des Prosawerkes Das Gras von Claude Simon. Einerseits die Übersetzung von Erika und Elmar Tophoven und zum anderen die von Eva Moldenhauer. Eingeführte Namen, wenn man Beckett gelesen hat oder etwa auch Claude Simon – und kein Französisch versteht. Man hat dann eben keinen Beckett gelesen, sondern Texte nach Beckett.
Und hier bin ich schon ohne
Schwimmente ins tiefe Wasser geworfen. Denn Französisch beinhaltet mein
Sprachschatz nicht. Ich bin also auf die Übersetzungen angewiesen.
Über-setzungen, hinter denen das Original verschwindet. Inhalt, so scheint es,
ist Mutmaßung. Oder er ist derart an seine sprachliche Gestalt gebunden, dass
er mit ihr sich verliert.
Steinbacher aber ist es nicht daran
gelegen, durch Vergleich der alternierenden Übersetzungen, die eine der anderen
vorzuziehen und als gültig darzustellen. Es geht ihm also nicht um einen
Richtspruch, vielmehr dringt er in die Lücke zwischen den Alternativen. Und
durch die Lücke hindurch eröffnet er sich und damit dem Leser einen
Konnotationsraum, der sich als riesig erweist.
Ich musste hin und wieder an Pascal
denken und dessen Anmerkungen zur Unendlichkeit, die sich nämlich nicht nur in
der Größe erweist, wenn man einen Streckenabschnitt an einen anderen setzt,
sondern auch nach Innen gewissermaßen, im Bereich zwischen den einzelnen
Punkten, der ebenfalls ins Unendliche reicht, ins unendlich Kleine dann eben.
Und natürlich landet man immer wieder bei Benjamins Aufgabe des Übersetzers.
Wenn Benjamin anmerkt, dass Übersetzungen Sprachen in Korrespondenz versetzen,
kommt hier inwendig noch eine Drehung hinzu. Die Korrespondenz findet nicht
zwischen Ausgangssprache und Zielsprache statt, sondern sie setzt die
Zielsprache selbst in Bewegung. In jene eben, die an das Schütteln oder Drehen
des eingangs erwähnten Kaleidoskops erinnert, und die Zufall und Ordnung auf
eine Stufe bringt.
Ich staune beim Lesen wie ein Kind.
Zu erwähnen wäre noch, dass ich
über Urs Engelers Mützen auf
Steinbachers Texte gestoßen bin, denn darin wurden Auszüge des Textes
abgedruckt.
Christian Steinbacher: Gräser im Wind. Ein Abgleich. Wien (Czernin) 2017. 312 Seiten. 28,00 Euro.