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Brandon Taylor: Real Life

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Stefan Hölscher

Brandon Taylor: Real Life. Roman. Übersetzt von Eva Bonné. München (Piper Verlag) 2021. 352 Seiten. 22,00 Euro.

Die tiefen Risse unter der glattgebügelten Oberfläche


Über das hochgelobte, 2020 auf der Shortlist des Booker Prize gekommene Romandebut „Real Life“ von Brandon Taylor ist vor allem in amerikanischen Medien schon viel gesagt und geschrieben worden. Die Thematik des Buches wird dabei immer mal wieder auch in die Nähe zur Black Lives Matter Bewegung gerückt, so auch im Presseschreiben der Lektorin für Internationale Literatur des Piper Verlags, in dem der Roman nun in der sehr gelungenen Übersetzung von Eva Bonné erschienen ist: „kurz: Brandon Taylor hat den Roman des Jahres 2020 zum Thema Black Lives Matter geschrieben.“
    So vermarktungseffektiv eine solche Aussage sein mag, sie ist m.E. doch falsch oder zumindest irreführend. Denn die Erwartung, die hier erzeugt werden könnte, es gehe in Taylor’s Roman um eine Geschichte, deren Spannung wesentlich aus dem Zusammenstoßen von black life und white culture resultiere, wird durch das Buch nicht erfüllt. Wenn etwas zu den großen Tugenden von „Real Life“ gehört, dann gerade die Eigenschaft, jedwede Art von monokausalen Erklärungsangeboten zu durchbrechen. Natürlich spielt der Umstand, dass Wallace, die Hauptfigur des Romans, ein Schwarzer ist, der einzige Schwarze an dem biochemischen Institut in „dieser Stadt im Mittleren Westen“, eine wichtige Rolle. Noch dazu ist Wallace auch noch schwul. Wenn Taylor aber etwas nicht tut, dann simple Verknüpfungsketten der Art zu basteln, dass, weil Wallace ein schwuler Schwarzer ist, er deshalb die Probleme hat, die er hat.  
      Taylor ist ein Meister darin, psychologisch komplexe Situationen zu beschreiben, Phänomene klar zu benennen, dissonanzauflösende Eindeutigkeiten aber virtuos zu vermeiden. Und er ist ein Meister im Beschreiben ambivalenter Situationen und Gefühlslagen. So scheint die Promotion in Biochemie an dem Institut in der „Stadt im Mittleren Westen“, die an einem großen See liegt, genau das zu sein, was Wallace wie auch seine Doktoranden-Freunde wollen. Und es scheint so zu sein, dass alle in dieser queeren Freundesgruppe einander mögen und die Nähe zueinander suchen. Im Fortgang der Story wird allerdings immer deutlicher, wie gebrochen diese Gefühle und Motivationslagen sind. So leiden alle unter dem unerbittlichen Arbeits- und Erfolgsdruck, dem sie in dem von der ebenso schlauen wie fordernden Institutsleiterin Simone ausgesetzt sind und der ihnen Luft und Leben raubt. Trotzdem suchen sie genau hier den Weg zu ihrem Karriere- und vermeintlichen Lebensglück. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Beziehungen untereinander. Je mehr die Story voranschreitet, desto mehr erfahren die Lesenden, dass eigentlich bei jedem der scheinbar glücklichen Paare in der Freundesgruppe die Beziehung nur eine Art aus Verlustangst geborene Kompromissbildung ist, bei der heftige Sehnsüchte in andere Richtungen als die zum jeweiligen Partner gehen. Man bleibt der Beziehung verbunden und strebt doch zugleich woanders hin.  

Am stärksten zeigen sich die Ambivalenzen, Spannungen und Zweifel bei Wallace. Sie durchziehen und beschweren sein ganzes Leben:

Trotzdem findet er, dass es besser ist, hier zu sein und seine Einsamkeit zu bedauern, als sich dort darüber zu ärgern, dass er nicht allein sein kann.
Er weint, weil er zwischen diesem und dem nächsten Leben festhängt, und zum ersten Mal weiß er nicht, ob es besser ist zu bleiben oder zu gehen.

Wallace zieht es zu seinen Freunden hin; und gleichzeitig fühlt er sich fremd und einsam unter Ihnen. Er verspricht sich von seiner Promotion den Weg zu Erfolg, Freiheit und Glück, aber gleichzeitig erlebt er markige Misserfolge, extreme Fremdbestimmung und tiefes Unglück.

Am Anfang der Geschichte erfahren die Lesenden, dass Wallace durch eine Verunreinigung in den Züchtungen von Wurmstämmen in seiner Forschungsarbeit weit zurückgeworfen wird. So klar, wie es ist, dass nun wochenlange Nacharbeit auf Wallace zukommt, so unklar ist, was zu dem Problem geführt hat. War es ein dummer bakterieller Zufall? Hat Wallace Fehler gemacht? Oder gab es hier etwa das manipulative Eingreifen einer dritten Person, wobei Wallace an eine Kollegin denkt, mit der er früher schon zusammengestoßen war? Je mehr Wallace darüber nachgrübelt, desto wahrscheinlicher scheint ihm die letztgenannte Option:

Und jetzt wendet sich die Arbeit gegen ihn. Die anderen empfinden seinen Einsatz als Beleidigung. Dana hasst ihn, weil er arbeitet, dabei arbeitet er nur, damit die Menschen ihn nicht hassen und ihm einen Platz in der Welt einräumen. Er arbeitet, um mit dem, was er mitbringt, irgendwie zurechtzukommen. Aber nichts davon wird ihn retten, das sieht er jetzt ein. Nichts davon könnte ihn jemals retten.

Wallace spricht mit Dana, lässt seinen Verdacht in das Gespräch einfließen. Dana wiederum schreibt daraufhin empört über diese Verdächtigung an Simone, die Chefin. Simone holt sich Wallace zu sich ins Büro, drückt ihre Verärgerung über seine aus ihrer Sicht bodenlose Verdächtigung aus und legt Wallace, der schon fürchtet, rausgeschmissen zu werden, nah, darüber nachzudenken, was er wirklich wolle.
    Die tatsächliche Ursache der Verunreinigung bleibt unklar. Schillernd bleibt auch das Verhalten von Simone: Was daran ist möglicherweise rassistisch bedingt? Was rührt daher, dass Wallace möglicherweise tatsächlich schlechter und ungenauer arbeitet als die meisten seiner Kolleg*innen? Dass die Lesenden hier, wie auf nicht wenige andere Fragen, keine eindeutige und das Verlangen nach Gewissheit befriedigende Antwort bekommen, halte ich für eine große Stärke von Taylor‘s Schreiben. Klar wird allerdings immer mehr, dass Wallace von Selbstzweifeln geplagt und gelähmt ist. Und natürlich haben diese Zweifel auch damit zu tun, dass Wallace als Schwarzer und noch dazu schwuler Schwarzer ein Außenseiter in der Welt ist, in der er lebt. Am deutlichsten wird dies in einer kleinen Szene, in der Roman, ein schwuler Doktorand aus Frankreich, der quasi zum erweiterten Freundeskreis gehört, Wallace angeht:

»Na ja«, sagt Roman achselzuckend, »mit einem Doktortitel hättest du bessere Aussichten, einen besseren Job, eine bessere Zukunft. Ohne hingegen … Die Statistiken sprechen für sich.« … Aber sie haben dich hier trotz deiner Defizite genommen, und …« »Meiner Defizite?« »Ja. Deiner Defizite… Was Roman meint, ist ein Mangel an Weiße, an Konformität. Dieses Defizit kann niemand je überwinden.
Egal wie nett sie sind, egal wie liebevoll – sie werden sich immer auf die andere Seite schlagen und eine Gefahr für ihn darstellen, eine Wunde, die nur darauf wartet, aufgerissen zu werden. Darum wäre keine Liebe – und keine Lust – stark genug, ihn und Miller zu vereinen. Zwischen ihnen wird immer eine winzige Lücke bleiben, und immer werden Menschen wie Roman mit ihren hässlichen, boshaften Kommentaren in genau diese Lücke hineinstoßen. Da gibt es einen Ort im Herzen eines jeden weißen Menschen, an dem der Rassismus wächst und gedeiht; keine weite, offene Ebene, nur ein kleiner Riss. Mehr braucht es nicht.

Doch allein das Thema „schwarz und schwul“ bietet uns Taylor eben nicht als schönes einfaches Erklärungsmuster für all die inneren und äußeren Probleme von Wallace an. Im Laufe der Geschichte erfahren die Lesenden immer mehr über prägende Umstände aus Wallace Biographie, wozu auch eine traumatisierende Episode gehört, die weit folgenschwerer als die Fakten „schwarz“ und „schwul“ für das geplagte Seelenleben von Wallace sein dürfte, die aber selbst auch nur Teil eines viel größeren Herkunfts- und Lebenszusammenhangs ist.  
     Im Laufe der etwa 350 Seiten des Romans tauchen Taylor und mit ihm die Lesenden immer tiefer in Leben, Charakter, innere und äußere Dynamiken von Wallace ein. Ich gebe zu: ich fand die Lektüre des Buches am Anfang etwas mühsam und nicht gerade zündend. Es passiert zunächst sehr wenig und auch die Sprache ist zwar elaboriert, aber keinesfalls glanzvoll. Zu den Highlights im ersten Drittel des Buches gehören Sätze wie:

Die Worte quollen aus ihm heraus wie Dampf aus einer heißen, engen Kammer in seinem Inneren.
Die Anspannung saß oben in seiner Brust wie eine aufgedrehte Spule. Sie fühlte sich an wie ein schwarzer Knoten zwischen den Lungenflügeln.
Die Oberfläche seines Hungers war rau wie eine Katzenzunge.

Das Ganze wird jedoch nach und nach immer besser: inhaltlich, indem es uns immer tiefer in das Seelenleben von Wallace hinführt und zugleich auch sprachlich, indem es immer prägnanter und zugleich schillernder wird. So sind etwa die Beschreibungen der sexuellen Begegnungen zwischen Wallace und Miller, der zu der Freundesgruppe gehört, sich aber auf jeden Fall als Hetero verstehen will, gleichermaßen subtil wie kraftvoll und ungewöhnlich:

»Wenn ich so anstrengend bin, dann sag mir doch einfach, dass ich verschwinden soll.« Wallace legt eine Hand auf Millers glatten, festen Adamsapfel. Da öffnen sich Millers Augen einen Spaltbreit, als gäben sie unter dem Druck von Wallace’ Hand nach, und zwischen den Lidern taucht die silbrige Oberfläche seiner Augäpfel auf. Wie bei einer winzigen Maschine. Wie bei einem Spielzeug. Man drückt hier, und dort springt etwas auf. Miller fährt sich mit der Zunge über die Lippen und nähert sich Wallace’ Gesicht, aber der schiebt ihn zurück und lehnt sich mit dem Gewicht seines ganzen Körpers vor. Je mehr Miller drängt, desto fester schließt sich Wallace’ Hand um seine Kehle. Bis sie sich ineinander verkeilt haben, auf verwinkeltem Abstand. Miller grunzt leise, Wallace spürt, wie er schluckt. Miller entspannt sich. Sein Körper erschlafft, und ganz kurz befürchtet Wallace, er könnte eine schreckliche Dummheit begangen haben. Er lässt los, und im Bruchteil einer Sekunde, klein wie ein Stecknadelkopf, packt Miller seine Hände und zieht sie sich an den Bauch. Plötzlich sind sie einander sehr nah. Wallace blinzelt und findet sich dicht vor Millers Gesicht wieder, fast berühren sich ihre Nasen und Lippen und Wangen. Sie sind einander so nah, dass Wallace meint, die Innenseite von Millers Lidern als rote Halbmonde sehen zu können, so nah, dass er das Blut durch Millers Körper rauschen hört und mit dem Rauschen seines eigenen verwechselt.
Wallace schlingt die Arme um Millers Taille, er schafft es einfach nicht, sich loszureißen. Er redet vom Alleinsein, aber nun, da er die Nähe eines anderen spürt, wird ihm klar, dass er sich vor allem danach sehnt, gehalten zu werden. Und doch kann er sich nicht dazu durchringen, Miller darum zu bitten. So wie er sich kennt, würde er seine Meinung bald ändern, würde alles just in dem Moment bereuen, in dem er bekommt, was er will.

Was Taylor in solchen Passagen gelingt, hat Format: Er kann sich psychologisch vortrefflich in das Innenleben seiner Figuren eindenken und –fühlen; er behält aber zugleich einen manchmal schon fast lakonisch erscheinenden Abstand zum Geschehen und vermag, es gleichzeitig voller Spannung rüberzubringen. Taylor hat all die Worte, die Wallace fehlen und unter deren Fehlen er leidet. Der Roman ist auf diese Weise auch eine Geschichte über den Versuch, aus den tiefen Rissen, unter der glatt erscheinenden Oberfläche heraus, zu einer eigenen Sprache und dadurch auch zu einem eigenen Leben („real life“, das Wort, das in dem Buch die unterschiedlichsten Bedeutungen annimmt) zu finden.
    Ähnlichkeiten und Vergleiche drängen sich hier zu anderen autobiographisch geprägten queeren Romanen der letzten Jahre auf, insbesondere zu Ocean Vuong’s „Auf Erden sind wir kurz grandios“ sowie auch zu Eduard Louis „Das Ende von Eddy“. „Real Life“ ist sicher nicht so poetisch grandios geschrieben wie Vuong’s Roman und sicher nicht so markerschütternd emanzipatorisch wie der Roman von Louis. „Real Life“ hat aber eine psychologische Finesse, die ihresgleichen sucht. Allein schon deshalb ist das Buch die Lektüre wert.       


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