(Steffen Popp:) Spitzen. Gedichte. Fanbook. Hall of Fame
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Timo Brandt
Das lyrische Dünnbier spricht
„Der alte Schimmel grassiert natürlich weiterhin und in neuen Verpackungen auch unter den jungen Autoren. Die Bezugsrahmen ändern sich, lyrisches Dünnbier und das Temperament dazu bleiben erhalten, wachsen nach. Nichts von diesem „öden Wust“ (A. Cotten), der mir zahllose Anthologien verekelt hat, fand Eingang in dieses Buch.“
So heißt es in einer Fußnote zum Vorwort des von Steffen Popp herausgegebenen (obwohl eher: inszenierten) Bandes „Spitzen“, Untertitel „Gedichte. Fanbook. Hall of Fame“ – oder wie es auf der Rückseite des Buches heißt „Auswahl der eigensinnigsten, heftigsten, schönst-umwerfenden Gedichte der letzten zwanzig Jahre“.
Zunächst: was meint der „Kurator“ Popp mit dem alten Schimmel, der von verschüttetem, nicht aufgewischtem Dünnbier herrührt und die Tapeten der „anderen“ Anthologien ziert? Ich zitiere:
„Lyrische Verklemmtheit, Larmoyanz und Verbrämung […], die die Wahrnehmung von »Lyrik« wohl am meisten belastet haben.“
Wann genau belastet haben? Zuvor? Also ehe Popp und seine Generation kamen. Und mal kräftig aufräumten und abbeizten. Anständig und redlich, dabei kompromisslos und direkt, die Lyrik aus dem Sumpf zogen, die Gegend trockenlegten und bebauten; die Lyrik wieder in einen Sattel setzten und zur Attacke ritten? Aber genug der passiv-aggressiven und irgendwie gleichfalls hochmütig-sarkastischen Spitzen meinerseits! Die Leistungen der Lyrik, die Popp hier versammelt hat, will ich ja auch im Ganzen gar nicht schmälern.
Ich gebe zu: Ich bin empfindlich. Meine Maßstäbe werden vermutlich nicht die Maßstäbe anderer sein, die dieses Vorwort lesen und die sagen werden: na ja, was regt der sich denn auf, so schlimm ist das gar nicht. Ist doch eigentlich ein sehr eloquentes, pointiertes, stilsicheres und vor allem informatives Vorwort, eine gute Einführung.
All diese Adjektive haben ihre Berechtigung und ja, das
Vorwort ist eine verdammt gute Einführung in die Modi Operandi jener Gedichte,
die Popp hier versammelt hat. Er kennt sich aus, er kleidet diese Kennerschaft
in einen Tonfall, der ausbalanciert ist zwischen Leidenschaft und lapidarer
Konstatierung. Es ist darüber hinaus ja nicht zu verachten, wenn jemand sich
grundsätzlich antiservil eingestellt zeigt, und ich will Steffen Popp auch gar
nicht vorwerfen, dass er überzeugt ist von seinen Ansichten und den Leistungen der
von ihm ausgesuchten Texte. Aber muss diese Überzeugung auf Kosten anderer
gehen? Müssen Poetologie und ideologische Programmatik wieder einmal
ineinanderfließen?
Also ja, ich bin empfindlich, frage aber trotzdem: war das wirklich
nötig? Dieser Seitenhieb, dieser seltsame und viel zu knapp begründete (wir
wissen ja alle, was er meint, oder nicht? Können uns zumindest eine eigene
Zielgruppe für diese Kritik zurechtzimmern, im Kopf gewichtig zurechtlegen, nicken und die Volte
schlagen: wer auch nickt, ist nicht gemeint) Kahlschlag, der sagt: Ja,
außerhalb dieser Anthologie gibt es wenig bis nichts, was infrage kommen könnte,
mit an der Spitze zu stehen, makellos auf schwindelerregenden Höhen.
Dann kann es ja nur noch die Frage geben: Führt Popp die
Lyrik ins gelobte Land? Und was flösse dann dort: Milch und Honig bzw. Essayistik
und Redlichkeit? Ah, ja, mein Sarkasmus-Ton, pardon. Doch warum dürfen Gedichte
nicht einfach für sich sprechen – ist es nicht das, was Gedichte können sollten?
(Und eine Anthologie ist per se eine Abgrenzung vom Rest, da muss man nicht
noch plump austreten). Mal im Ernst, das lyrische Dünnbier fragt es ohne Scham
und ohne eigene Agenda: Bedarf nur ein einziges Gedicht dieser Sammlung das aus-dem-Feld-Schlagen
aller »unwürdigen« Konkurrenz? Und falls ja: warum? Die Sammlung könnte doch
schlicht für sich und damit auch über den Geschmack des „Kurators“ sprechen.
Solche Kahlschläge sind in meinen Augen nur eins (oder
wirken zumindest so): ignorant. Das ist, by the way, so glaube ich, eins der
Probleme, dem sich die von allen so erwünschte »Wahrnehmung von Lyrik« immer
wieder neu stellen sollte: dem Problem der vermeintlichen Ignoranz.
Und mit Ignoranz meine ich nicht Aufbegehren, Nonkonformität,
Fragwürdigkeit oder Eigensinn, nicht Autonomiebewusstsein oder Ehrgeiz. Ich
meine eine Haltung, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Hochmut und
Verachtung findet. Alles mit kritischem Blick zu sehen ist das eine, aber
Ignoranz bedeutet, sich die Augen auszustechen, weil man meint, schon alles
Wesentliche gesehen zu haben, und dann erklärt man andern blind die Welt (und
wenn sie nicht hören wollen, erklärt man eben sie für blind). Nochmal: es ist
völlig klar, dass jede/r seine Überzeugungen vertreten darf und soll – ich
frage mich nur, ob das bei Lyrik automatisch heißt, dass man eine Art
poetologische Gentrifizierung betreiben muss.
„schonabhängend die köpfe als kapselnin den blutigentextgärten des vielnamigen Homer“(Thomas Kling)
Die Texte der Anthologie könnten für sich sprechen, da ist sehr
viel Großartiges dabei – obgleich mancher öde Wust es auch in dieses Buch
geschafft hat, schnell Gelutschtes und Ominöses (aber vielleicht kauen andere
lang darauf herum oder finden’s einfach geil). Die einzelnen Kapitel, in die
der Band unterteilt ist, machen das Ganze in meinen Augen etwas steif, aber die
innere Dramaturgie der Kapitel, die Abfolge der Gedichte, sorgt auch immer
wieder für neue Bezüge und Zusammenstöße, für eine Verschränkung und Befragung
auf vielen Ebenen: da geht es auf und ab, mit Tempo- und Dynamikwechseln, die
sogar Spaß machen.
Als würde man sich auf eine Reise begeben, die Erkundung
eines Landes, voller Stürme, Dickicht, dann wieder Lichtungen, Brachland, Küsten
zum Absegeln, Ozeane, Inseln zum Ankommen, Verweilen, manchmal einzelne
Behausungen und dann ganze Städte, inkl. Sehenswürdigkeiten.
Und bisweilen ist man nicht mehr in einer Landschaft,
sondern nur auf der Landkarte unterwegs. Denn es gibt Gedichte, da muss ich
sagen: selbst wenn ich die Einführung von Popp beherzige, sind das für mich
einfach nur verkopfte Sentenzen, aneinandergereiht. Geschmackssache, klar. Wenn
ich Emotionen brauche und das Gedicht sie für mich nicht enthält, kann man dies
keiner von beiden Seiten vorwerfen. Der große Unterschied ist, ob man einsieht,
okay, das spricht mich gerade nicht an, ich will anderes schreiben/lesen – oder
ob man anfängt, Larmoyanz und lyrische Verklemmtheit zu etikettieren, was nur
einen Grund haben kann, wenn man ehrlich ist: Misserfolge zu attestieren, zu generieren,
damit das Eigene mehr nach Erfolg aussieht. Diese Verfahren, dieses
Monopolstreben, begreife ich einfach nicht.
Natürlich fehlt – wie ich finde – auch manches in dieser
Anthologie (z.B. an Autor*innen: Anja Utler, Nadja Küchenmeister, Christian
Lehnert, Carl-Christian Elze, Paulus Böhmer, Jürgen Nendza, Daniela Seel,
Martin Piekar, Crauss, und das sind nur die etablierten, die mir jetzt gerade
einfallen – und in meiner Altersklasse gäbe es noch mehr – vielleicht wollten
manche von ihnen nicht enthalten sein, aber ich frage mich schon, wie Steffen
Popp einige von ihnen ignorieren konnte). Der Untertitel „Fanbook“ positioniert
sich, was das betrifft, ziemlich klar. Ich sag nur: Das haben einige Ausgaben
vom Jahrbuch der Lyrik oder vor allem die Anthologie „all dies hier, Majestät,
ist deins“ besser hingekriegt, diverser, geräumiger.
Ohne Frage: Hier finden sich ein paar der elaboriertesten
und teilweise bahnbrechendsten Gedichte der letzten 20 Jahre.
„Schönst-umwerfende“ ziehe ich hiermit in Zweifel, nicht weil Vertreter*innen
einer solchen Kategorie fehlen, aber ich halte diese Anthologie diesbezüglich
nicht für repräsentativ. Und „eigensinnig“? Durchaus, durchaus. Heftig? Nun ja,
kommt immer darauf an, ob man das Gefühl hat, betroffen zu sein.
Vielleicht bin ich ja einfach durch die von Popp so gerühmte
Fortführung der Lyrik mit anderen Mitteln (kulminierend in einem
Evolutionssprung, mit der das Gedicht den Essay ablöst?), abgehängt, und sie ist
tatsächlich die einzige zukunftsträchtige Form des Gedichts. Ich nehme mir
heraus, das zu bezweifeln. Aber vor allem: Bedarf es denn wirklich immer der
Ideologie? Ich bin zum Schreiben von Lyrik gekommen, weil mir Ideologie
widerstrebt. Ich glaube, dass es vielen so geht. Und hausgemachte Ideologie ist
nicht besser als die handelsübliche, ich zumindest sehe da keinen Unterschied.
Und ich bin lieber lyrisches Dünnbier als ideologisches Kanonenfutter.
P.S.: Und Gendern, Herr Popp, könnten Sie schon, oder?
Spitzen enthalt Gedichte von Marcel Beyer, Nico Bleutge, Mirko Bonné, Volker Braun, Ann Cotten, Ulrike Draesner, Elke Erb, Daniel Falb, Gerhard Falkner, Dieter M. Gräf, Durs Grünbein, Hendrik Jackson, Thomas Kling, Barbara Köhler, Simone Kornappel, Dagmara Kraus, Birgit Kreipe, Björn Kuhligk, Thomas Kunst, Georg Leß, Friederike Mayröcker, Karl Mickel, Bert Papenfuß, Marion Poschmann, Kerstin Preiwuß, Arne Rautenberg, Monika Rinck, Thomas Rosenlöcher, Andre Rudolph, Silke Scheuermann, Sabine Scho, Katharina Schultens, Tom Schulz, Lutz Seiler, Ulf Stolterfoht, Sebastian Unger, Jan Wagner, Charlotte Warsen, Linus Westheuser, Ron Winkler, Uljana Wolf.
(Steffen Popp:) Spitzen – Gedichte. Fanbook. Hall of Fame. Berlin (edition suhrkamp) 2018. 254 S. 18,00 Euro.