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Amir Eshel: Dichterisch denken, Teil 2 der Besprechung

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Jan Kuhlbrodt

Amir Eshel: Dichterisch denken. Ein Essay. Berlin (Jüdischer Verlag) 2020. 279 Seiten. 24,00 Euro.

Zu Amir Eshel: Dichterisch Denken – Teil 2


Das Buch Amir Eshels „Dichterisch Denken“ geht mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte bereits etwas dazu berichtet, mich aber in der Besprechung auf die literarischen Bezüge konzentriert, also auf Eshels Interpretation der Gedichte von Paul Celan und Dan Pagis. Ich hatte dabei das für mich recht gut ausgeleuchtete Terrain nicht verlassen.

Nun macht aber Eshel das dichterische Denken nicht an der Dichtung im engeren Sinne fest, sondern findet es auch in bildkünstlerischen Arbeiten Gerhard Richters und in Skulpturen von Dani Karavan.

Während ich mit Richters Arbeiten mehr oder weniger vertraut bin, zumindest mit einigen davon, ist mir die Begegnung mit Karavan vollkommen neu gewesen. Im entsprechenden Essay „Skulpturen Denken. Über Dani Karavan“ sind einige Arbeiten dieses israelischen Künstlers, der 1930 in Tel Aviv geboren wurde, fotografisch dokumentiert.

Auf Seite 160 findet sich ein Foto, das eine Arbeit zeigt, die im Tel Aviver Gerichtshof zu sehen ist. In eine Betonfläche gedrückt Hebräische Schriftzeichen und ein stilisiertes Auge, an kubistische Darstellungen erinnernd, aber auch an die Darstellung von Augen auf prähistorischen Höhlenmalereien.
 
    Als würden im Auge, oder über dieses Auge in unseren Augen, überzeitliche Vorstellungen enggeführt. Und in den Schriftzeichen wiederholt sich das hebräische Wort für Gerechtigkeit. Das Wort zielt laut Eshel auf ein biblisches Zitat ab. Er schreibt:

„Mit der Verkürzung des biblischen Zitates deutet Karavan an, dass Gesetze stets eine Frage der Inter-pretation sind; bei unserer Suche nach Gerechtigkeit sollten wir uns nicht länger auf die metaphysische Vorstellung von einer Gottheit verlassen, die unmittel-bar beteiligt ist an der juristischen und moralischen Rechtsprechung, auch nicht auf andere ewige Richt-linien.“
Jenseits dieser und möglicher alternativer Auslegungen empfinde ich die Arbeit Karavans im Kontext des Ministeriums als wunderschön. Aber auch jenseits des Kontextes entfaltet sie in ihrer Kargheit in meinen Augen eine beeindruckende ästhetische Qualität. Und hier im Buch kann ich nur die Fotografie betrachten. Was wäre erst, wenn ich davor stünde, einen Luftzug spürte, der sie umweht, und dabei eine für mich fremde Sprache hörte! Und Fremdheit beinhaltet immer ein Versprechen, nämlich das eines künftigen Verstehens.

Angesichts der Lektüre des Essays verbietet sich für mich im Grunde die Frage, ob Eshels Interpretation des Werkes die letztgültige sei. Und auch Eshel ist es darum zu tun, einen Diskurs in Gang zu setzten und in Gang zu halten. Und hier schließt sich auch der Ring zu Hannah Arendt. Es geht nicht darum, Erkenntnis in dogmatische Floskeln zu gießen, sondern darum, das Fluide der Wahrheit auszuhalten. Und auch die Vorstellung von Gerechtigkeit gilt es immer wieder neu zu verhandeln. Letztlich sind Skulpturen im öffentlichen Raum jenseits oder gerade durch ihre Schönheit Anker, an denen Verständigung beginnt oder zumindest beginnen kann. Und Eshels Vorschläge zielen nicht auf eine romantische Erneuerung, sondern:

„Unsere Fähigkeit des poetischen Denkens zu erweitern, bedeutet nicht, dass wir gegenwärtige Bemühungen, wissenschaftliche Methoden verschiedenster Art in die geisteswissenschaftliche Forschung und Lehre zu integrieren, aufgeben sollten. Nichts liegt mir ferner, als der Wunsch, die Vernunft zugunsten eines blumigen, selbstversunkenen, romantischen Strebens über Bord zu werfen.“

Genau in diesem Zwiespalt sieht Hannah Arendt übrigens Rachel Varhagen gefangen; auf die Neuausgabe dieser Arbeit im Rahmen der Hannah Arendt-Gesamtausgabe werden wir in den nächsten Tagen zurückkommen. Und auch auf das Eingedenken der Opfer des Nationalsozialismus in Arbeiten Gerhard Richters und dem sich daraus ergebenden Dialog mit Eshel, der in einem Buch mit Zeichnungen und Gedichten dokumentiert ist.


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