Direkt zum Seiteninhalt

Andreas Gryphius: "Betrachtung der Zeit", kommentiert von Jörg Neugebauer

Memo/Essay > Memo


Andreas Gryphius


Betrachtung der Zeit

Mein sind die Jahre nicht die mir die Zeit genommen.
Mein sind die Jahre nicht / die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein / und nehm' ich den in acht
So ist der mein / der Jahr und Ewigkeit gemacht.





Jörg Neugebauer



Das Gedicht bedarf keiner Erklärung. Doch weshalb nicht doch ein paar Worte darüber verlieren? Vielleicht stellt sich beim Schreiben ja eine neue Erkenntnis ein. Die ersten beiden Verse scheinen etwas Selbstverständliches auszusprechen: Klar, die bisherigen Jahre meines Lebens sind weg, die Jugend und all das. Und wie lang es noch währt - keine Ahnung. Beides ist der "Zeit" unterworfen, die sich im Alterungsprozess zeigt, im Verschwundensein dessen, was einmal war. Die Eltern tot, frühere Freund- und Liebschaften bestehen nicht mehr. Andererseits kann ja noch einiges kommen, doch das hat man nicht in der Hand. Oder halt - "Der Augenblick ist mein".

Also ist doch nicht alles der Zeit unterworfen. Der Augenblick gehört mir, ich kann, "nehm ich den in acht", damit anfangen was mir beliebt, hinter dem Rücken der Zeit sozusagen dreh ich mein eigenes Ding. Muss mich aber beeilen oder halt "achtsam sein", denn wenn ich nicht aufpasse, mich gar in Zukunftsplänen verliere, ist der Augenblick weg und die Zeit hat mich wieder im Griff. Gryphius sieht in dem "in acht genommenen" Augenblick etwas Göttliches, wie der letzte Vers zeigt. Klingt gut, was ist aber damit gemeint? Zu Gryphius' Zeit konnte das ganz konventionell verstanden werden: Ein achtsames Leben ist auch ein frommes, das Gott gefällt. Wer aber mit dem christlichen Gott nicht mehr so viel am Hut hat, dem bleibt bloß die stille Genugtuung, dem Zeitmonster etwas stibitzt zu haben? Wäre irgendwie schal, so ganz ohne was Höheres. Es muss ja nicht gleich göttlich genannt werden, doch in der Beschäftigung mit Kunst, selbst schöpferisch am besten, sind solche Augenblicke nicht selten. Und in der Natur und in der Liebe. Manche meinen sogar in der Mathematik. Da scheint doch allenthalben so etwas auf. Schau hin, meint Gryphius.


Zurück zum Seiteninhalt