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Andreas Rentz: Das ewige Unbehagen

Montags=Text
Foto: Cosima Weiske
Andreas Rentz

Das ewige Unbehagen


Liebste Julia,

oh du mein Abendrot, mein süßester Engel, mein Sonnenstrahl am nächtlichen Firmament der Liebe. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich beim Schreiben dieser Worte an dich denken muss. Auf dass du ewig mein Pupsibärchen bleiben wirst, mein Wuschelpuschel, oh du erdabgewandte Seite meines Mondes, du Piratengold der Schatzsuchenden meiner Armada, du Honig auf meiner zu salzig geratenen Erdnussbutter, du Rippe meines Torsos. Seit dem Tag meiner Geburt war mein Sein dazu bestimmt, in deinen Armen zu liegen und dich in den meinen zu halten, vom Schicksal vorgesehen, als wir noch zu denken außerstande waren, von scheinbaren Zufällen zueinander gebracht, als wir bereits zu empfinden gelernt haben, um bis in die endlose Ewigkeit des grenzenlosen Da- und Soseins uns ineinander schmiegend durch die unendlichen Weiten des Universums schweben und sämtliche auf uns einprasselnde Antimaterie abwehren zu können. Ich hoffe und bete, dich davon überzeugt zu haben, dich bereits seit dem Urknall zu lieben und dich immer lieben zu werden.
    Auszudrücken, wie sehr es meinen Innereien Schmerzen bereitet, von dir getrennt zu sein, liegt jenseits jeder Möglichkeit meiner Autokorrekturfunktion. Ändern lässt sich an der Distanz zwischen uns vorerst nichts. Bis auf weiteres sind wir beide unserem Schicksal ausgeliefert, das uns ebenso füreinander bestimmt hat wie dazu, eine endgültige Vereinigung aufzuschieben. Du bist dazu verpflichtet, sechzig Stunden die Woche die Quelltexte einer Datenbank mit XML zu codieren, die die gattungsspezifischen Einflüsse von Krokodilen auf die Bereitschaft von mit den Tieren in Kontakt getretenen Personen zu Glücksspielen aufzeichnet. Und ich wiederum muss ebenso viel Zeit dafür aufwenden, die Akten des Archivs zur Erforschung der gefühlten Persönlichkeit von Gestein aus Vermarktungsperspektive regelmäßig zu sortieren und zu entstauben. Solange wir für unser Überleben diesen Tätigkeiten nachzugehen haben, bleibt uns immerhin die Hoffnung auf unsere Verschmelzung nach unserer Pensionierung, sollte uns in den nächsten sechzig Jahren nichts widerfahren, was uns daran hindern könnte. Dann haben wir wenigstens bis zu unserem Tod ein paar romantische Augenblicke, die wir miteinander verbringen können.
    Zumindest sagt man uns das.
  Erinnerst du dich noch, wie wir uns auf dem Tag der Gleichheit kennengelernt haben? Wir marschierten beide im Stechschritt in der Parade der Gleichheit. Du trugst einen grauen Pullover, eine graue Hose und graues Makeup. Ich trug das gleiche. Und jeder andere trug ebenfalls das gleiche. Vom ersten Anblick an war ich von deiner formvollendeten Unterschiedslosigkeit zu allen anderen Teilnehmern in den Bann gezogen. Wie du genauso ausgesehen hast wie jeder andere auch: Ich hatte mich Hals über Kopf in dich verliebt und wusste: Du bist die, die das Schicksal für mich auserkoren hat. Die Einzige. Die Richtige. Die Wahre. Ich musste dich wiedersehen. Du hast es bislang nicht wissen, allenfalls ahnen können, doch war es kein Zufall, als wir nur zwei Wochen darauf am Tag der Freiheit direkt nebeneinander standen und auf der Parade der Freiheit Seite an Seite den Felsbrocken der Freiheit hinter uns her zerrten. Ich hatte nämlich die Paradenleiterin gebeten, mich beim Umzug an deine Seite zu versetzen – was mir auch nur 5000 Taler gekostet hat. Sicher weißt du aber noch, wie wir uns kurz darauf leidenschaftlich geliebt haben und nur vom Höhepunkt abgehalten wurden, als der Felsbrocken der Freiheit uns zu überrollen drohte. Dir tief in die Augen zu blicken und deinen Atem an meiner Geheimratsecke zu spüren war jedenfalls der schönste Moment meines Lebens. Die 5000 Taler waren das allemal wert.
    Doch hindert uns der Alltag daran, Augenblicke dieser Art zu wiederholen. Ich weiß, du leidest darunter genauso wie ich. Und Tag für Tag eile ich auf der Suche nach einer Lösung durch die Weiten des Netzes, soweit mir meine Freizeit das zulässt. Sei dir gewiss: Ich habe jemanden kennengelernt, der vielleicht helfen kann. Alexandra J. ist Systemkritikerin und untersucht, wo das System kritisch ist. Früher war sie eine geachtete und erfolgreiche Radiomoderatorin mit ihrer eigenen Sendung „Pornos sind geil!“, bis sie eines Tages begann, den Reichen und Mächtigen auf den Zahn zu fühlen und unangenehme Fragen in Bezug auf Politik und Gesellschaft zu stellen – doch erwiesen sich die eingeladenen Pornodarsteller, an die sich diese Fragen richteten, als unfähig, diese zu beantworten. Warum aber? Haben sie etwas zu verschweigen oder zu verbergen? In jedem Fall wurde Alexandra nach einiger Zeit entlassen. Nun betreibt sie einen eigenen Videokanal, auf dem sie ihre Zuschauer über die wahren Umstände ihres Daseins aufzuklären versucht und sich von ihnen dazu bezahlen lässt. Dabei dringt sie in Bereiche jenseits dessen vor, was uns Tag für Tag als Realität aufgetischt wird. Du musst wissen: Nichts ist so, wie es scheint. Wir werden permanent zu unseren eigenen Ungunsten zum Narren gehalten. Sicher brennt es dich genauso wie mich, zu erfahren, was es damit auf sich hat – und warum uns dieses Versteckspiel daran hindert, uns gegenseitig und unsere Liebe zu vervollkommnen.
    Alexandra hat sich nämlich einige Gedanken gemacht. Ihrer Theorie nach stellen das größte Problem im Leben die Toten dar. Du hast richtig gehört: Die Toten. „Jene Toten, die sich nicht mehr bewegen können und in Frieden ruhen?“, fragst du dich vielleicht. Lass dir gesagt sein: So friedlich wie sie wirken, sind sie möglicherweise gar nicht. Denk mal darüber nach. Alexandra glaubt nämlich, dass die Toten hinter dem Ganzen stecken. Anscheinend gibt es in der Hölle keinen Platz mehr, erzählt sie, weshalb sie auf die Erde zurückkehren und hier ihr Unwesen treiben, sei es als Geister oder auf jede andere beliebige Art. Das muss man wissen. Laut Alexandra neiden sie uns um unser Leben und haben sich dazu verschworen, es uns so schwer wie möglich zu machen. Das kannst du auch auf ihren Videos nachschauen, die sie online veröffentlicht hat. Aber Vorsicht! Ich bitte dich darum, mit diesen sehr sensiblen Informationen vertraulich umzugehen.
    Jedenfalls würde Alexandras Theorie so ziemlich alle Probleme erklären, mit denen wir im System konfrontiert sind. Ein paar Beispiele möchte ich dir nennen. Sicherlich hast du in den Nachrichten auch von der Arbeiterflucht erfahren. Auf unsere Branche ist sie zum Glück bislang noch nicht übergegriffen. Dennoch hört man überall von der Parole, Ulrich Horstmann vom Kopf auf die Füße stellen zu müssen. Tausende von Arbeitern haben sich bereits dem größten Kollektivsuizid der Menschheitsgeschichte angeschlossen, angeblich aus Protest gegen schlechte Arbeitsbedingungen, wie es in der Massenpresse heißt. Als ob niedrige Löhne, befristete Arbeitsverträge, schlechte Aussichten auf gesicherte Renten und wenig Freizeit relevante Probleme wären. Auch wir sind davon betroffen, aber liest du mich jammern? Wohl kaum. Wer hart genug ist, beißt die Zähne zusammen und zieht sein Ding an seinem Arbeitsplatz durch. Das machen wir und ich bin sicher, jeder normale und ehrbare Mensch macht das auch. Wer aber tut das nicht? Wer verbringt seine Zeit mit Müßiggang statt mit Leistung und harter Arbeit? Richtig: die Toten.
    Zumal es für sie auch kein Problem sein dürfte, Selbstmord zu begehen, da sie ohnehin schon tot sind. Denn welcher vernünftige Mensch würde schon Hand an sich selbst legen? Wir beide wissen, wie stark die Liebe sein kann, um persönliche Schwierigkeiten und Arbeitsbedingungen jedweder Art durchzustehen. Wer unzufrieden mit seinem Leben ist, soll daran arbeiten, lieben zu können, statt zu klagen und zu jammern. Und wer das nicht zustande bekommt – tja, der ist wohl selbst schuld, wenn er den Freitod wählt. Aber laut Alexandra trägt nicht jeder Selbstmörder die Alleinverantwortung für sein Schicksal. Sie hat da eine viel interessantere Theorie. Könnte es nicht sein, dass die Toten aus Neid um unser Leben die Arbeiter gezielt in den Selbstmord treiben? Sie durch die überzogene Skandalisierung der Arbeitsbedingungen verblenden? Sie um Liebe und Leben bringen? Man wird ja wohl noch fragen dürfen.
    Ein anderes Beispiel: Auch hinter der sogenannten „Kinderrevolution“ stecken wohl die Toten. Wahrscheinlich kennst du die Bilder aus dem Fernsehen: Hunderttausende von Kindern, die auf die Straße gehen und sowohl die Schule als auch das Familienleben bestreiken. In nicht enden wollenden Demonstrationszügen ziehen sie durch die Hauptstadt, in der sie sich aus allen Ecken und Enden unseres Landes versammeln. Sie tragen Schilder und rufen Parolen wie „Lehrer, Eltern, Hand in Hand – unsere Antwort: Widerstand!“ oder „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr Alten uns verhaut!“ oder auch „Schulpflicht, Lernzwang, Notenschnitt? Wir sagen dazu: Schluss damit!“ Manche von ihnen neigen auch zur Militanz, prügeln sich mit Polizisten oder errichten Barrikaden. Einige haben auch öffentlich ihre Kuscheltiere verbrannt, weil sie fordern, nur noch mit echten Menschen, die sie lieben, kuscheln zu wollen statt sich mit leblosen Plastikgeschöpfen abspeisen zu lassen. Als wären sie zu wahrer Liebe überhaupt fähig. Immerhin sind sie zu jung dafür!
     Lange Zeit dachte ich aber wie du vermutlich auch, dass die Kinder für ein besseres Leben demonstrieren. Aber klingt das wirklich plausibel? Dass die Kinder das Versprechen der Regierung, ihnen Spielzeug zu schenken, ausschlagen? Sie stattdessen weniger Schulunterricht und mehr Freizeit, weniger Prügel und mehr Liebkosungen durch ihre Eltern fordern? Welches Kind würde allen Ernstes die Möglichkeit auf einen Virtual Reality Racer der Linie Revell Control X-treme oder auf ein rosarotes Barbie Traumpferd, das Geräusche machen kann, verzichten?
    So weit, wie die Regierung ihnen entgegenzukommen bereit war, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Kinderrevolutionäre ihren Protest lieber fortsetzen. Wenn vernünftige Erwachsene dazu imstande sind, ihr Leben trotz aller Widrigkeiten zu meistern, weshalb sollte das für Kinder nicht möglich sein? Immerhin arbeiten Kinder nicht länger und härter als Erwachsene – und müssen sich noch nicht einmal um Einkäufe kümmern, die immerhin ihre Eltern besorgen. Du siehst, es wird immer eindeutiger: An der offiziellen Version stimmt etwas nicht. Für mich besteht kein Zweifel: Die Toten hetzen unsere Sprösslinge gegen die Erwachsenen auf. Ich habe auch einen Verdacht, woran das liegen könnte: Gerade weil die Kinder vom Tod viel weiter entfernt sind als Erwachsene, werden sie von den Toten als Agenten ihrer Agitation ausgewählt. Und das macht ja auch Sinn: Nur so können die Toten ja den Schein wahren, in Frieden zu ruhen. Wer würde denn ernsthaft vermuten, dass hinter protestierenden Kindern die Toten stecken? Also abgesehen von kritischen Freigeistern wie Alexandra oder ich: Natürlich niemand! Wie du siehst, handelt es sich um einen ausgeklügelten Schachzug der Toten, die Kinder an die Front zu schicken. Wer mir nicht glaubt, soll mir erst einmal das Gegenteil beweisen.
    Die Wahrscheinlichkeit überschreitet die Grenze zur Sicherheit, dass auch die Toten für den unglücklichen Zustand unserer Liebe verantwortlich sind. Es ist eine Zumutung, bis zur Pensionierung warten zu müssen, nur um nach wenigen Jahren voller Leidenschaft und Hingabe, so unsere Altersschwäche diese zulässt, dahinzuscheiden. Ich aber glaube nicht an das Ende des Lebens, sondern an seine Ewigkeit. Der Tod ist eine Verschwörung der Toten, all jener, die uns um unser Lebensglück beneiden. Nicht mehr Freizeit benötigen wir, nicht weniger Druck am Arbeitsplatz, sondern die Realisierung ewiger Liebe auf Erden. Das Leben ist schön so, wie es ist. Es muss nur verteidigt werden gegen jene, die es zerstören wollen. Alexandra hat eine kleine geheime Bürgerwehr aufgestellt, der ich mich auch angeschlossen habe. Gemeinsam gehen wir von Friedhof zu Friedhof, von Krematorium zu Krematorium, um gegen die Toten Widerstand zu leisten. Mit Stolz kann ich dir davon erzählen, bereits mehrere Leichen auseinandergenommen zu haben. Du siehst, ich bin dein weißer Ritter, der dich beschützt!
    Allerdings wissen wir auch, dass Skelette eher passive Zeitgenossen sind. Alleine wären sie kaum dazu imstande, all den Schaden anzurichten, für den sie tagtäglich verantwortlich sind. Es muss Kollaborateure unter den Lebenden geben, die mit ihnen zusammenarbeiten, sich ihnen regelrecht verkauft haben. Sie sind diejenigen, die im Auftrag der Toten die Arbeiterflucht organisieren. Der nächste Schritt wird folgerichtig sein, gegen diese Kollaborateure vorzugehen. Anfangen werden wir bei den Kinderrevolutionären.
   Meine göttliche Julia, immer wenn ich einen halbverwesten Leichnam in seine Einzelteile zerlege, tu ich das für unsere Zukunft. Jeder Axthieb gegen einen Totenschädel ist ein Axthieb für die Ewigkeit unserer Liebe. Auf dass unsere hell erleuchteten Seelen endlos gen Sonnenuntergang fliegen, ohne dass Zeit und Alterung eine Rolle spielen werden.

In ewiger Treue und Liebe,
deine dir allein gehörende Romina


Andreas Rentz - Moralisches Kapital


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