Arthur Cravan: König der verkrachten Existenzen
Jan Kuhlbrodt
Der Neffe und der Vater
zu Arthur Cravan
Dass Boxkampf und Literatur eine enge Verbindung eingehen können, wissen wir spätestens seit Bertold Brecht, der während seiner neusachlichen Phase ein Gedicht schrieb, das die Namen der Boxweltmeister aneinanderreihte, und Brecht beschwor auch später das Schwimmen. Nun konnte Brecht relativ schlecht schwimmen und hat auch nie einen Boxkampf bestritten. Ganz anders der Autor, um den es hier geht.
Arthur Cravan ist in vielem ein Vorläufer, und er kämpfte als Boxer am 23. April 1916 gegen Jack Johnson um den Weltmeistertitel. Zu einer Zeit also, als sich die Armeen Europas gegenseitig die Köpfe einschlugen. Allerdings ging Cravan in der sechsten Runde K.O. Außerdem schwamm er auch im Pazifik, wo er wahrscheinlich 1918 ertrank. Seine Biografie jedenfalls liest sich, als hätte B. Traven sie erfunden.
Cravan wurde 1887 in Lausanne geboren. Er war der Neffe von Oscar Wilde, dem er später immer wieder Texte widmete. Er desertierte 1912 von der französischen Armee, rechtzeitig also, um dem Ersten Weltkrieg zu entkommen, trieb sich in Portugal herum, gab in Paris eine Zeitschrift heraus, ging nach Amerika, gründete in Mexiko eine Boxschule und heiratete die englische Künstlerin und Dichterin Mina Loy. Die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter erlebte er nicht mehr.
Der Band mit dem Titel König der verkrachten Existenzen erschien im letzten Herbst in der Hamburger Edition Nautilus. Er versammelt Gedichte, Essays, Briefe und autobiografische Schriften und ist eine echte Entdeckung für mich. In einem Text, der dem Buch als Vorwort dient, schreibt André Breton:
Er propagierte eine ganz neue Auffassung von Literatur und Kunst, die, was das Schauspiel betrifft, den Jahrmarktboxer oder den Dompteur favorisierte. … Aus Hass gegen die stickigen Buchhandlungen, wo ein großes Durcheinander herrscht und selbst Neuerscheinungen zu sogleich Staub zerfallen, schiebt Cravan Stapel von „Maintenant“-Exemplaren auf dem Karren eines Gemüsehändlers vor sich her.
Das Nachwort des Bandes lieferte Bastiaan an der Velden, die Übersetzungen besorgten Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt.
Maintenant hieß die Zeitschrift, die Cravan ab 1912 herausgab. Der Name (Jetzt) weist seine Nähe zum Futurismus aus, meine ich, auch wenn er für Breton als Vorläufer des Dadaismus gilt, wofür wiederum seine explosiven Selbstinszenierungen sprechen. Der erste Text aber in der ersten Ausgabe der Zeitschrift trägt eindeutig Futuristischen Charakter. Er beginnt folgendermaßen:
Pfiff
Der Rhythmus des Ozeans wiegt die Überseedampfer
Und in der Luft, wo die Gase wie Kreisel tanzen,
Während der heroische Schnellzug bei seiner
Ankunft in Le Havre pfeift,
Treten die athletischen Matrosen wie Bären näher.
New York, New York, ich möchte dich bewohnen!
…
Wir finden hier Anklänge der Technikbegeisterung des italienischen Futurismus, aber auch der New York Apotheose, wie wir sie später bei Majakowski finden.
Spannend ist auch, wie Cravan im Rahmen der Zeitschrift, deren einziger Autor er ist, die Genregrenzen überwindet. Es gibt Texte, die in Prosa beginnen und abrupt in eine Versform wechseln, um am Ende in einem wiederum prosaartigen Appendix zu münden. Repräsentativ hierfür ist die Ausgabe 5 vom März/April 1915, die Texte unter dem für Cravan signifikanten Titel Poet und Boxer versammelt.
(Diese Nummer erklärt alle vorherigen Nummern für null und nichtig. Diesen Vorspruch kann man sowohl auf die Zeitschrift beziehen, als auch auf den futuristisch dadaistischen Gestus des Autors hinsichtlich der Kunstgeschichte.)
… Ich dachte: Oh, niemals hat ein Schnurrbart eine so intensive Körperlichkeit ausgestrahlt, und vor allem, Gott verdammt, wie ich dich liebe:
Und während ich Nächstenfresser
Für die Liebe deiner Heizung
Unsere Westen kabeln sich ihr Violett,
Während ich, Liebling und Blumenkohl,
Deiner Tonleiter und Deinen Farben folge
Und wenn im oben zitierten Gedicht noch der Futurismus mitschwang, neigt sich die Waage hier eindeutig Richtung Dada. (Ich höre einen aufkommenden Schwitters heraus.)
Der für mich eindringlichste und schönste Text des Bandes entstammt den unveröffentlichten Manuskripten und Fragmenten, und heißt Elefantenmattigkeit; er endet:
Sie weideten die Grasfresser im Halunkengrün der Wiesen,
Ich war verrückt, Boxer zu sein und dabei das Gras anzulächeln.
Arthur Cravan: König der verkrachten Existenzen. Überarbeitete und ergänzte Neuausgabe. Hamburg (Edition Nautilus) 2015. 192 Seiten. 22,00 Euro.