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Anja Utler: "manchmal sehr mitreißend"

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Jan Kuhlbrodt

Jenseits von Produktionsästhetik und Hermeneutik


zu Anja Utlers „manchmal sehr mitreißend“ - Über die poetische Erfahrung
gesprochener Gedichte


Bei diesem Buch handelt es sich, auch im strengeren Sinne, um eine wissenschaftliche, eine Forschungsarbeit. Das soll keine Warnung sein, auch wenn der Text an keiner Stelle seinen wissenschaftlichen Anspruch hinter blumigen Formulierungen verbirgt. Ich habe einige Zeit gebraucht, dieses Buch zu lesen, habe langsamer gelesen, als es meine Gewohnheit ist. Ziel des Textes ist Erkenntnis und kritische Auseinandersetzung mit anderen vorangehenden theoretischen Annahmen. Aber sein Material beschränkt sich nicht auf tradierte theoretische Positionen, nicht auf die Auswertung vorhandener wissenschaftlicher Literatur angesichts von Gedichten, sondern geht darüber hinaus, wie ich es von Literaturwissenschaftlern bisher nicht kannte, sozusagen ins Gelände. Der Text bedient sich soziologischer Arbeits- und Erhebungsweisen. Das ermöglicht es Utler, die überlieferten Felder der Literaturwissenschaft zu verlassen, die sich, soweit ich sie kenne, den Leser oder in diesem Fall Hörer, aus Texten der Kollegen konstruierten.

Utler erfasst Äußerungen von Hörern oder Rezipienten, aber auch von Produzenten in Fragebögen und Gesprächen, und macht das zur Grundlage einer Untersuchung, die über klassische Hermeneutik oder Produktionsästhetik hinausgeht.

An dieser Stelle sei betont, dass ich diese unterschiedlichen Wahrnehmungen der Hörerinnen ohne Wertung darstelle – ´angenehm´ heißt hier nicht ´besser´ oder umgekehrt. Vielmehr zeigt sich die Qualität der Gedichte gerade darin, dass ihr völlig verschiedener Zugriff auf unterschiedliche Dimensionen auch so wahrgenommen werden konnte: als anders angehend.

Dieses im [transkript] Verlag erschienene Buch ist Produkt der Forschungsarbeit, die Anja Utler an der Universität Regensburg zwischen 2012 und 2015 organisierte und durchführte. Es gab eine Reihe von Lesungen über ein Semester hinweg, die Lesungen wurden von Studierenden im Seminar besprochen, und darüber hinaus führte Utler Interviews mit den Lesenden. Diese Gespräche und die Vorlagen der Fragebögen sind am Ende des Bandes dokumentiert und wären je eine eigene Besprechung wert. Gesprächspartner und zugleich Vorlesende vor den Studierenden waren Lyrikerinnen und Lyriker verschiedenen Temperaments, verschiedener Sprache und Kulturen, und spannenderweise eine Zusammenarbeit zwischen den Lehrstühlen Slawistik und Germanistik, was eine sprachübergreifende Forschung geradezu nahelegt. Außerdem scheint mir, auch angesichts der ausgewerteten Literatur, die russische Forschung auf diesem Gebiet wesentlich weiter.

Das Buch geht natürlich über die Auswertung der von der Autorin erhobenen Daten hinaus; vielmehr ist es so, dass dieses empirische Material in die Darstellung komplexer theoretischer Sachverhalte einfließt, die allesamt um das Sprechen von Gedichten kreisen und dessen Auswirkung auf deren Rezeption. Im ersten Teil beispielsweise bietet Utler einen historischen Abriss der Auffassungen vom Gedicht als Selbstansprache oder Selbstgespräch, was, wenn man es nur mit leicht versetzter intellektueller Optik verfolgt, zugleich eine Darstellung der Verschiebungen in der Auffassung künstlerischer Subjektivität beinhaltet. Und vor der Folie auch des künstlerischen Selbstgesprächs entwickelt Utler eine Abgrenzungstheorie der Lyrik zur Prosa, die mir einigermaßen einleuchtet, obwohl ich solchen Theorien bisher generell eher misstraute.

Entsprechend ihrer begrifflichen Leistung sind narrative Texte – selbst wenn sie im Präsens arbeiten und auch, wenn ihre Figuren sich entwickeln, weniger prozesshaft als die Lyrik. Abgeschlossenheit und Übersicht sind in ihnen wichtiger als aktualisierte Entwicklung.

Auch Aspekte des Verstehens oder Begreifens lyrischer Texte spielen in diesem Zusammenhang, also beim Hören lyrischer Texte, eine wesentliche Rolle und erfahren durch Utler eine begriffliche Erweiterung.

Die vielfältigen Schattierungen im Buch machen es, wenn man nicht genug Sitzfleisch hat, zum idealen Foucault‘schen Steinbruch. Man kann an verschiedensten Stellen in die Lektüre einsteigen und immer beladen mit Denkanregungen wieder herauskommen. Zumindest, wenn man sich für Lyrik interessiert. Und warum man sich dafür, also für die Lyrik, aber auch für deren Rezipienten, interessieren sollte, und warum Lyrik nicht irgendwo in Arkadien angesiedelt ist, sondern einen Platz in der realen Welt hat, erfährt man im Vorwort des Buches durch eine Replik auf die dänische Autorin Janne Tenner die 1993 während des Bürgerkrieges für eine UN Mission in Mosambik arbeitete.


Anja Utler: "manchmal sehr mitreißend". Über die poetische Erfahrung gesprochener Gedichte. Bielefeld ([transcript] Verlag) 2016. 218 Seiten. 29,99 Euro.

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