Alfred Wolfenstein: Der Lebendige
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Alfred Wolfenstein
Der Lebendige (1918)
Schwarz glänzend, von der Unzahl der Zylinder behaart, kroch der tägliche Leichenzug den Gräbern zu. Mit langsamen, aber bald rascheren Hebungen und Senkungen seiner Glieder knirschte er lebendig aus der Kapelle über den Sand. Die Erde drehte sich ihm blau besonnt entgegen. Als die Letzten aus dem dämmrigen Dampf des Gebetraums hervor ihre Hüte unter freiem Himmel aufs Haupt stülpten, folgte ihnen eine noch größere Masse, denn dieser Zug endete niemals mit den Leidtragenden. In hellen Haufen von Gesichtern verschwamm er abgeschattet in die Straßen zurück, die Menge schloß ihn jubelnd an sich und die drängende Stadt an, bis zur heißen Kneipe, aus der sie unerschöpflich stürzten, bis zum Riesenstrahlenplatze, – bis zum Ende der ziehenden Welt, die mit unverstellter Kraft den Zug wieder durchdrang, bis ihre Unbefangenheit an den erstarrenden Gesichtern vorn versagte.
Auf den schrägen Schultern der Träger hob sich wie ein eckiges funkelndes Haupt der Sarg voran und schwenkte zwischen die Gräber. Um ihn war es tot. Dahinter erhoben sich aus versteckter Unterhaltung die Stimmen bald immer lauter, bis helles Geschrei zuletzt als gefühlloser Schwanz den Staub aufwirbelte. Wahrend immer mehr durch die Luft voll Bienen und Schmetterlingen in das starre Gewimmel der Gräber traten, griff die bleierne Stille nach hinten, und der Zug ihrer Köpfe ragte über ihren gehemmten Schritten bleich und finster wie die Grabsteine.
Der Sohn der Toten ging hinter dem Sarge, im schwarzen Kreis des Sarges. Er sah zu Boden, dessen endlose Sandwand, ausgezackt von den schweren Schuhen der Träger, an seinen Augen, an seinem ganzen Leibe schmerzhaft entlang scheuerte – Teuflische Krallen scharrten an seinen Türen – Engel pochten, er solle öffnen – Wer wußte, was es in Wahrheit sei? Wunden, nicht tief genug, ließen nicht genug herein – nicht genug! Das Herz schlug an diese Mauer, half von innen bohren, schlug und schrie das unbegreifliche Geschehen an, und wurde doch zurückgedrängt, Schritt für Schritt. Denn war nicht jeder Schritt, den er weiter tat, heimlich doch dazu bestimmt, die Trauer in ein Grab zu versenken? Das Herz wollte ans Licht, aus seinem Leibe – Wie ich einmal aus deinem Leibe – Aber längst hast du mich geboren und Gott konnte dich sterben lassen, denn allein muß man wachsen – Nur vorher wäre ich mit dir gestorben – Wie schön! und ich ginge nicht hinter dir her, mit Bewegungen wie immer – Bin ich es wirklich noch? dachte er schwindlig – Und vertreibe dich Schritt für Schritt und tue was mir beliebt – Er blieb stehn.
Aber eine Hand klopfte auf seine Schulter und drückte ihn heimlich weiter, ein Fuß trat gegen ihn und schon hatte er die schaukelnden Träger eingeholt und führte wieder den schweren Zug, seinen Zaum im Nacken – und blieb wieder stehn. Das Summen und Trampeln hinter ihm rollte an und drängte sich in seine Seele –: Voll Sicherheit kamen Verwandte Arm in Arm zu ihm herein, nickend in übereinstimmender, selbstverständlicher Trauer, und Fremde, mit steilen Verbeugungen an seiner Trauer teilnehmend, und Freunde mit pressenden Fäusten und festem Gesicht – Sie traten auf den Winkel zu, in dem seine Seele saß, und hatten keinen Zweifel, was denn geschehen sei und wie man sich dabei halten und aufstellen müsse – Ihr Gedränge, das ihn wie die Leichenhalle erstickend füllte, beugte sich zu seinem Herzen herab und plötzlich hoben sie es auf ihre Schultern und trugen es mit rasendem Lauf zurück, indes auf den anderen Schultern der Sarg ruhig weiter in die Ferne zog – Um ihn aber wuchsen schon die Häuser der Stadt auf, in die lebendigen Straßen brachten ihn die Entführer, wo er weiter wohnen sollte –
Da sank etwas nieder – die Männer nach dumpfem Stoß richteten sich auf – er sah dicht in das Loch. Er blickte lange darauf hin – vor den erblindenden Pupillen wurde das Loch immer kleiner – und bewegte sich und hob sich wie ein Stuhl, die Mutter saß da, er drückte sein Kinn in ihren Schoß und fühlte ihre Hand kommen und sein Haar streicheln. Er streckte lächelnd den Arm hoch, bis er ihr Gesicht berührte. Wie wenig sehe ich ihr ähnlich – sie ist gut, nur die Anderen sind wie ich – Ach herrlich, daß sie so lange nach meiner Geburt noch lebt – Sie drückte etwas spöttisch seine Finger, denn er hatte laut gesagt: Wenn du stirbst, erschieße ich mich – Durch ihr schmales zartkantiges Gesicht zwischen den leichten Schultern wie durch das hohe Mittelschiff schwebte er dem Schimmer ihrer hellen Augen zu – O ich sterbe auch nicht, denn du bist meine ewige Lampe – Sie nickte und lehnte ruhig im Schaukelstuhl, der aus der Dämmerung des Zimmers aufstieg. Er küßte ihre Finger, Schatten traten hervor, er nahm die Finger, die er im Gesicht fühlte, die über sein Haar glitten, seinen Arm streichelten, und nahm den Sand, der aus seinen Händen hinabrann. Dann polterte es laut. Ein langes Reden, Scharren und Schreiten sank langsam in die Ferne. Es wurde ruhig.
Es schien hell auf den Platz, abendlich tief. Gerötete Blumen wuchsen auf einem Buckel, den die Erde dicht vor ihm machte. Er sah noch einen Schatten neben sich liegen und drehte schnell den Kopf: Ein Baum stand hinter ihm, einsam dunkelnde Beete und Steine erhoben sich. Vor ihm aber hing jetzt die Sonne herbstrot hinab. Der kalte Geruch der Tulpen zerschnitt die dünnen Abendstrahlen.
Schon leerer Raum der Erinnerung – schon nichts mehr zu sehen – verbannt in das fühllose Reich Erinnerung – Die ist nur ein kaltes ebenes Leben, der Tod steht darin nur wie ein bequemer Hügel. Wie hoch ist der Tod? nur wie dieser große Schmerz – so erträglich groß? – Das konnte nicht der Schmerz sein, von dem er wie von gewaltigen Abenteuern geträumt hatte – Nein, er lebte, weil er nicht gut war, er stand und ragte noch über dieser Sonne, weil seine Seele sich geduckt hatte – er konnte sich jederzeit zur Stadt wenden, den Tod nur in der Tasche, nur den allgemeinen Tod, das Menschenlos, mit dem es sich weiterleben ließ – Aber dieser Tod hier, war das nicht seiner? Was breitete er die Brust aus, blühend wie die Wiese, während sie dort lag, durch riesenhaften Unterschied von ihm getrennt, ein endloses Schneefeld, keine Ähnlichkeit mehr im Gesicht, seine Mutter – Aber ihn, den Verräter, wird das Leben zerfressen wie ein Tod, weil er am Schicksal vorbeisah –
Bin ich so klein – will ich nicht gut sein – erschieße ich mich? dachte er und faßte in der Tasche den warmen Revolver. Ha, wie er auf die Sicherheit der Anderen rings geachtet und sich krampfhaft mit ihnen verglichen hatte und sich vor der Wahrheit drückte, daß im Gegenteil die Unsicherheit gut war, die dem mächtigen Schicksal nicht gleichmütig den Rücken kehrte –
Die Sonne war untergegangen. Er hörte Schritte sich nähern. Da trat er plötzlich hinter ein Grabmal. Er sah einen Mann mit der Gießkanne kommen, Blumen besprengen, – und sah mit lachenden Augen vor sich hin, freudig überrascht, weil er diese unverhoffte Bewegung nach dem Versteck gemacht hatte – Also war in seinem Innern schon eine gute unsichtbare Entscheidung gewesen – Schon zog er sich weiter vor dem Manne in den alten Friedhof zurück – Die Dämmerung verbarg ihn, als die steinlosen Hügel niedrig wurden, wo Zwerge begraben schienen und schließlich die sinkende Nacht auf Maulwurfsgräbern und glatten Wegen keine Inschrift mehr fortzuwischen hatte.
Er lehnte wartend an der Mauer und blickte durch die Blätter, die über den Lichtspalten des Laubes auf und zu klappten und blinkend wußten, was ihre Wurzel aus dieser Erde sog. Es wurde kühl; die Turmuhren schlugen über die Mauer und endeten mit dem scharrenden Zuhallen des Tores.
Jetzt schloß sich auch die Stadt, Essen dampfte durch die Wohnungen, auf die Stühle setzte sich die fleischige Behaglichkeit. Er blickte nach dem Licht, das er sich gemerkt hatte, machte die steife Schulter von der Wand los und ging in jener Richtung. Nebel vermengte sich mit der Finsternis – Nahe aus dem Nebenraum flüsterten leichte Atemzüge – er war noch an die Tür geschlichen um zu hören, daß die Nacht der wilden Stadt, aus deren Musik und Lust er nach Haus gekommen war, auch die heiligen Töne dieses Atems noch enthielt –
Plötzlich fiel er stolpernd hin, und als er aufstand, sah er das Licht nicht mehr. Er drehte sich um – wußte nicht, wie er gegangen war.
Er bezwang sich und fing in Ruhe an, durch das Dunkel vor sich hin zu schreiten. Aber ein Grab ohne Stein wollte nicht kommen, unaufhörlich legten sich in seine emporgestreckte und in die andere unten tastende Hand die Tafeln, Säulen, Figuren. Er ging gebückt und kroch endlich, um nichts zu übersehen, durch den Sand. Die bitter riechenden Wege, die ihn labyrinthisch kreuzten, verwirrten ihn, er hätte jeden gleichzeitig nehmen wollen, und jeder der finsteren und gleichen, den er nahm, ließ ihn zögernder und abwesender suchen. Er kroch tausendfach zerschnitten auf dem ganzen Friedhof, mit Blasen und Kieseln die Haut gehügelt, selbst wie ein ruheloses Gräberfeld. Grausam schweigend prägten sich die Formen des Friedhofs in ihn ein.
Da berührte er ein Grab ohne Stein und sank hin, müde und glücklich – – doch Metallkränze klirrten ihn an, Trockenes raschelte, ein fremdes Grab.
Er hob fassungslos den Kopf, die Gedanken glitten vom Dunkel ab, das ihn marmorn umstand. Aber mit einem Ruck sprang er auf, und besinnungslos sauste er durch die Gräber, durch die peitschenden Zweige, fiel und schnellte mit knirschenden Zähnen kopfschüttelnd weiter. Monumente hämmerten auf ihn ein, von Gitterspitzen losgerissen, schweißtriefend sprang er in einsamem Tanz durch das Dunkel, hoch mit schwingendem Fuß, auch wo es nichts zu überspringen gab. Und schon war dieses Rasen nicht mehr traurig und sinnlos, es durchdrang die Gelenke und löste darin den bergigen Friedhof auf in bewegteste Wellen, in ein Meer von guten Kräften. Seine Glieder turnten sich in eine neue Freiheit. Den riesigen Friedhof durchflog er, verlor ihn auf Wiesen, wie über Mauern hinaus in schmerzloses Nichts geschleudert – und fühlte ihn wieder, von seinem Dickicht neu berauscht bis zu neuer Verflüchtigung jenseits von Tod. Und lag endlich ausgestreckt lächelnd zwischen den Gräbern.
Es war still – es klapperte aus der Tiefe – aus der Höhe – Knochige Sternbilder stiegen, durch ihre dunklen Lücken schienen andere Sterne, von allen Seiten nickten Skelette und kränzten sich graublau über den Himmel. Finsternis weinte aus den Höhlen ihres gebrochenen Gewühls, sie hielten ihm wie Katzen schmeichelnd beinerne Backen hin. Sein Mund wölbte sich mitleidsvoll und er fuhr brüderlich über ihre armen Löcher. Suchte er sie nicht Alle, ein Grab wie das andere – –?
Aber er lag – dies galt nicht mehr – Denn die Luft um ihn sprach: es sollte etwas für ihn geschehn – er brauchte sich nicht zu rühren – In seinen Augen baute mit gewaltig sichtbarem Arm ein unsichtbarer Wille Pfeiler neuer Welt auf. Rings stilles Verschwinden der Nacht. Eine Vogelstimme erhob sich wie ein beschwörend zeigender Finger zum grauen – weißen – sich rötenden Himmel, in Lüften, Steinen, Bäumen brannte die Schwärze aus. Von ungeheurem Druck der heransteigenden Sonne bebte der Atem!
Er stand auf. Und traf am Horizont den funkelnden Sonnengipfel.
Er dehnte die Brust hin – oberhalb der Erde war es Morgen! Auf dem ganzen Friedhof kam allein für ihn die Sonne.
Denn sichtbar ward ihm wieder das Unsterbliche. Er aber hatte in dieser Nacht nur das Menschliche gefühlt.
Die Sonne kam und spornte die Erde: Die Schöpfung war wieder zu schaffen von dem, der lebte. Aus einem Feld jenseits von dem der Toten ragte diese hochgestreckte pulsende Hand! Und hielt schon die Fackel der Tat, dargeboten vom Morgen.
Die Nebel fielen, vor ihm stieg das Leben, zerriß die Kindheit – mit flammender Jugend!
Er ging – wie jene schon gestern am Abend gegangen waren – – wie anders ging er am Morgen erst –
Nach wenigen Schritten stand er, denn das Grab lag ganz nahe.
Er bückte sich, sein Herz schwebte über dem toten Herzen. Und während er sich aufrichtete, war es, als nehme er es dennoch mit in das Leben.
Die Sonne war schon weiß, ein Nacht begrabender, riesenhafter Stern, als er zum Tore weiterging. Müde an die Klinke gelehnt – ozeanischer Frische sich bewußt, weit hinaus gespannt wartete er auf die Öffnung.