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Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, 11

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Constantin Guys: The Spread


Charles Baudelaire

Der Maler des modernen Lebens

Figaro. 26 et 29 novembre, 3 décembre 1863 (F) – fertig 1860/61

Übersetzt von Werner Wanitschek


XI

LOB  DER  SCHMINKE



Es ist ein derart abgedroschenes und albernes Lied, daß man es kaum zitieren kann in einer Arbeit, die einige Ansprüche auf Ernsthaftigkeit macht, doch das sehr gut im Vaudevillestil die Ästhetik der Leute, die nicht denken, wiedergibt. Die Natur verschönt die Schönheit! Es ist zu vermuten, daß der Dichter, wenn er hätte französisch sprechen können, gesagt hätte: Die Einfachheit verschönt die Schönheit! was dieser Wahrheit von einer ganz und gar unerwarteten Art gleichkommt: Das Nichts verschönt das, was ist.
    Die meisten das Schöne betreffenden Irrtümer entstehen aus der falschen Vorstellung des XVIII. Jahrhunderts die Moral betreffend. Die Natur wurde zu dieser Zeit als Grundlage, Quelle und Urbild jedes möglichen Guten und Schönen genommen. Die Verneinung der Erbsünde bestand nicht zum geringen Teil in der allgemeinen Verblendung dieser Epoche. Wenn wir dessen ungeachtet bereit sind, uns schlicht auf den sichtbaren Fall, auf die Erfahrung aller Zeitalter und auf die Gazette des tribunaux zu berufen, so werden wir sehen, daß die Natur nichts lehrt, oder fast nichts, das heißt, daß sie den Menschen zwingt, zu schlafen, zu trinken, zu essen und sich, so gut es geht, gegen die Feindseligkeiten der Umwelt zu schützen. Sie ist es auch, die den Menschen dazu bringt, seinesgleichen zu töten, ihn zu verspeisen, ihn einzusperren, ihn zu foltern; denn sobald wir den Zustand der Notwendigkeiten und Bedürfnisse verlassen, um den des Überflusses und der Genüsse zu betreten, sehen wir, daß die Natur nur zum Verbrechen raten kann. Es ist diese unfehlbare Natur, die den Vater- und Muttermord und die Menschenfresserei hervorgebracht hat und tausend andere Abscheulichkeiten, die zu nennen uns Scham und Zartgefühl hindern. Es ist die Philosophie (ich spreche von der rechten), es ist die Religion, die uns gebietet, unsere hilfebedürftigen und gebrechlichen Eltern zu nähren. Die Natur (die nichts anderes als die Stimme unseres Nutzens ist) befielt uns, sie zu erschlagen. Überprüfen Sie, untersuchen Sie alles, was natürlich ist, alle Handlungen und Wünsche des vollkommen natürlichen Menschen, Sie werden nur Scheußliches finden. Alles, was schön und edel ist, ist das Ergebnis der Vernunft und der Berechnung. Das Verbrechen, den Geschmack an welchem das Menschentier im Bauch seiner Mutter geschöpft hat, ist ursprünglich natürlich. Die Tugend dagegen ist künstlich, übernatürlich, da es, zu allen Zeiten und bei allen Völkern, Götter und Propheten bedurfte, um sie die vertierte Menschheit zu lehren, und da der Mensch, allein, unfähig gewesen wäre, sie zu entdecken. Das Böse geschieht ohne Anstrengung, natürlich, durch Schicksal; das Gute ist immer das Erzeugnis einer Kunst. Alles was ich von der Natur als schlechter Ratgeberin in Sachen Moral und von der Vernunft als wahrer Erlöserin und Reformatorin sage, kann auf die Rangordnung des Schönen übertragen werden. Ich bin somit veranlaßt, den Schmuck als eines der Zeichen für den ursprünglichen Adel der menschlichen Seele anzusehen. Die Stämme, die unsere verwirrte und verdorbene Zivilisation, mit einem ganz und gar lächerlichen Dünkel und Hochmut, gern als Wilde bezeichnet, begreifen, ebenso wie das Kind, die hohe Geistigkeit der Kleidung. Der Wilde und das kleine Kind bekunden, durch ihren ungekünstelten Drang nach dem Glänzenden, nach den bunten Gefiedern, den schillernden Stoffen, nach der höchsten Erhabenheit der künstlichen Formen, ihren Abscheu vor dem Wirklichen und beweisen derart, ohne ihr Wissen, die Immaterialität ihrer Seele. Wehe dem, der, wie Louis XV. (der nicht das Produkt einer wahren Zivilisation war, sondern einer Rückkehr von Barbarei), der die Verderbtheit so weit treibt, nur noch die einfache Natur* zu genießen!
    Die Mode muß also betrachtet werden als ein Zeichen für den Trieb nach dem Ideal, das im Menschengehirn die Oberhand behält über alles, was das natürliche Leben darin an Gemeinem, Irdischem, Unreinem anhäuft, als eine erhabene Verunstaltung der Natur, oder vielmehr als ein ständiger und aufeinanderfolgender Umgestaltungsversuch der Natur. Daher hat man verständigerweise darauf hingewiesen (ohne den Grund dafür zu entdecken), daß alle Moden reizvoll sind, das heißt verhältnismäßig reizvoll, insofern jede ein erneutes, mehr oder weniger geglücktes Bestreben nach dem Schönen ist, irgendeine Annäherung an ein Ideal, die Begierde nach welchem den unbefriedigten menschlichen Geist ununterbrochen kitzelt. Doch dürfen die Moden nicht, will man sie recht genießen, als etwas Totes angesehen werden; ebensogut könnte man schlaff und reglos im Schrank eines Trödlers hängende alte Kleider bewundern. Man muß sie sich vorstellen mit Leben und Kraft versehen durch schöne Frauen, die sie trugen. Nur so wird man ihren Sinn und Geist begreifen. Wenn also der Spruch: Alle Moden sind reizend als zu absolut mißfällt, dann sagen Sie, und Sie werden sicher sein, sich nicht zu täuschen: Alle waren rechtmäßig reizend.
    Die Frau hat ganz recht, und sie erfüllt sogar eine Art Pflicht, wenn sie bestrebt ist, zauberisch und übernatürlich zu erscheinen; sie muß erstaunen, bezaubern; als Abgott muß sie erglänzen, um vergöttert zu werden. Sie muß sich also bei allen Künsten die Mittel ausborgen, um sich über die Natur zu erheben und die Herzen besser zu unterjochen und die Köpfe zu verblüffen. Es macht gar nichts aus, daß die List und der Kunstgriff allen bekannt sind, wenn der Erfolg sicher und die Wirkung stets unwiderstehlich ist. In diesen Überlegungen ist es, daß der Künstlerphilosoph leicht die Rechtfertigung finden wird für alle zu allen Zeiten von den Frauen angewandten Praktiken, um sozusagen ihre zerbrechliche Schönheit zu befestigen und zu vergöttlichen. Deren Aufzählung wäre endlos; doch um uns auf das zu beschränken, was unsere Zeit gemeinhin Schminke nennt, wer sieht nicht, daß der Gebrauch des Reispuders, der von den naiven Philosophen so einfältig verflucht wird, zum Ziel und Ergebnis hat, vom Teint alle die Flecken zum Verschwinden zu bringen, die die Natur beleidigenderweise daraufgestreut hat, und eine abstrakte Einheit auf Körnung und Farbe der Haut herzustellen, welche Einheit, wie die durch das Trikot geschaffene, sofort das menschliche Wesen der Statue, das heißt einem göttlichen und höheren Wesen, annähert? Was das künstliche Schwarz angeht, das das Auge umgibt, und das Rot, das den oberen Teil der Wange belegt, dient das Ergebnis, obwohl ihr Gebrauch gleichen Ursprungs ist, zur Befriedigung eines ganz entgegengesetzten Bedürfnisses. Rot und Schwarz stellen das Leben dar, ein übernatürliches und übermäßiges Leben; dieser schwarze Rahmen macht den Blick tiefer und eigenartiger, verleiht dem Auge ein entschiedeneres Aussehen von auf das Unendliche geöffnetem Fenster; das Rot, das die Wange entflammt, erhöht noch die Helligkeit des Augapfels und fügt einem schönen weiblichen Gesicht die geheime Leidenschaft der Priesterin hinzu.
    Somit, wenn ich recht verstanden werde, darf das Anmalen des Gesichts nicht zu dem gemeinen, nicht anzuerkennenden Ziel gebraucht werden, die schöne Natur nachzuahmen und mit der Jugend zu wetteifern. Man hat übrigens bemerkt, daß der Kunstgriff die Häßlichkeit nicht verschönt und nur der Schönheit dienen kann. Wer wagte es, der Kunst das sterile Amt der Naturnachahmung zuzuweisen? Die Schminke muß sich nicht verstecken, muß nicht ihrer Entdeckung ausweichen; sie kann sich im Gegenteil zur Schau stellen, wenn nicht mit Affektiertheit, so doch mit einer Art von Offenherzigkeit.
    Ich erlaube gern jenen, die ihr schwerfälliger Ernst hindert, das Schöne bis in seine allerkleinsten Äußerungen aufzusuchen, über meine Bemerkungen zu lachen und sie kindischer Feierlichkeit zu beschuldigen; ihr hartes Urteil hat nichts, das mich berühren könnte; ich will mich zufriedengeben, es bei wahren Künstlern einzufordern, ebenso bei Frauen, die bei ihrer Geburt einen Funken dieses heiligen Feuers, in dem sie allesamt erstrahlen wollen, erhalten haben.



* Man weiß, daß Mme Dubarry, als sie vermeiden wollte, den König zu empfangen, Sorge trug, Rouge aufzulegen. Das war ein ausreichendes Zeichen. Sie schloß auf diese Weise ihre Tür. Indem sie sich schöner machte, vertrieb sie den königlichen Jünger der Natur.


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