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Bertram Reinecke: Hofmannsthal. Ballade des äußeren Lebens

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Bertram Reinecke

Hofmannsthal. Ballade des äußeren Lebens


Für die Ausstellung „Hofmannsthal. Szenen“ zu Hofmannsthals 150. Geburtstag habe ich mich über mehrere Monate mit seiner „Ballade des äußeren Lebens“ beschäftigt.¹ Dadurch habe ich die Ballade gründlich kennengelernt. Und auch wenn ich keine Hofmannsthal-spezifische Fachliteratur konsultierte, mag eine knappe Zusammenfassung meiner Beobachtungen für die eine oder den anderen erwünscht sein. (Und sei es nur zur Unter-richtsvorbereitung.)²

https://freies-deutsches-hochstift.de/besuch/ausstellungen/-/hofmannsthal-szenen-die-kunst-erlebnisse-zu-erfinden/1350
 
Ballade des äußeren Lebens³

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte …

Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der »Abend« sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt

Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Und: Sofort fällt, besonders im ersten Teil des Textes, der häufige Gebrauch des Wörtchens „und“ auf. Insgesamt kommt das Wort im Gedicht 25 mal vor, genau die Hälfte der 22 Zeilen beginnt mit ihm. Sachverhalte und Dinge werden genannt und scheinbar aneinandergereiht.  
        Diese Reihung ist jedoch eine bloße Suggestion, denn in Wirklichkeit greifen die Zeilen des Textes ineinander: Springen wir in die 2. Strophe. Sie beginnt „Und süße Früchte werden aus den herben“.
       Dies könnte bereits die Fortsetzung eines Bildes aus der Vorzeile sein: „Und Menschen gehen ihrer Wege“. In Prosa ausgedrückt, mag man lesen: „Wie die Früchte reifen, so gehen auch die Menschen ihrem Schicksal entgegen“ In der Folgezeile werden die Früchte weiter spezifiziert: „Und fallen nachts wie tote Vögel nieder“. Dieses Großbild, welches sich im Grunde seit der ersten Zeile „Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen“ ausbildet, wird mit „Und liegen wenig Tage und verderben.“ zum Schlusspunkt gebracht.
       Es handelt sich also bei den ersten vier Strophen mit den vielen „und“-Anfängen nicht um einen reihenden Bilderbogen, sondern man könnte von einem Pseudo-Zeilenstil sprechen, der die eigentlich verklammerte Konstruktion verschleiert.
       Hofmannthal war schon seinerzeit ein geschätztes Ziel von Parodisten aufgrund seines auch in anderen Gedichten häufigen Gebrauchs des Wörtchens „und“. Aber er ist seinerzeit nicht allein damit. Parallel zu ihm entdeckt etwa auch Gustav Falke für manchen Text diesen Gebrauch des Wörtchens „und“.

Orte und Zeiten: Das Gedicht enthält keine Angaben der Verortung. Es spielt weder in Husum noch in Timbuktu. Es gibt aber auch keine internen Relationen der Lage oder der Zeit. (Mit Ausnahme von „da“ und „dort“, die sich jedoch der Konkretion verweigern und damit in ein traumhaftes Nirgendwo verweisen.)
   Auch „Nacht“ und „Abend“ verweisen nicht auf konkrete Zeitpunkte, sondern gewisser-maßen auf Abend bzw. Nacht an sich.

Vokabulare: Im Zentrum der Wirkung stehen besonders im ersten Teil des Gedichts Wörter, die einerseits auf etwas Konkretes verweisen, andererseits auch einen symbolischen Gehalt tragen. Früchte (Es kann sich bei Früchten ebenso um Äpfel, wie etwas Abstraktes handeln: Früchte des Zorns oder fruchtlose Bemühungen.) Genauso vermögen Wörter wie Vogel, Straße, Augen, Wind usw. zu wirken.
    Erst da, wo der Text zur Mitte hin rhetorischer wird, schleichen sich einzelne eher abstrakte Wörter  wie „totenhaft“ ein.
      Das Gedicht enthält vergleichsweise kürzere Wörter, die längsten sind dreisilbig und der erste dreisilbige Begriff taucht erst in der 6. Zeile auf. Für den durchschnittlichen deutschen Text ermisst Zipf 1935 (die früheste Untersuchung dieser Art, die ich auftreiben konnte) einen Wert von durchschnittlich 1,83 Silben pro Wort, der Kanon klassischer deutscher Literatur liegt mit knapp über 1,7 etwas darunter, dies Gedicht unterschreitet diesen Wert mit 1,57 deutlich.¹⁰  Ein Trend zu kurzen Wörtern ergibt sich aus dem Verfahren der oben geschil-derten Doppeldeutigkeit zwischen konkreten und symbolischen Gehalt. Wo der Text ab der Mitte rhetorischer und abstrakter wird, steigt die durchschnittliche Wortlänge etwas an und erreicht den deutschen Durchschnitt, um dann zum wieder eher bildlich gearbeiteten Ende hin erneut zu sinken.

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte

Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der »Abend« sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt

Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Versbau: Der Text besteht aus den für die Terzine üblichen Versen mit fünf Hebungen in alternierendem Bau. Diese sind regelmäßig, die Hebungen sind jederzeit klar erkennbar, was bei Versen mit vielen einsilbigen Wörtern so wenig selbstverständlich ist, dass die alten Regelpoetiken davon abrieten, mehrere davon hintereinander zu verwenden. Nur einmal werden zwei Silben aus metrischen Gründen in eine gezogen: „Was frommts“. Weil man dies aber in mündlicher Rede ebenso tun würde, behindert dies nicht den Eindruck, dass der Versbau an keiner Stelle eingeschränkt scheint durch den strengen Versbau. Es gibt auch keine der zeittypischen nachgestellten Adjektive, auch insofern bleibt der Vers unprätentiös.
     Durch ihre Dreizeiligkeit, bei der sich immer zwei Strophen verklammern, die zweite Strophe sich aber bereits mit der nächsten verbindet, gilt die Terzine als fließender Vers, der ohne feste Ruhepunkte fortgleitet. Dieser Eindruck verstärkt sich, wo, wie über weite Strecken in diesem Text, die Versenden ausschließlich weiblich sind.
     Interessant sind in diesem Text aber auch die Abweichungen von diesem Schema: Der Reim tritt erst in der zweiten Strophe zu Tage. Die erste Strophe trägt den typischen Doppelreim nicht. Sie wirkt dadurch einen Tick beiläufiger hingesagt, bevor sich das Muster einschwingt.¹¹  
     Noch deutlicher weicht der Text von seinen selbstgesetzten Regeln mit dem Wechsel auf ein männliches Ende in der Mitte der 6. Strophe ab. Ein deutlicher metrischer Akzent. Zwei Zeilen später folgt die nächste kleine Überraschung: Der Vers, der auf diesen männlichen Vers antworten müsste, trägt wiederum eine weibliche Endung, während die darauffolgende Zeile dann wieder männlich auslautet. Auch dies ist überraschend, denn wo man sich nicht für entweder stets männliche oder stets weibliche Verse entscheidet, ist die Lösung meistens, beide Varianten abzuwechseln. Die letzten beiden Zeilen wiederum antworten, nach diesen drei unregelmäßigen Enden wiederum ihrerseits überraschenderweise auf bereits eingeführte Reime und festigen so reimtechnisch den Schluss. Daraus ergibt sich, dass gerade eine zentrale Zeile: „Und dennoch sagt der viel, der »Abend« sagt“, die uns in eine Metaebene zur führen scheint, als Waise vom gereimten Umfeld isoliert steht. ¹²

Rhetorik: Die erste Hälfte der Ballade gibt sich harmlos: Alle Verhältnisse, die der Text zeigt, kann man scheinbar durch rein äußerliches Beobachten oder Selbstbeobachtung und ohne größeres Verständnis geistiger Gehalte auffassen. Erst in der letzten Zeile der dritten Strophe und dann vollends drei Zeilen später, beginnt sich die Abstraktion einzuschleichen.¹³ Die Sachverhalte des ersten Teils der Ballade sind gerade in dem Maße durch Besonderheiten konkretisiert, dass sie nicht zum Klischee werden. Die Kinder haben „tiefe Augen“, die Früchte fallen „wie tote Vögel“.¹⁴  Diese Spezifizierungen sind nur so weit getrieben, dass ein Wiedererkennen von – und der Abgleich mit – eigenen Wahrnehmungen dadurch nicht behindert wird. Wie ein guter Popsong stellt der Anfang sozusagen Hohlformen bereit, in die die Leserin ihre Phantasien gießen kann.
      Während der Text geruhsam anfängt, die gegebenen Sachverhalte gelassen ausbreitet, scheint der Text sich in der vierten, also der Mittelstrophe, stark zu beschleunigen. Er nimmt sich auch nicht mehr die Zeit, seine Inhalte den Lesenden durch kunstvolle Bilder zu vermitteln, sondern reiht nur noch auf und verordnet, wie man die Dinge sich vorzustellen habe: drohend und totenhaft verdorrt…
     Darauf folgt ein zweiter Teil mit rhetorischen Fragen. Hier nimmt die Ballade eine Sprechhaltung ein, wie sie Lesenden zur Entstehungszeit der Ballade durch die Literatur im Anschluss an die Weimarer Klassik spätestens aus der Schule vertraut war. Wenn uns ein solcher Rückbezug etwas zopfig anmuten mag, bedenke man, dass Goethe Hofmannsthal zeitlich in etwa so fernsteht, wie uns vielleicht Thomas Mann oder Gottfried Benn, auf die sich AutorInnen und KritikerInnen heute teils auch noch mit der gleichen Selbstverständ-lichkeit beziehen wie auf Zeitgenossen.
     Andererseits und zugleich wird diese Sprechhaltung aus der erhöhten Perspektive aber auch gebrochen: Der Text fragt (scheinbar) nur und erklärt nicht. Hier nimmt Hofmannsthal eine moderne, uns vertraute Haltung ein: Der Dichter belehre uns nicht, sondern verweise uns mit seiner Sprache auf besondere Wahrnehmungen, aus denen wir dann schon selbst unsere Schlüsse ziehen. Er möge nicht immer unhinterfragbare Weisheiten von sich geben, sondern uns teilhaben lassen an seiner eigenen Betroffenheit von der Welt. Heutige DichterInnen beglaubigen ihre authentische Betroffenheit gern zusätzlich durch das Hineinsprenkeln überspezieller Details zu Ort und Situation. Dies fehlt hier.   
     Der deutliche Unterschied in der Rhetorik der beiden Teile wird jedoch verschleiert, indem mit dem Verfahren der Implikation bzw. Präsupposition auch in der 5 Strophe noch die Ausmalung der Situation der ersten vier Strophen fortgesetzt wird.¹⁵ Zusammen mit der vierten Strophe, die bereits gerafft behauptend gesprochen hatte wie der folgende Teil, entsteht hier also ein eher gleitender Übergang. Erst die 6. Strophe hat endgültig ein neues Thema und nimmt Bezug auf die Sprecher. Dabei erweist sich (in der 3. Strophe klang es bereits an), dass sich das Gedicht ganz altmodisch zum Sprachrohr seiner (stummen?) Rezipienten macht. Sein fiktiver Autor stilisiert sich zum Sprecher der Gruppe.  

Bilder: Einerseits kann man die Bilder harmlos nennen, jeder versteht und kennt das Ausgesagte. Der Text wirkt auf dieser Ebene gerade durch seine ostentative Alltäglichkeit. Auf der anderen Seite könnte man einige der Bilder auch geradezu dramatisch nennen, in einem Sinne, wie etwa ein Horrorfilm eine schlichte Landschaftsszene mit dramatischer Musik unterlegt, um dadurch das Unheimliche zu evozieren: Schon das erste Bild ist ein Vexierbild: „Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen“. Das kann eine harmlose Beschreibung sein.¹⁶ Oder es mag uns Kinderaugen auf eine Weise als besonders faszinierend nahelegen, wie man sonst beispielsweise die Augen der Geliebten als besonders „tief“ empfindet? Aber schon hier beginnt die Untiefe: Die tiefen Augen der Geliebten evozieren ja einen besonderen Reichtum an Charakter oder Erfahrung. Ist es etwas Gutes, wenn Kinder diesen Reichtum bereits haben (müssen)?  Überdies hat ein Totenschädel in besonderem Maße tiefe Augen. (Zeile zwei sichert diese Leserichtung ab.)¹⁷
       Die zweite Strophe scheint ein neues Bild zu öffnen. Deren zweite Zeile gibt zwar vor, ein Bild zu spezifizieren: Nämlich eine Beschreibung zu geben, wie genau die Früchte vom Baum fallen. So merkwürdig plausibel dieses Vorstellungsbild auch erscheinen mag, geben die toten Vögel durch ihre pure Präsenz im Text aber auch ein Framing vor, das geeignet ist, die Weltgewissheit der Lesenden zu verunsichern: Normalerweise denkt man¹⁸ zunächst wohl an lebende Vögel und das erste, was einem zu ihnen einfällt ist ohnehin: Vögel fliegen. Erneut legt der Text nahe: Irgendetwas ist nicht, wie es sein sollte. Besonders beiläufig tritt diese Unterminierungsstrategie wohl in der Fügung „und Orte / Sind da und dort“ hervor. Natürlich, beim Draufblick auf eine Landschaft wird man wohl an verschiedenen Stellen Ortschaften bemerken, so weit so harmlos. Andererseits: Ein Ort, welcher auch immer, wird ja, nomen est omen, gerade dadurch zu einem solchen, dass er sich eben an einer bestimmten Stelle befindet, die Feststellung „sind da und dort“ entzieht ihm genau die einzige Qualität, die das Gedicht ihm zugebilligt hatte. Er löst sich gewissermaßen in nichts auf.
     Eine weitere Untiefe kommt durch die Aneinanderreihung der Bilder durch „und“ zu Stande, die ihren Zusammenhang teilweise unklar werden lässt:

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Gehen die Menschen ihre jeweiligen Wege, wie die Sentenzhaftigkeit der Zeile drei nahelegt? Oder gehen sie die Wege der sterbenden Kinder, wie es rein syntaktisch vom Bezug des „ihre“ ebenfalls der Fall sein könnte? Wir hatten im „Und“-Kapitel für die zweite Strophe schon angedeutet, dass sie wie eine Analogie wirkt auf die in der ersten Strophe vorgeführten Lebenswege. Allerdings will die Zeile „Und fallen nachts wie tote Vögel nieder“ sich in diese Analogie nur schlecht fügen. Was hieße es in der Ebene des Bildempfängers (Menschen? Kinder?), dass sie „nachts wie tote Vögel“ niederfallen? Die zweite Strophe oszilliert also zwischen dem Status eines eigenständigen Bildes und einer Analogie zum in der ersten Strophe Vorgeführten.
      Wie sehr der Text trotz des scheinbar harmlosen Anfangs und der klaren Fragerhetorik insgesamt auf das Mitwirken der Lesenden setzt, zeigt die letzte Zeile des Gedichts, die ein sehr abstraktes Bild gibt, was äußerst abrupt käme, wenn die LeserIn sich nicht bereits auf die verschlagenen Obertöne des Vortextes eingelassen hätte.      
     Man kann den Umstand, dass der Text sozusagen Obertöne gegen die Ebene des plan Gesagten ausspielt, auch auf andere, weniger deutende Weise herausarbeiten: Deckt man alle Wörter außer der Adjektive ab, ergibt sich eine klare Zweiteilung. Während die Adjektive der bildgebenden Teile mit Evokationen von Sinnlichkeit und Verfall, das Repertoire der Dekadenzliteratur bedienen: tief, süß, herb, tot, wenig, drohend, totenfhaft, verdorrt, hohl, verweisen die Adjektive des Frageteils eher auf Fülle und Größe: voll, viel, unzählig, groß, ewig, einsam.

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte …

Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der »Abend« sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt

Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Umwenden: Walter Benjamin¹⁹ beschreibt in seiner „Berliner Kindheit um 1900“ ein Erlebnis am Wäschefach: „... meine Strümpfe, welche da gehäuft und in althergebrachter Art, gerollt und eingeschlagen, ruhten, so daß jedes Paar das Aussehen einer kleinen Tasche hatte. Nichts ging mir über das Vergnügen, meine Hand so tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken. ... Es war »Das Mitgebrachte«, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt und das mich in die Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, fing der zweite Teil des Spiels an, der die atemraubende Enthüllung brachte. Denn nun ging ich daran, »Das Mitgebrachte« aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende vollzogen war: »Das Mitgebrachte« seiner Tasche ganz entwunden, jedoch sie selbst nicht mehr vorhanden war. Nicht oft genug konnte ich so die Probe auf jene rätselhafte Wahrheit machen: daß Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes, »Das Mitgebrachte« und die Tasche eines waren. Eines – und zwar ein Drittes: jener Strumpf.“

Wir hatten gezeigt, dass die Zeile „Und dennoch sagt der viel, der »Abend« sagt“ aus Hofmannsthals Text bereits formal heraussticht, insofern sie die einzige männliche Waise darstellt. Sie lädt uns ein, über Sprache nachzudenken. Wenn man von rückwärts diesem Pfad folgt, bemerkt man, dass diese Stelle bereits eine andere herausgehobene Stelle zu beantworten scheint: „Wozu sind diese aufgebaut?“ Diese erste Zeile der 5. Strophe trägt ebenfalls eine metrisch- syntaktische Besonderheit: die stärkste Binnenzäsur im ganzen Text.²⁰ Man wird lesend eine Pause machen und die Frage klingt dann zunächst wie ein vollständiger Vers, bis das „und gleichen“ einen in das alte Versmuster zurückleitet. Das Wort „aufgebaut“ kann so gelesen werden, als verwiese es auf die Kulissenhaftigkeit des in den ersten vier Strophen geschilderten Panoramas. Denn als Kommentar sozusagen in der Welt des Gedichts ist dieses Bild etwas entlegen. Man mag es inhaltlich plausibel finden in Bezug auf „Orte“ oder vielleicht auch auf „Straßen“, aber wer intuitiv diesen Bezug herstellt, muss einräumen, dass rein syntaktisch mindestens „Bäume“ und „Teiche“ viel unmittelbarer zum Kontext des Verbs gehören, von denen es strenggenommen wenig naheliegend ist zu sagen, sie seien „aufgebaut“.
       Der Text würde bei dieser Lesart also Teile des Textanfangs als Probe bestimmter Sprache zur Disposition stellen. „Diese“ würde sich also auf Objekte wie die hier verwendeten sprachlichen Bilder, auf andere Gedichte solcher Art oder Literatur ganz allgemein beziehen.
        Genauso würde natürlich die Stelle: „immer wieder / Vernehmen wir und reden viele Worte“ aus dem Bilderpanorama heraustreten und als Kommentar über das Kommunikations-verhältnis zwischen Autor und Lesenden wahrnehmbar werden.


¹ Ich nähere mich dort in einem Saal, der eine Art Purgatorium für die Ausstellungsbesucher darstellt, dem Dichter an, indem ich aus Zitaten der deutschen Literatur Texte baue, die Strukturmerkmale seiner Ballade aufnehmen.
² Auch wenn es hier mitunter so klingen mag, als würde ich den Text zumindest teilweise interpretieren, ist dies der informell verkürzenden Sprache geschuldet: Es geht mir nur darum, an einzelnen Stellen Lese-angebote, die der Text macht, mitzuvollziehen. Ich möchte andere Leseweisen damit nicht ausschließen oder etwa zum „Inhalt“ des Gedichtes Festlegungen treffen.
³  Ich zitiere nach der von ihm selbst betreuten Ausgabe „Gesammelte Werke“ Berlin, 1924 (S.Fischer).
⁴  Zumindest abgesehen von dem, was im Kapitel „Bilder“ hierzu gesagt wird.
⁵   Für das Erfassen der Struktur eines Textes ist es mitunter hilfreich, vergleichend Parodien zu konsultieren. Alfred Lichtenstein dichtet in seiner ansonsten den Merkmalen des Ausgangstexts sehr nahen Parodie „und sehr“ einfach eine Strophe zum Original hinzu und verkürzt überdies den zweiten Teil des Gedichtes, der sich vor allem auf Fragewörter stützt, um eine Strophe, um noch mehr Raum zu gewinnen, im „und“ zu schwelgen; Robert Neumann ignoriert diesen zweiten rhetorischen Teil der „Ballade“ in seinem Text „Mutter-anruf“ gleich ganz, und konzentriert sich allein auf das kleine Wörtchen. Auf die Parodien von Twardowski, Thorberg und Rinck gehe ich nicht weiter ein, Twardowski bleibt ganz beim „und“, er nimmt sonst kaum ein wesentliches Merkmal der Ballade überhaupt auf (sodass ich nicht sicher bin, ob sie im speziellen überhaupt gemeint ist.) Thorbergs Text ist nur vier Zeilen lang, Monika Rinck sucht durch minimalinvasive Eingriffe den Originaltext zu verstellen, eine Analyse würde somit in der Regel ganz die gleichen Merkmale aufzeigen, wie das Original.
⁶  Die vier „Terzinen über Vergänglichkeit“ z.B. enthalten in 58 Zeilen zusammen immerhin 30 mal dies Wörtchen. (statistisch also knapp halb so viele pro Zeile wie die Ballade.)
⁷  Beide Dichter kannten sich: Wir neigen dazu, solche Erfindungen immer den Berühmteren zuzuschreiben. Aber könnte nicht ebenso der Ältere hier Priorität haben? Oder lag dieser Stil in der Luft, wie es oft bei technischen Erfindungen wie dem Telefon oder dem Automobil mit Verbrennungsmotor der Fall ist, die zeitgleich an mehreren Orten entstehen?  
⁸   Der Unterschied zwischen konkret und abstrakt ist ein Rabbit-hole. Ich benutze hier diesen Unterschied in einem basal intuitiven Sinne: konkret sind Wörter, deren Gehalt mit den äußeren Sinnen erschließbar sind, abstrakt jene, zu denen ein Verständnis geistiger Gehalte notwendig ist. Weil dieser Unterschied in der Lebensform fußt, bleibt er im Einzelnen immer streitbar. Um ein drstisches aber klares Beispiel zu geben: KZ-Überlebende beschreiben immer wieder, dass sie einem Menschen in der Regel schon Tage vorher ansahen, dass er bals sterben wird, sei es durch Suizid oder auf andere Weise, weil sichtlich der Lebenswille gebrochen war. „todgeweiht“ wäre für sie ein sinnlich konkreter Begriff, während er für uns eher in die Reihe der abstrakten Begriffe zählte.
⁹  George Kingsley Zipf: The Psycho-biology of Language: An Introduction to Dynamic Philology, Houghton Mifflin, 1935.
¹⁰ Das ist mehr als bei Rilke, der Wert entspricht etwa Eichendorf; Goethe, Schiller oder Brentano liegen deutlich darüber. Völz, Computer und Kunst Leipzig, Jena, Berlin 1990 (Urania).
¹¹  Neumanns und Lichtensteins Parodien gehen an diesem Umstand achtlos vorbei und steigen gleich mit gereimten Terzinenversen ein.
¹²  Mehr zu dieser Zeile im letzten Kapitel. Während Lichtenstein diesen kunstvollen Bau nachbildet, hat Neumann zwar einen Wechsel auf männliche Reime gegen Ende, führt diesen aber reguliert aus. (Will er Hofmannsthal an Formstrenge überbieten?)
¹³  Robert Neumann ignoriert in seiner Parodie auch diesen Umstand um die Prätention mancher Hofmannsthalwendung grundsätzlich anzugreifen. So klingt sein Text zeitweise eher, als hätte er Rilke karikieren wollen: „Und Kinder wachsen auf mit großen Augen / Und wissen schon von ihrem tiefsten Walten / Und wollen es schon daumenhaft besaugen.“(wohl, weil seine Parodie insgeheim auch noch auf ein paar andere Texte schielt, so könnte das für die Nachbildung des Balladenanfangs sehr unpassende Verb „walten“ auf Hofmannsthals „Lebenslied“ zurückgehen. Auch Lichtenstein bildet diese scheinbare Neutralität der Sprechhaltung des Anfangs nicht konsequent nach, insofern einzelne Wertungen in seinen Textanfang eingestreut sind: „Die dann so gelb doch werden wie die Primeln“, „Und sehr bekümmert liegen, und verschimmeln.“ (Das ist zwar treffend für Hofmannsthal an sich, nicht aber für diesen Text.)
¹⁴ „Irgendwo bellte ein Hund“ ist ein Klischee, irgendwo bellte ein Hund mit schiefem Ohr ist es schon weniger.
¹⁵  Wenn ich frage: „Hat Schmidt aufgehört seine Frau zu schlagen“ bin ich danach logisch nicht berechtigt fortzusetzen: „Wobei ich natürlich niemals behaupten wollte, dass Schmidt seine Frau je geschlagen hat“ so wird auch hier mitgesagt, dass die Orte, (Bäume, Fackeln, Teiche) „unendlich viele“ sind, „einander nie“ „gleichen“, dass „Lachen, Weinen und Erbleichen“ tatsächlich wechseln usw...
¹⁶ Es könnte ja, man achtet nicht so darauf, eben Kinder geben, die anatomisch tiefere Augen haben als andere, und warum sollte der Dichter dies nicht beobachtet haben?
¹⁷ Die Verschleierung der Zeitlogik verstärkt die Unheimlichkeit noch: Sterben die Kinder, wenn sie groß geworden sind im Alter, oder sterben sie bereits als Kinder? Das Gedicht lässt beide Möglichkeiten offen.  
¹⁸  Zumindest angesichts eines solchen Texteingangs in Naturbildern.
¹⁹  Beide schätzten des anderen Arbeiten.
²⁰ Sollte man diese Diagnose mit Blick auf die gleich darauf folgende Zeile bestreiten wollen, vergegenwärtige man sich: Ein Vers mit vier Hebungen ist als vollständiger Vers einem Leser klassischer Lyrik besonders eingängig. Die Zäsur rastet also in eine eingeführte Erwartung. Appellierend an die Erwartung könnte man natürlich darauf verweisen, dass: „Einander nie? und sind unzählig viele?“ in paralleler Weise die Erwartung des Gemeinverses bedient. Dies erweist sich aber insofern weniger als eine im Gedicht exponierte Zäsur, als sich auch schon die Zeilen: „Vernehmen wir und reden viele Worte“, „Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.“ und „Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,“ zwanglos als Gemeinverse vortragen ließen, und, wenn man es forcieren wollte, auch diese: „Und fallen nachts wie tote Vögel nieder“ „Und immer weht der Wind, und immer wieder“. Die Zäsur würde also hier nur einen bereits etablierten Rhythmus reproduzieren.


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