Abraham a Sancta Clara: Die Begegnung mit der Wahrheit
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Abraham a Sancta Clara
Die Begegnung mit der Wahrheit
Ich, ich
suchte die Wahrheit mühsam, und lang vergebens. Schon gab ich alle Hoffnung
auf, sie zu finden, als ich sie endlich entdeckte, allein in einem Aufzug, der
mich staunen machte. Sie hatte einen langen mit Blumen gestickten Mantel, in
welchen sie sich einhüllte, wie der Seidenwurm in seine Puppe. Um den Hals
hatte sie statt der Modekrause einen langen Fuchsschwanz, und ihr sonst so
schönes Gesicht war zerkratzt, als hätte sie den Katzen eine Schlacht
geliefert. Die Lippen waren blau, und aufgeschwollen. Frau Wahrheit sagte ich,
nachdem ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte, wer hat euch so übel
zugerichtet? Sie gestand mir unter Seufzern und Thränen, daß sie an den Hof
habe gehen wollen, von der Wache aber sehr unsanft zurück gewiesen worden sey. –
Ich fragte die Frau Wahrheit, warum denn ihre Lippen so aufgeschwollen seyn,
und sie antwortete, daß man ihr, als sie gegeigt habe, den Fidelbogen um den
Mund schlug. Auf solche Weise ergieng es schon Manchem, welcher die Wahrheit
sagte. Daniel wurde wegen ihr in die Löwengrube geworfen, und Johannes mußte
die Freyheit, die Wahrheit gesagt zu haben, mit dem Kopfe bezahlen.
Solang einer
sanft ist, und die wunde Stelle nicht berührt, da liebt man ihn, so bald er
aber die Lauge zur Hand nimmt, und den Schaden aufdeckt; da hat die Liebe ein
Ende. Wenn er den Großen der Erde sagt: sie sollen die Gerechtigkeit nicht zum
Spinnengewebe machen, welches die starken Thiere nach Willkür zerreißen und nur
Mücken darin hängen bleiben; sie sollen nicht seyn, wie die Distillierkolben,
welche die armen Pflanzen bis auf den letzten Tropfen aussaugen; wenn er den
Edelleuten vorwirft, daß sie den Barbierern ins Handwerk greifen, und mit
scharfer Scheere scheeren; wenn er die Geistlichen beschuldigt, zu seyn, wie
die Glockenschwengel, welche die Gläubigen zur Kirche rufen, selbst aber nicht
zur Kirche kommen; wie die Nachteulen, welche bey Nacht das Oel aus den
Kirchenlampen saufen, also von der Kirche leben, ohne ihr zu nützen.
»Frau
Wahrheit, frage ich weiter, warum tragt ihr denn diesen weiten, mit Blumen
besetzten Mantel, und was bedeutet der Fuchsschwanz um euerm Halse?« Sie
antwortete, daß sie den Mantel schon lang trage, weil es Sitte sey, die
Wahrheit zu bemänteln, und zu verblümen; den Fuchsschwanz aber habe sie um den
Hals, weil sich die Schmeicheley gewöhnlich nach dem Kopfe zieht. Da erboste
ich in meinem Sinne, und riß der Wahrheit Mantel und Fuchsschwanz ab. Beydes
gab ich einem nahestehenden Bettler, welcher auch so gut Gebrauch davon zu
machen wußte, daß er ein vorübergehendes, altes häßliches Weib, sogleich eine
schöne, reitzende, goldene Frau nannte. Ich glaubte indessen, recht gethan zu
haben, weil die Wahrheit überall nackt erscheinen soll.