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Axel Helbig: Der eigene Ton 3

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Barbara Zeizinger

Axel Helbig: Der eigene Ton 3. Gespräche mit Dichtern. Leipzig (Leipziger Literaturverlag) 2023. 322 Seiten. 19, 95 Euro.

Die eine Wahrheit gibt es nicht


In seinem Buch »Der eigene Ton 3« begibt sich Axel Helbig auf die Suche nach dem Fingerabdruck, den Dichter und Dichterinnen in ihren Werken hinterlassen. In ausführlichen Gesprächen erfragt er fundiert und subtil, wie es ihnen gelingt, auch bei neuen Formen des Erzählens, den eigenen Ton zu finden. »Ich verstehe den ›eigenen Ton‹ als einen Untersuchungsgegenstand, dem ich mich in Autoreninterviews annähere, eine Momentaufnahme, die aber das Singuläre eines Autors zu erfassen versucht«, erläutert er in dem Gespräch mit Hendrik Jackson.

Das Buch ist in vier Kapitel eingeteilt, in denen Axel Helbig Autoren und Autorinnen zusammenfasst, bei denen sich trotz aller Unterschiedlichkeit die jeweiligen Themen berühren. »Sagen, was wehtut.« Dieser Anspruch der 2017 verstorbenen Anne Dorn, steht über dem ersten Kapitel und beinhaltet bei allen hier besprochenen Büchern die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, beziehungsweise die Frage, woran wir uns erinnern. Bei Anne Dorn sind es in »Siehdichum« die Suche nach ihrem im Krieg verschollenen Bruder und die Auseinandersetzung mit der deutsch-polnischen Geschichte.

Diese Erinnerungsarbeit und ebenfalls die Erforschung der deutsch-polnische Geschichte finden wir auch bei Ulrike Draesners Roman »Sieben Sprünge vom Rand der Welt«. Die eine Wahrheit gebe es nicht, sagt sie. Erinnern sei immer auch mit Schweigen gepaart. Daher sei die Wurzel des Romans kollektives Sprechen über etwas, das man mit Sprache nicht fassen kann. Über diese Methode, sich in die Verfasstheit ihrer Personen zu versetzten, berichtet sie auch in dem zweiten Interview von dem Roman über den Merz-Künstler Kurt Schwitters. Etwas Besonderes ist dabei, dass sie diesen Roman zuerst auf Englisch geschrieben und ihn dann ins Deutsche rückübersetzt habe.

»Über die Unvereinbarkeit von totalitärer Macht und freiem Geist« schreibt Hans Joachim Schädlich unter anderem anhand der Novelle »Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II.« , während Jaroslav Rudiš in »Winterberg« über eine wilde Fahrt schreibt, bei der ein junger Tscheche und ein hundertjähriger Deutscher anhand eines Baedekers von 1913 durch das ehemalige k&k-Gebiet reisen. Auch hier bildet die Geschichte den Hintergrund. »Die Schlacht bei Königgrätz geht mir durchs Herz«, sei der erste Satz des Romans gewesen, und er brauche für den Anfang immer einen ersten Satz. Dies hat er mit Kurt Drawert gemeinsam, der einige Seiten weiter davon berichtet, dass er seinen Roman »Dresden. Die zweite Zeit« erst mit dem Satz »Ich suchte etwas, von dem ich nur weiß, dass es mir fehlt« beginnen konnte.

»Man muss sich nicht beeilen ins Nirwana zu kommen« dieser Ausspruch von Ann Cotten bildet die Überschrift zum zweiten Kapitel. In der Einführung über sie zitiert Axel Helbig den Kritiker Paul Jandl mit den Worten, sie sei die klügste und schwierigste Dichterin in deutscher Sprache. Tatsächlich sucht Ann Cotten für jedes Werk eine neue Herangehensweise. »Es ist ein Flow, wenn man ein Sonett schreibt oder eine ähnliche strenge Form.«

Die Dichter neben Ann Cotten entführen uns in diesem Teil des Buches teilweise in nicht alltägliche Sphären. So fragte sich Raoul Schrott, was Poesie sei und wer die ersten Dichter waren. Diese Fragen führten zu seinem bekannten Werk »Die Erfindung der Poesie«. Auch seine Übertragung von Hesiods »Theogonie« ist Thema des Gesprächs.

Um religiöse Themen geht es in dem Interview mit Uwe Nösner und seinem Lyrikband »Auf der schlaflosen Seite des Mondes«. In diesem Zusammenhang schreibt Axel Helbig, der Dichter sei kein Avantgardist im Sinne der Schöpfung neuer Formen, da in seiner Dichtung die Auseinandersetzung mit der Existenz im Vordergrund stehe.

Diese Fragen nach der Existenz gelten auch für die altchinesischen Philosophen Laozi und Zhuangzi, mit denen sich Viktor Kalinke beschäftigt. 2017 hat er eine Neuausgabe des Zhuangzi herausgegeben, was als wichtige Quelle des altchinesischen Daoismus gilt. Und was bedeuten diese Schriften für die heutigen Leser? Ein paar Ideen für ein besseres Leben könnten wir materialistisch eingestellten Europäer von Zhuangzi durchaus erfahren, sagt Viktor Kalinke,» wie wir die Freiheit genießen können, die wir mit unserem wahnsinnigen, auf Null und Eins beruhenden technischen Fortschritt schaffen.«

»Der Traum des Schriftstellers ist es, Sprache zu werden«. Unter diesem Satz des Schweizers mit kalabrisch/albanischen Wurzeln, Francesco Micieli, versammelt Axel Helbig im dritten Kapitel unter anderem Dichterinnen und Dichter mit Fremdheitserfahrungen, die sich auf ihr Schreiben auswirken und es produktiv beeinflussen: das Fremde als Schicksal, als Chance.

»Nachtleuchten« heißt der Roman der in Buenos Aires geborenen Maria Cecilia Barbetta. Und es sind die Menschen selbst, die leuchten, obwohl sie sich in den Jahren 1974/75, also vor der militärischen Diktatur in Argentinien, bereits in Gefahr befinden. Sie bleiben menschlich, achten das Leben. Die Autorin schreibe einen spirituell belebten Realismus, führt Axel Helbig sie in seinem Vorspann ein. Sie schöpfe die literarischen Wahrnehmungsmöglichkeiten aus, und Maria Cecilia Barbetta beschreibt, wie sie ein Gefühl für diese Zeit mit der entsprechenden Sprache gefunden hat.

»Ein einzelnes Wort kann eine Geschichte sein.« Unter diesem Motto lässt Zsuzsanna Gahse in »Jan, Janka, Sara und ich« 23 Personen in einem Tonstudio über ihre eigenen Beobachtungen sprechen, so dass sich daraus ein Gesellschaftsbild entwickelt.

Ein interessantes Gespräch, im Zusammenhang mit Axel Helbigs Untersuchungsgegenstand, ist das mit Hendrik Jackson über seinen Gedichtband »Panikraum. 3 Erkundungen«. Der Autor, der unter anderem Slawistik studiert hat, beschreibt, wie sehr ihn russische Filme und seine Aufenthalte in Russland bereichert haben. »Wenn ich in Russland bin, inspiriert mich das. Es entsteht ein Text nach dem anderen.« Sehr einfühlsam spricht er über Dichter, die ihn beeinflusst haben.  So sagt er einerseits, dass er über jede Stadt, über die er schreibe, eine ganz neue Herangehensweise und Methodik entwickeln würde, wohingegen er die Frage des eigenen Tons etwas relativiert, weil die Gefahr bestehe, dass dieser zu einem Label werde.

Zum letzten Kapitel schließlich steuert Franz Hodjak die Überschrift bei: »Das Durcheinander macht dich zum Schöpfer.« Damit spielt der ursprünglich in Rumänien unter der Ceausescu-Diktatur und der Securitate lebende Autor darauf an, wie die dortigen Autoren lernen mussten, mit Worten und Metaphern den eigentlichen Inhalt zu verschleiern und so durch die Zensur zu kommen.

Darauf geht auch Uwe Kolbe ein, wenn er anhand von Volker Braun, Heiner Müller, auch von Brecht sagt, sie hätten sich auf das »Zensurspiel« eingelassen, ihre Texte immer gerade so weit ausgereizt, wie es ihnen möglich war. In seinem Roman »Die Lüge« gehe es um die Obertöne und Grundtöne der späten DDR. Dazu gehöre auch die Prenzlauer Berg-Szene, deren Bewohner glaubten, kritisch zu sein. »Da hatte man ein bisschen Havemann gelesen, man hatte gemeinsam über ein Biermann-Lied gelacht.« Über echte Herausforderungen, wie beispielsweise die Entstehung von Solidarnośź, habe man nicht gesprochen.

Andreas Reimann musste hart für seine Literatur kämpfen. Nach 1965 hat sich mit dem 11. Plenum des ZK der SED in der DDR die Situation für die Kulturszene verschärft. Für Andreas Reimann bedeutete das Exmatrikulation, Suizidversuch, Inhaftierung und Publikationsverbot. Mit Nachdichtungen und Texten für die Rockgruppe Lift hat er sich später finanziell über Wasser gehalten. Bei ihm ist vielleicht der Zusammenhang mit der Lebensgeschichte und dem eigenen Ton am deutlichsten zu sehen. Da er gewohnt war, lange nicht veröffentlicht zu werden, hat er sich angewöhnt, mit strengen Formen wie Sonett, Homer’schem Hexameter, Ritornell und Distiche zu arbeiten und unabhängig vom Zeitgeist zu schreiben.

Das längste Interview in dem Band widmet Axel Helbig dem in Dresden wohnenden Marcel Beyer, mit dem er sowohl über den Roman »Kaltenburg«, über den Gedichtband »Graphit«, als auch über seine Essays spricht. In »Kaltenburg« beschreibt er einen an Konrad Lorenz angelehnten Wissenschaftler, einen Ornithologen, der in der DDR ein privates Forschungsinstitut betreibt. Gleichzeitig handelt der Roman von intellektuellen Kreisen als damalige Parallelgesellschaft. Die Beschäftigung mit Vögeln im Rahmen seiner Recherchen beschreibt Marcel Beyer als große Bereicherung, sie habe ihm eine ganze Welt eröffnet. Überhaupt ist es nicht nur bei Marcel Beyer bemerkenswert, wie viel für einen Roman recherchiert werden muss, und welche Mühe sich die hier vorgestellten Autoren und Autorinnen damit machen. Maria Cecilia Barbetta hat sich beispielsweise »mehr oder weniger undercover« in spiritistische Schulen in Buenos Aires eingeschlichen.

Ingo Schulze hat für sich seinen Roman »Die rechtschaffenen Mörder«, ein Roman über die Obsession des Lesens, mit Antiquariaten beschäftigen müssen. Es geht um die Wendezeit in der DDR, in der nicht nur der Protagonist des Romans seinen Lebensinhalt, ein Antiquariat, verliert. Weiterhin geht es um einen Selbstmord, der vielleicht keiner war, alles wird ein wenig in der Schwebe gehalten, denn Figuren, die ihre Ambivalenz verlieren, seien literarisch tot.

Mit Kurt Drawert spricht Axel Helbig über die Bücher »Spiegelland« und das daran anknüpfende »Dresden. Die zweite Zeit«, über »Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte« sowie über das Langgedicht »Der Körper meiner Zeit«. Auch bei Kurt Drawert geht es oft um Erinnerung. »Was kann man wissen und erzählen«, fragt er und ergänzt, die Vergangenheit habe ihn immer wieder eingeholt. So sei es zu einer Gleichzeitigkeit von verdrängten und augenblicklich erlebten Stimmungslagen gekommen. Alle Texte von Kurt Drawert bieten keine endgültigen Antworten. »Das haben meine Bücher dann doch gemeinsam: Sie sind bis in die Form hinein, die kausale Beziehungen auslöscht, Fragmente. Aber nicht in dem Sinne von: sie finden nicht zu einem Ganzen, sondern: sie meide es, ein Ganzes zu sein.«

Den Schluss des literarischen Reigens bildet Katerina Poladjan. Ihr Roman »Hier sind die Löwen« handelt davon, wie eine deutsche Buchrestauratorin (auch sie hat sehr aufwendig recherchiert) das heutige Armenien erlebt und gleichzeitig rückblickend vom 1915 erfolgten Genozid an dem armenischen Volk. »Zukunftsmusik« beschreibt einen Tag im Leben in einer Kommunalka, und zwar am 11. März 1985, dem Tag, der mit der Ernennung Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU verbunden ist. Auf Axel Helbigs Frage, ob es einen Druck gebe, sich sprachlich nicht zu wiederholen, antwortet Katerina Poladjan, es gebe wahrscheinlich einen Grundton, den alle Romane gemeinsam hätten. »Dann gibt es aber auch Abweichungen. Das liegt daran, dass ich mich mit mir selbst nicht langweilen möchte.«

Neunzehn Dichterinnen und Dichter hat Axel Helbig interviewt und dabei auf seine Ausgangsfrage neunzehn unterschiedliche Antworten erhalten. Wie kann es auch anders sein. So unterschiedlich die Werke sind, so unterschiedlich sind die Biografien, der ursprüngliche Zugang zur Literatur, die literarischen Vorbilder und Muttersprachen. Als Leserin kann ich davon nur profitieren. Vorerst habe ich mir drei der besprochenen Bücher gekauft. Andere werden folgen.


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