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Arndís Þórarinsdóttir: Sieben mal das innere Wesen, Teil 2

Gedichte > Lyrik heute
Foto: Studio Gassi
Arndís Þórarinsdóttir
7 Gedichte aus dem Gedichtband
INNRÆTI /  DAS INNERE WESEN

Aus dem Isländischen übertragen von
Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer

Teil 2

Verhaltenskodex

Ich habe keine Angst vor fremden Menschen

Man kann sie ignorieren
Man kann Experimente mit ihnen veranstalten
Sich seltsam benehmen und schauen was passiert

Ohne Folgen

Die engeren Verwandten gehen die meiste Zeit
auch in Ordnung
Sie tragen ein merkwürdiges Benehmen mit Fassung

All die anderen sind das Problem

Die flüchtigen Bekanntschaften
Die alten Schulkameraden
Die neuen Arbeitskollegen

Oft merke ich es nicht
bis ich dastehe mit dem Rest der Hauskatze im Maul
und sie alle mich anstarren
Das Blut tropft vom Kinn herab



Ungesagt

Ich habe gelernt zu schweigen

Wörter die der Schmiede des Geistes entkommen
vergraben sich tief in das Weichgewebe
wo sie Entzündungen verursachen
und Fieber

Wörter die lange auf dem Wetzstein verharrten
und dann hinausgeworfen werden in die Welt
können Knochen durchtrennen
die nie wieder richtig zusammenwachsen

Ich bin eine Waffenkammer
ungenutzt
und die Schneiden blitzen



Meine Natur

Ich möchte heulen

Es ist als versteckte sie sich immer wieder hinter Wolken
hell
hochmütig
zunehmend
hält offensichtlich viel von sich

Ich möchte heulen

Die Zähne in das glänzende Fleisch versenken
ihr bleiches Antlitz färben mit Blut

Ich möchte jaulen
aber ich kann es nicht

Mundtot gemacht von der Zivilisation
tue ich so als gehe mir
ihr Treiben nichts an



Das innere Wesen 

Manchmal
wenn ich zwischendurch Nüsse esse
eher als M&M
kommt mir in den Sinn
ganz aufrichtig
dass ich die Tugenden wohl nicht gerade am Leib trage
aber es ist immer noch denkbar
dass nach dem Weltuntergang
viele hundert Jahre nach dem Weltuntergang
wenn irgendwer mich exhumiert
und die Knochen unter einer Glashülle
sorgfältigst zusammensetzt
dass es dann
bei der Altersbestimmung heißen wird
dass die Überreste
von einer viel jüngeren Frau stammen


4 Gedichte aus dem Gedichtband INNRÆTI /  DAS INNERE WESEN
Verlag Mál og menning, Reykjavík 2020


Arndís Þórarinsdóttir, geb. 1982, hat einen BA-Abschluss in allgemeiner Literatur von der Universität Islands und einen MA-Abschluss in Schreiben vom Goldsmiths College London. 2005 veröffentlichte sie erstmals eine Kurzgeschichte in der Literaturzeitschrift Tímarit Mál og menning und schrieb regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften. Ihr erstes Buch war die Jugendgeschichte Játningar mjólkurfernuskálds / Geständnisse eines Milchtütendichters, die 2011 veröffentlicht und für den Nordischen Kinderbuchpreis nominiert wurde. In den letzten Jahren erschienen die beliebten Kinderbücher Nærbuxnaverksmiðjan / Die Unterwäsche-fabrik (2018), Nærbuxnanjósnararnir / Die Unterwäschespione (2019 – nominiert für den Isländischen Literaturpreis in der Kategorie Kinder und junge Erwachsene) und Nærbuxnavélmennið / Der Unterwäscheroboter (2020). Für ihre Lyrik erhielt sie Anerkennungen im Wettbewerb um den Poesiestab Jón úr Vör 2016 und 2019. Innræti / Das innere Wesen ist ihr erster Gedichtband. Mit ihm ist die Autorin für den Isländischen Literaturpreis 2020 in der Kategorie Fiktion nominiert. Sie lebt in Reykjavík.
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