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Charlotte Coch: Lektüre als Form

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Jan Kuhlbrodt

Charlotte Coch: Lektüre als Form. Das absolute Buch bei Friedrich Schlegel, Walter Benjamin und Niklas Luhmann. Bielefeld ([transcript Verlag]) 2021. 376 Seiten. 49,00 Euro.

Zu Charlotte Coch


Charlotte Coch legt im Verlag [transcript] einen hochspannenden Text vor, der „Lektüre als Form“ heißt, und der mich schon vom Titel her aufhorchen ließ, denn der Lektüre Form zu unterstellen, adelt sie, zumindest in meinen Augen, schon als Kunst. Sie tritt in diesem Titel also gleichrangig neben das Schreiben und das Buch. Coch verfolgt hier also ein Programm, das sie in Schlegels Ausführungen bereits begründet findet, wie sie im zweiten Teil des Buches darstellt. Im Kapitel „Arabeske: Reden/Schweigen“ schreibt sie:

„Sowohl die Produktion eines Kunstwerkes, wie auch die Auslegung sind als Kunst bestimmt, insofern sie eine nicht vorhersehbare Plausibilität erzeugen müssen – die, wie es im Begriff des Kunstwerks adressiert ist, in einer Schließung besteht, die in einem nicht schließbaren Medium, der Denkschrift, erreicht werden muss.“

Sie weist hier auf gewisse Paradoxien in Schlegels Denken hin, die letztlich die Kunst aus ihrem Achtsamkeitskäfig zu einem unendlichen Diskurs zu befreien anstreben. In diesem Zuge entwickelte Schlegel auch einen Begriff der Kritik, den Coch neben die Hermeneutik Schleiermachers positioniert. Und sie beobachtet dabei, wie Schlegels weitgefasster Kritikbegriff die Hermeneutik in sich aufnimmt, ja geradezu aufsaugt. Denn Kritik ist Verstehen, geht aber noch über das Verstehen hinaus.

Aber natürlich bleibt Coch bei Schlegel nicht stehen. Nur sieht sie in der Zeit der Frühromantik eine Zäsur, die die Art des Lesens betrifft und letztlich den Begriff auch verschiebt. Denn nicht unmittelbar nach Gutenbergs Erfindung, sondern erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung und der Verfeinerung und Ausgestaltung der Drucktechnik, kam es im achtzehnten Jahrhundert zu jener Bücherflut, der Schlegel sich letztlich konfrontiert sah. Die ihn zum manischen Leser macht, nicht ohne Pausen der Verzweiflung.

Wenn Lektüre bis dahin vor allem die Lektüre eines einzelnen Buches war, zumeist die der Bibel, das Auslegen des Textes, die langsame und wiederholte Lektüre, schlägt sie jetzt um in ein temporeiches Weglesen eines Bücherstapels. Aus dem Buch, das ein Universum war, wird ein Universum von Büchern, und genau in jener Zeit des Umschlags verortet die Autorin Schlegel.

Neben Schlegel führt sie im historischen Fortgang Walter Benjamin als gewissermaßen Scharnier zu Luhmann an, Benjamin, der im eigenen bibliophilen Verhalten eine Art sentimentalisches Verhältnis zum Materialen des Buches entwickelt. In seiner privaten Büchersammlung, die eben begrenzt ist, auch angesichts der unüberschaubaren Menge an Text, wählt er nach Einband und Haptik. Das im Privaten. Und natürlich greift Benjamin auf Schlegels Theorien zurück, wenn er seinen Text zur Kunstkritik der deutschen Romantik verfasst.

„Hier deutet sich schon an, dass die Begriffe für Benjamin eine andere Funktion erfüllen, sie sind nicht mehr dazu da, Öffnung und Schließung im Sinne einer das Begriffliche übersteigenden, sozial gefüllten Gesprächssituation einander symmetrisch gegenüberzustellen, wie dies bei Schlegel der Fall war. Sie dienen nurmehr der Schließung im Sinne einer Bewahrung der systematischen begrifflichen Ordnung.“

Im berühmten Zettelkasten, der unter Luhmanns Schreibtisch stand, und der Zitate und bibliographische Angaben enthielt, und dessen Ordnungssystem wohl nur von Luhmann selbst zu durchschauen war, und der letztlich heute als eine Art Kunstwerk in Bielefeld zu bestaunen ist, findet Coch eine Form der Lektüre, die aus dem Buch in eine, wie sie schreibt, Form des Ornaments führt, während sie bei Schlegel und Benjamin die Form der Arabeske findet. Die Arabeske in ihrer symmetrischen Form wird zur asymmetrischen des Ornamentes bei Luhmann. Im Ornamentalen greifen die Lektüren sozusagen ineinander, während sie sich in der Arabeske gegenüberstehen.  

Das Luhmann-Kapitel kann man übrigens durchaus auch als kurze Einführung in dessen Systemtheorie lesen.

Das Buch von Coch beginnt also mit einer Reihe begrifflicher Klärungen, die im Fortgang immer wieder eine Rolle spielen und präzisiert werden, allen voran der Begriff der Buchförmigkeit. Wenn ich bislang davon ausging, dass das eine das Buch und das andere der Text ist, wurde ich durch Coch dahingehend belehrt, dass die Buchförmigkeit dem Text im Grunde vor dem Druck bereits eingeschrieben ist, da er ja letztlich auf das Buch als Medium hin geschrieben wurde.


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