Arzu Demir: Urbild, Abbild und die Wesen im Garten
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Gerrit Wustmann
Suche nach dem Urbild des Menschlichen
Der zweite auf Deutsch erscheinende Lyrikband von Arzu Demir
Die Leere war schuldlos wie das Nichtswir konnten sie nicht verlassen
Diese zwei Verse stellt die Dichterin Arzu Demir ihrem
neuen, von Monika Carbe und Wolfgang Riemann ins Deutsche übertragenen
Lyrikband voran. „Urbild, Abbild und die Wesen im Garten“ lautet der
rätselhafte und auf den ersten Blick etwas sperrige Titel, der sich aber als
umso hintergründiger erweist, wenn man das Buch liest. Es ist das zweite, das
auf Deutsch erscheint, nach dem 2010 erschienenen „Wenn Satan sich zum
Rosenzweig beugt“, ebenfalls im Ludwigsburger Pop Verlag, damals noch unter dem
Namen Arzu Alir.
Auch die beiden vorangestellten Verse hätten als Titel herhalten können, denn in gewisser Weise sind auch sie programmatisch. Die Leere und die Liebe sind Leitmotive der kurdischen Dichterin, die auf Türkisch schreibt. Arzu Demir, in Ağrı im Südosten des Landes geboren, lebt heute in Ankara als Lehrerin. Sie hat mehrere Lyrikbände und einen Roman publiziert und ist im PEN aktiv. Dass ihr Werk nun auch hierzulande vorliegt, ist nicht zuletzt ihrem PEN-Kollegen Imre Török zu verdanken, der beiden Büchern ein Nachwort angefügt hat. Gemeinsam waren die beiden Autoren auf Lesereise in Deutschland. In der Türkei besuchten sie mit einer Delegation des PEN Ende 2014 die türkisch-syrische Grenze, als der IS gerade dabei war, die kurdische Grenzstadt Kobane zu erobern. Sie sprachen dort mit Flüchtlingen, während nur wenige Kilometer entfernt der Krieg tobte.
Dass Demir sich so sehr engagiert, liegt auch in ihrer
eigenen Biografie und der ihrer Familie begründet.
wer wischt mir das Leid von Zilan aus den Augenträte das Bajonett des Gewehrs aus dem Bauch des Großvaters wieder ausund der starb, ohne der Mutter einen Schluck Wasser geben zu können(…)wurde Ihnen schon einmal in die Augen geschnittendarauf drehten Sie durch als auch Sie zu Verstand kamensind Sie geflohen, flüchteten sich in die Stimme eines Kindesach wäre es nicht erschlagen wordenmit Sperlingsflügelnwäre mir dieses Kind entflogen
Das ist ein kleiner Auszug aus dem Gedicht „Seufzer“. Bei
der Schlacht am Zilan im Jahr 1930 schlug die türkische Armee einen kurdischen
Aufstand gegen die Neuordnung der Region brutal nieder. Über 200 Dörfer wurden
zerstört, die Angaben über die Opferzahlen variieren je nach Quelle zwischen
5000 und 47.000. Genau lässt sich das heute nicht mehr ermitteln. Jedenfalls
wurde bei diesem Massaker der größte Teil von Arzu Demirs Familie ausgelöscht.
Dass sie geboren wurde ist nur dem Zufall zu verdanken, dass eine Handvoll
ihrer Vorfahren überlebte. Wie tief dieses Trauma sitzt, spürt man in vielen
ihrer Gedichte. Ihre Kindheit verbrachte sie dann selbst in einer Region, die
durch den Krieg zwischen PKK und Armee immer wieder umkämpft war und es heute,
nach einem kurzen und brüchigen Friedensprozess, wieder ist. In Ağrı lebten bis zu dem
Genozid im Jahr 1915 viele Armenier. Es ist also seit über 100 Jahren ein
immerwährendes Leid von Krieg und Vertreibung, das die Region erschüttert und
auch in Arzu Demirs Texten Nachhall findet:
all meinen Staubwerfe ich von einer Brückezwischen einem Türkenund einem Armenier / gefühlvoll – wie eine Totenklage
Solche Verse sind in der Türkei des Jahres 2017 wieder gefährlich. Als
Schriftsteller kann man sich nicht mehr auf die Freiheit des Wortes verlassen.
Der Völkermord an den Armeniern wird offiziell geleugnet, und die Lesart des
Regimes ist, dass die Armee im Südosten Terroristen bekämpft. Wer sich um ein differenziertes
Bild bemüht und die massiven Menschenrechts-verletzungen anprangert, riskiert,
selbst wegen Terrorunterstützung angeklagt zu werden. Fast 60.000 Menschen
sitzen heute in der Türkei aus politischen Gründen in Haft.
Vielleicht ist es das, was Arzu Demir mit der immerwährenden,
erdrückenden Leere meint, gegen die sie aufbegehrt in Klagegedichten ebenso wie
in Liebesgedichten. Und vielleicht sind es die bewusst gesetzten Verschiebungen
der Wahrnehmung in ihren Versen, mit denen sie nach dem „Urbild“ sucht hinter
dem „Abbild“, das auf die Realität geklebt wurde. Von Politikern vor allem. Und
so wird auch die Freiheit des Wortes an sich zum Thema:
dem Tropfen zu Ohrenim Funken gefangen liegt der Verdienst des Tropfensschnell näherte er sich der Sprachemit Wörtern aufbrausend in ihmdie Rettung ist dunkler als Blutschärfer als das Schwert der Einsamkeitdie Macht fürchtenddes gesprochenen Wortsdas mündliche Verständniswar unausweichlichdie Vertreibung aus Kummerder Stift hat den Zunder geritztder Vogel im Schädelist Gast der Aschemit vierzig Ameisenstatt vierzig Villen zu bauenRegeln für das alte Buchin den Städten aus Papierungeschützt vor Fehlernder Stift gab dem Menschen die Kraftwar die Gunst der Redegepaart mit dem Zweifel
Das Lyrische Ich „starb mit einem Wort“ und sieht „leere Worte / leere
Worte / ohne Unterlass“, die Stimme der Dichterin sagt: „in meinen Handflächen
verschloss ich die Korane / dem Verräter zu lauschen soll meinen Ohren tabu
sein“. Am Ende wird das Eingangsmotto zu einer Frage: Ist diese Leere wirklich
schuldlos? Und kann man sie wirklich nicht verlassen? Hier zumindest sind die
Zwischentöne der bildreichen Sprache von Arzu Demir recht eindeutig: Jedes
Wort, jedes Gedicht ist ein Aufbegehren gegen diese Leere. Ein Aufbegehren,
dessen Anlässe nicht weniger werden ...
Arzu Demir: Urbild, Abbild und die Wesen im Garten. Gedichte. Ludwigsburg (Pop Verlag) 2017. 86 S. 15,00 Euro.