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Åsa Nelvin: Der sechste Traum

Gedichte > Klassiker
Åsa Nelvin
übersetzt von Patrik Valouch


Der sechste Traum:

Atomherz
 
Ihr habt es jetzt gesehen – meine ganze Welt,
                                                                                        Radierungen, Sprechblasen.

                                                                                                                           – – –
 
Gestern Abend
kratzte mich der Mond im Nacken,
und die Straßenbahnen hielten an. Taxis
und Polizeiwagen rollten aus,
und wurden zu
flachen Metallquadern gepresst,
dünner als Bierdosen – – –

Ich erwache im Morgengrauen
zur letzten Reise. Mit schwerem Kopf,
                                                              halbblind, völlig unerfahren.
 
Eine Kaulquappe bin ich
mit gebrauchtem Hirn.
Hirn Hirn Hirn
Ach, dieses lästige Organ voller Haferschleim,
ist einem Rührei am ähnlichsten,
eine Anhäufung
kopfloser Fötusschwänze
– als ob es mir helfen könnte, es
                     ZUR GEHIRNWÄSCHE ZU BRINGEN
 
Diesen Planeten habt ihr natürlich gut gemacht –
so voller Telefonzellen.
Dort schlafe ich meinen Dornröschentraum.
Den Kopf auf einem Katalog mit leeren Seiten.
Eine tote Echse küsste mich –
sie lag da wie die Arche Noah in der gefrorenen Tundra.

Ich wollte Schluss machen.
Aber ich stolperte dennoch hinaus.
Ich tue es lieber im Freien.
 
Geh in die Welt,
                             ja, geh in die Welt hinaus ­–
und es ist, als ob es bereits geschehen wäre,
und als ob sie schon vorbei wären, die vierzig Millionen Jahre,
bis ich meinen Namen schreiben kann.
Eingefroren ins Eis, all diese lieben Gesichter,
                      kurz davor ein Heiliger
                                        oder ein Sezierobjekt
für fremde Zivilisationen zu werden.
Das Vergangene liegt irgendwie vor mir.
Diese Salzsäulen von Menschen,
die mich mit hochgezogenen Augenbrauen
durch die eingeweichten Kaffeefilter betrachten,
in der eigenen Küche überrumpelt
und das Wort „nie“ lässt mich stolpern
und ich falle weiter,
den ganzen Nachmittag lang.
Ich habe alles getan, was ihr wolltet,
außer dem Allerletzten.
Ich war so artig,
auf die Weise, die bei euch zählt.
 
Jetzt kann ich es sagen –
                         ich hab’ euch zum Narren gehalten.
Ich betrat die Telefonzelle schon viel früher.
Bevor die erste Schneeflocke fiel
und nicht auf meiner Hand schmolz,
sondern wie ein kleiner Diamant liegenblieb,
wusste ich, dass es passieren würde. Da waren
in meiner Erinnerung schon Kältewellen verkapselt,
die etwas sehr Eisiges ankündigten.
Als der Verkehr stockte,
griff ich nach der Flasche und dem weichen Tuch
in der Innentasche
                                 meiner Jacke,
ich beträufelte den Stoff,
und drückte ihn an Mund und Nase,
atmete tief ein,
und dann begannen Flammen hinter einer
                  durchsichtigen Tür aus Plastik zu tanzen,
meine Glieder wurden synthetisch
                                                             und unverwundbar.
Ich versank in einem Ätherschlaf,
und als ich erwachte,
war alles vorbei.
 
Versteht ihr jetzt? –
 
      Jetzt bin ich wieder auf der Flucht
vor etwas Seltsamem, etwas Tierhaftem,
und stecke die Hände in die Taschen,
wie ein Flüchtling.
Nein, ich verstecke nichts.
Nein, ich verstecke nichts.
 
Ich verschwinde –
das ist es ja, was ich sage. Ihr werdet mich los.
Ich gehe die Kais an erstarrtem Wassers entlang,
die Straßenlaternen sind schließlich eingeknickt,
Der Ritter der Elektrizität ist kampflos gefallen.
Trostlose Burgerläden ziehen vorbei,
sie drehen sich wie umgestürzte Riesenräder.
Die zerknitterten Servietten unter den Theken
– versteinerte Seerosen.
Traurige Orchester im Tanzpalast spielen nicht mehr.
Der Posaunist, weiß gepudert, macht weiter mit geblähten Wangen.
Die Tankstellen wie verlassene Paradiese,
mit Schokoladenautomaten, die noch niemand geplündert hat.
Hochhäuser mit weggerissenen Außenwänden. Wie abgeschält.
Riesige Guckkästen aus Eis. Vollkommen einsehbar.
Schlafende Kinder in ihren Betten. Umgeben von
Stoffaffen und flauschigen Kuschelbären.
Menschen vor implodierten Fernsehern.
Liebende, die nicht mehr die Hand heben konnten.
Der Selbstmordkandidat,
der mit beiden Händen vorm Gesicht
auf den Badezimmerfliesen hockt.
Ein auf die Matte gerolltes Röhrchen.
Ringsum verstreute Tabletten,
die vor ihren bläulichen Zehen liegen.
Zu spät, Freundchen.
Den letzten Schritt hast du nicht gemacht.
Opfer des freien Willens.
Eure Uhr taugte nichts.
­– – –
 
Nein, ich will nicht.
Dennoch hatte auch ich meine Reserven.
Dieser ganze Planet ist voller Gashähne,
                                                                       Rasierklingen, Gifte.
Er ist eine Apotheke mit Lösungen,
die stets zum letzten Mal geschluckt werden können.
Vielleicht ist mein Gehirn kleiner als das eines Neandertalers,
und meine Seele nicht größer als ein Feuerzeug.
Ich will es überhaupt nicht wissen.
Ich will euer schmutziges Wissen nicht,
das ihr versucht habt mir, solange ich
auf der Erde war, aufzuzwingen,
darüber, was EINSAMKEIT wirklich ist.
 
Deshalb, alle ihr meinen steintoten Freunde,
muss ich mein Herz in eine Rakete stecken
und sie zehntausend Fuß über die Erde hochjagen,
den Weg der Atomuhren folgen,
sie schweben lassen –
und damit gewinne ich
einen Vorsprung
von 50 Milliardstel Sekunden
pro Stunde.
Das wird reichen.
Ich werde eine Art von Verlust spüren,
ihr wisst, dass es
klopft,
aber ich werde weitermachen können.

–  tapfer, tapfer wie ein kleiner Soldat.

Und ich werde durch die Hölle gehen
und rauskommen
 
am Ende der Hölle.
 


Åsa Nelvin (1951-1981), schwedische Prosaikerin, Lyrikerin und auch Schauspielerin. Ihre Geschichten, oft in einem sarkastischen Ton gehalten, spiegeln die düstere, harsche und freudlose Welt der Erwachsenen aus dem Blickwinkel eines Kindes wider – eine Welt der Einsamkeit, der Entfremdung und der emotionalen Enge. Es ist die Welt des „GÄSSCHENS“, einer Straße im Arbeiterviertel Helsingborgs (eine Küstenstadt im südschwedischen Schonen), wo Nelvin nach dem Tod ihrer Mutter im Haus ihrer Großmutter aufwuchs.  Ihre Kindheitserfahrungen evoziert Nelvin im Gedichtband Gattet: Sånger från barnasinnet (dt. GÄSSCHEN: Lieder aus einem Kinderkopf), der kurz nach ihrem verfrühten Tod veröffentlicht wurde. Mit liebevoller Hingabe, schrulligen Details und einer schillernden-mitreißenden Sprache führt das lyrische Subjekt den Leser durch den magisch-surrealen Mikrokosmos dieses Hauses. Der Übersetzer bedankt sich herzlich bei Klaus Anders für die kritische Durchsicht der Übersetzungen.
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