Bülent Kacan: Die Liebe zu Wort kommen lassen
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Bülent Kacan
Die Liebe zu Wort kommen lassen
Ab einem bestimmten Zeitpunkt verliert die
Grammatik ihre ordnungsstiftende Funktion innerhalb der menschlichen Sprache
und die zwischenmenschliche Verständigung verselbstständigt sich, löst sich gewissermaßen
von der inneren Gesetzmäßigkeiten der Sprache, emanzipiert sich von dieser und
führt fortan ein Eigenleben, das eigenwilliger, das eigenmächtiger nicht sein
kann. Es ist dies ein wundersamer Augenblick, in welchem die Klarheit des
Gesichtsausdrucks jenseits der gesprochenen Sprache der Mitteilung eine
Ausdrücklichkeit verleiht, die unmittelbarer, die unmissverständlicher nicht
sein kann. Es sind dies insbesondere die Blicke von Verliebten, die Bände
sprechen. Die Gesichtszüge des Geliebten werden behutsam abgetastet und
augenblicklich gedeutet, noch das unscheinbarste Muskelspiel auf dem Antlitz
des Geliebten erzählt eine Geschichte, tatsächlich ist es ein Geheimnis, ein
Rätsel jenseits des sprachlich Fassbaren, das von der Geliebten auf Anhieb
gelüftet wird, Unbeteiligten allerdings, wie sollte es auch anders sein,
unverständlich erscheinen muss (und ein jeder kennt den Anblick eines
Liebespaares auf einer verwitterten alten Parkbank, kennt die atmosphärische
Dichte, die es umgibt und macht aufgrund der Befürchtung, die Liebenden in
ihrem öffentlichen Liebesspiel zu stören - ein Keil, der grob dazwischengeht -
einen hohen Bogen um sie herum). Jedes überflüssige Wort, das die
Verliebten austauschen, würde ihre Verständigung jenseits der gesprochenen
Sprache in Mitleidenschaft ziehen, würde ihr intimes Verhältnis gefährden.
Die folgenden Küsse sind Liebesbekenntnisse
der ausgesprochen leidenschaftlichen Art: Das Paar weiß, dass der Liebe mit dem
gesprochenen Wort nur unvollständig beizukommen ist, also küssen sich die
Verliebten hingebungsvoll, denn hierdurch bringen sie ihr euphorisches
Einvernehmen ausdrücklich – und das heißt, vor aller Welt - zur Sprache. Dieses
wird durch das gesprochene Wort zwar nachträglich gestützt – man denke nur an
das Ja-Wort als Trau- und Treueversprechen -, gesetzt und gehalten wird es
allerdings allein von der Liebe.
© Bülent Kacan
(Aus den Aufzeichnungen Ich oder Auf dem
Heimweg von mir zu mir selbst, 2018)