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Andrej Belyj: Glossolalie, 11

Poetik / Philosophie > Glossen

Andrej Belyj
Glossolalie

11

Ist es möglich, blitzschnell denkend den Kreis der Begriffe zu umspannen? Tatsachlich gibt es den wörtlichen Ausdruck – nicht; der eine Begriff ist vom anderen durch unüberwindbare Abgründe getrennt; so werden uns die Logiker antworten; sie werden die Gedankengänge – den Übergang von Begriff zu Begriff – als einen riesigen Prozeß aufdecken, der an den Kosmos erinnert, wo die Begriffe – Sterne sind – voneinander durch unermeßliche Abgründe getrennt; die Sinne – sind diese Abgründe.
    Die zeitgenössischen Gnoseologen sind sich der Tragödie des mit dem Bild belasteten Begriffes bewußt geworden; den Künstlern des Wortes ist die Tragödie bewußt: des mit dem Schema belasteten Bildes; sowohl das Bild als auch die Wurzel, sich gegenseitig zerbrechend, zerbrechen uns den Sinn; und die Gradationen des Sinnes, die ihre Verbindungen untereinander zerrissen haben, stehen vor uns; blind, taub, stumm – stehen wir vor ihnen; und mit der Grammatik sich gegen den Sinn des begrifflichen Greifens auflehnend, und aus der Logik heraus sich gegen die bildhaften Wahrnehmungen der Begriffe erhebend – uns zerfleischend, haben wir die Worte zerfleischt. Aber der gemeinsame Stamm, oder die Wurzel, ist untergründig, dunkel und taub; sein Sinn – unterschwellig [saporoshen]; die Schwellen des Bewußtseins sind wackelig; werden sie unachtsam zerbrochen, drohen uns die Worte, saporoshzy, mit einem bedrohlichen, dunklen Stoß: die Gewalt des Schreies über die Vernunft. Das Bestreben, den Wörtern einen neuen Sinn zu erschaffen, ist oft – Wahnsinn.
    Und dennoch: das Gedankenbild, der Begriff sind eigentlich das Abhängige, Wandelbare des Wortes; seine unabhängige, beständige Größe – ist der Laut; und er zwingt, ruft uns zum Schwellenübertritt: in die Nacht des Wahnsinns, in die Weltschöpfung des Wortes, wo es weder den Begriff, noch das Wortbild gibt – es gibt das Feste – und leer ist es, und wüst, doch der Geist Gottes - über ihm.


Andrej Belyj: Glossolalie. Poem über den Laut. Übersetzt von Thomas R. Beyer, Jr. (ins Englische) und Maka Kandelaki (ins Deutsche). Pforte Verlag. 264 Seiten. 2003.
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