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Christian Prigent: (cher journal)

Gedichte > Münchner Anthologie

Christian Prigent



(cher journal)


5/7 (p-m). Niquabs & strings sur l'estran.
Pensée : « vie » = un massage géant.
Lu au kiosque : Le poil dans le X ? Plus qu'un
Marché de niche (ici : non). Sous spot des seins

Rutilaient (penser noter label pub des
Huiles). Cher Journal est-ce en moi l'instinct de
Ciel qui aime mieux la mouette ou sterne que
Méduse ? Et le carmin qu'encalitait

Mes carnations serait-ce (en stretch lycra l'a
Mas femelliflue cuit sous Phébus) pas l'A
DN cro-magnon 'core accroc à mon rogn'
On qui me ramone la caverne et grogne ?


(cher journal) by Christian Prigent in "La Vie moderne"
© P.O.L Editeur, 2012


Christian Prigent



(dear diary)


5.7. (p.m.) Schleier und Strings überm Watt.
Gedacht: «leben» = a giant message.
Gelesen am Kiosk: Das Haar im Porno? Mehr als ein
Nischenmarkt (hier: nicht). Unterm Spot glänzten

Brüste (drandenken: die Marken der Öle
notieren). Liebes Tagebuch liegts an meinem Himmels
Trieb, der Möwen oder Schwalben mehr liebt als
Medusen? Und Scharlach bemutterte

meine Karnat/ionen (in Stretchlycra schmilzt Mas
se weibchenviskos unter Phébus) das wären keine D
NS Pleistozänzombies 'Nucleusriss im Org'
An dem mir die Motten maulend schaben?


(cher journal) von Christian Prigent in "La Vie moderne"
© P.O.L Editeur, 2012


Walter Fabian Schmid


Instabile Memoiren
Ein Übersetzerkommentar als Lesezugang



«Liebes Tagebuch». Da weckt aber jemand mächtige Befindlichkeitserwartungen. Und dann steigt er auch noch stockkonventionell ein mit Datum und pro memoria, was ziemlich sinnlos ist; denn ins Tagebuch schreib ich ja eh nur, was ich mir merken will. Aber Stopp. Mit logischen Schlüssen kommt man bei Prigent nicht weit. Wer sagt denn, dass «p-m» ausschliesslich eine Selbstaufforderung zur Erinnerung ist? Ebenso kann das lyrische Ich am 05.07. p.m. also nachmittags unterwegs gewesen sein. Oder es befindet sich im Grundwehrdienst, weil «préparation militaire» auch so abgekürzt wird. Bei einem Schriftsteller wie Christian Prigent, der sich stets zwischen den Sprachen bewegt, heisst es erst einmal jedes einzelne Wort gründlich abzuklopfen, was es noch bedeutet und was sich in der Interferenz zwischen dem Französischen und seinem Englischen Pendant abspielt.


Aber nicht nur durch Mehrdeutigkeit und Mehrsprachigkeit zerstreut Prigent den Sinn, sondern er schaut auch tief in die Wörter hinein. Was steckt noch alles in einem Wort und was kann ich durch Abschneidungen oder kühne Versumbrüche zusätzlich freilegen? Was passiert, wenn ich Wörter amalgamiere und ihren Sinn übereinanderlege? Das Ergebnis solcher Fragen ist, dass auf einmal ein karges X im Gedicht rumsteht, die undefinierte Abkürzung «Mas» auftaucht und der Phébus in mythologische, aber auch technische Richtungen weist. Gut, mit der Präsenz von Disparatem kann man noch relativ gut umgehen, ist ja im Endeffekt nur ein lustiges Verweisspiel; tricky wirds allerdings bei Wortverschmelzungen und -trennungen. Was mach ich als Übersetzer oder Interpret mit « encaliter » ? Soll das enca(drer+a)liter bedeuten, also jemanden betreuend ins Krankenbett schicken? Und wie krieg ich dann noch das mitklingende « en qualité » unter? Was mach ich mit der zerrissenen Niere « ragn/on », wo das « on qui » über den gesampelten Kurzschluss eine neue Satzstruktur einleitet?

Da bleibt einem nur die alte Dekonstruktion, die selbst eine Kaleidoskopie betreibt. Vielleicht ist das aber auch eine Lehre für den Umgang mit den Gedichten generell. Ausbuchstabieren und paraphrasieren kann mans sowieso nicht, also darf man sich auch mal von Suggestionen und Assoziationen leiten lassen. Letztlich ist die Rahmenbedingung von « cher journal » ja auch ganz grundlegend ein Dialog zwischen einem Schreibenden und dem Papier. Nur tritt das, was das lyrische Ich da niederschreibt, selbst vielfach in Dialog. Und natürlich steht auch die Nachdichtung wieder in einer Dialogsituation zum Ausgangstext, indem sie ihm Antworten und Interpretationen liefert.

Eine solche Art von Vernetzung ist neben der intensiven Spracharbeit das Grundmerkmal von Prigents aktuellem Band « la vie moderne »; nämlich die Vernetzung aller Arten von medial präsenten Diskursen mit der Rede der Zeit. Das Gedicht holt sich seinen Content aus diversen Natur- und Gesellschafts-wissenschaften verlinkt ihn mit der Mythologie und wird im Zeitalter des medialen Wandels selbst ein wandelndes Medium – immer ein bisschen gosseninfiziert und wissenschaftssteril zugleich.

Cool rüberkommen muss es natürlich auch noch. Deswegen verzichtet auch Prigent nicht auf das wohl schon obligatorisch Lachhafte. Aber das ist hier weniger gewollt, als dass es sich aus der Verkettung der Diskurse ergibt. Was vorgibt, uns die Welt zu liefern, ist für Prigent nur künstliche Maskerade, die er entblössend aufreisst und oft grotesk neu zusammensetzt. Wer sich allerdings unter Bedienung der gesamten poetischen Trickkiste auf diese Weise mit seinem Tagebuch unterhält, der versteht sich wohl selbst nicht mehr. Und nur so wird dieses Journal als Zeitaufnahme des «modernen Lebens» doch noch zu einer subjektiven Aussage ex negativo.

Christian Prigent
© J. Foley, Opale / P.O.L

Walter Fabian Schmid

Christian Prigent, 1945, Lyriker, Dramatiker, Romanautor und Essayist, Preisträger des Prix Louis Guilloux 2007, ist eine avantgardistische Stimme zeitgenössischer französischer Literatur. Sein Werk erhebt den Anspruch einer Neuinterpretation klassischer Fragen - mit Humor und Unverfrorenheit geht er ihnen nach.


Lyrik
:
La belle journée, poésie, 1969
Femme dans la neige, poésie, 1971
La mort de l'imprimeur, poésie, 1975
Paysage avec vols d'oiseaux, poésie, 1982
Une élégie, poésie, 1983
Une leçon d'anatomie, poésie, 1990
Écrit au couteau, poésie, 1993
Dum pendiet filius, poésie, 1998
L'âme, poésie, 2000

La Vie moderne, poésie, 2012

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