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Anne Carson: Anthropologie des Wassers

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Jan Kuhlbrodt

Zu Anne Carsons "Anthropologie des Wassers" (und "Decreation")



2014 war, zumindest im deutschsprachigen Raum, das Jahr der Anne Carson. Zu den in den sogenannten Nullerjahren erschienen Büchern mit Übersetzungen ins Deutsche Glas, Ironie und Gott und Rot sind mit Decreation und Anthropologie des Wassers zwei weitere hinzugekommen, und der Kreis der Carson-Übersetzerinnen hat sich um Anja Utler und Marie Luise Knott erweitert.

Als Glas, Ironie und Gott erschienen war, studierte ich noch am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Frau Beyer, die damalige Bibliothekarin im Haus, legte es mir ans Herz und traf damit ins Schwarze. Die essayistischen Langgedichte, die das Buch enthält, beeindruckten mich nachhaltig.

Zeitlich flankieren die beiden jüngst erschienen Bände die vorangegangenen. Während Decreation, erschienen im S. Fischer Verlag, eine Art Überblick zulässt über die Formenvielfalt, die Carson bedient, beschränkt sich Anthropologie des Wassers (Matthes & Seitz) auf einen Grenzbereich zwischen Lyrik und Prosa, Tagebuch und Essay. Als bildeten diese angeführten Gattungen in den vorgelegten Texten eine Schnittmenge, wie auch Traditionen. Europäische Antike, japanische Poetik, abendländische Mystik verschmelzen in der Gegenwart eines Roadmovies.
Aber auch in dieser Verschmelzung verweisen sie auf den Ursprung lyrischen Schaffens, begann es doch mit dem Epos, das nicht selten auch die Beschreibung einer Reise war. Und wie bei Homer die Beschreibung der Waffen schon fast als eigenes Genre durchgehen kann, man könnte durchaus die Passagen der Darstellung von Schwertern und Schilden auskoppeln und als Singleveröffentlichung neben die antiken „Konzeptalben“ stellen, bedient Carson diese Feier des scheinbar Banalen, der Oberfläche. Dabei aber legt sie soziale Strukturen frei.


In Nur ein Rausch, einem von drei in sich geschlossenen Teilen von Anthropologie des Wassers heißt es:

Wie jede Kampfkunst zieht Zelten deine Seele zusammen. Sein Dao manifestiert sich zum Beispiel in Messern. Der Kaiser hat eine zwei Fuß lange Machete, die im Zelt neben ihm schläft, ferner ein Schweizer Armeemesser, ein Springmesser, ein italienisches Brotmesser, ein Exaktor und vier Nagelknipser. „Rühr das nicht an,“ sagt er, als ich mich eines Morgens über die Machete beuge. „Man schneidet sich zu leicht.“


Dieser Text trägt den Untertitel: Über die Verschiedenheit von Frauen und Männern. Und die zitierte Passage, der Kaiser ist ein Sinologe und der Geliebte der Protagonistin, spiegelt sich in einem Abschnitt, in dem geschildert wird, wie die Protagonistin jährlich mit ihrem Vater in den Wald zieht, um einen Weihnachtsbaum zu schlagen, wobei der Vater eifersüchtig darüber wacht, dass Axt und Säge in seinen Händen bleiben, angeblich, weil man sich sonst an ihnen schneiden könne. Erst als der Vater dement ist, macht sich die Erzählerin allein auf den Weg. Und es fällt ihr ganz leicht, die Instrumente zu nutzen. Die Einfachheit dieser Emanzipationsgeschichte verblüfft. Das Einfache, das schwer zu machen ist.

Die Anthropologie des Wassers aber beginnt mit einem Text, der titelgebend ist und eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg beschreibt. Seltsamer Weise bedient sich Carson hier einer Japanischen Form um einen traditionellen, fast ausgetretenen, europäischen Pilgerweg zu beschreiten und beschreiben: Der Haibun aber ist genauso ein Zwitterwesen zwischen Lyrik und Prosa, wie dieses Werk Carsons. Es handelt sich dabei um eine knappe Prosaskizze, die in einen lyrischen Text, meist ein Haiku ausläuft. Carson dreht das um, und beginnt die Stationsbeschreibungen ihrer Wanderung mit einem Zitat aus der japanischen Literatur, um dann in einen die Situation reflektierenden Text zu fallen. Kurze Prosa abgesetzt in Lyrik. Die Übersetzerin Marie Luise Knott verweist in ihrem Nachwort auf Robert Walser. Schriftstellern, so dieser, habe mit Reisen oder Wandern Verwandtschaft.
Und Carson arbeitet an allen Rändern der Literatur. In Decreation finden sich neben einem Libretto auch Texte, die sich von der Bildenden Kunst inspiriert sehen. Äußerst beeindruckend ist dabei für mich die Annäherung an ein Bild von Betty Goodwin. Sitzende Figur mit rotem Winkel heißt das Bild, und auch hier fällt die Sprache in eine Bewegung, wenn man so will, umkreist sie das relativ statische Vor-Bild.

Mein Carson-Regalbrett füllt sich, und ich bin froh darüber.



Anne Carson: Anthropologie des Wassers. Berlin (Matthes & Seitz) 2014. 130 Seiten. 19,90 Euro.

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