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(Stefan Hölscher:) So gerade / nicht. Queere Lyrik 2020

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Amadé Esperer

(Stefan Hölscher:) So gerade / nicht. Queere Lyrik 2020. Vechta (Geest Verlag) 2020. 126 Seiten. 12,00 Euro.

So gerade nicht, oder doch?


Der Geestverlag hat es gewagt, „Queere Lyrik“ herauszubringen. Mut oder zeitgeistiges Geschäftsmodell? Offenbar war der vom selben Verlag 2015 herausgebrachte Band Queerlyrik erfolgreich. Wie auch immer, es ist ein beachtliches Bändchen geworden mit beachtlichen Gedichten. Stefan Hölscher, umtriebiger Macher, Manager, Coach und selbst Lyriker, hat hier auf 100 Seiten Gedichte von 12 Autoren und drei Autorinnen versammelt, Gedichte, die alle mehr oder weniger mit Liebe und Erotik zu tun haben.

Wenn man erst einmal das „queere“ Vorwort durchquert hat – widersprüchlich macht es den Versuch „Queere Lyrik“ zu definieren – und zu den Gedichten vorstößt, beginnt das Vergnügen.

Bereits das erste Gedicht von Klaus Anders, ein veritables Sonett, zeigt an, dass hier tatsächlich gute Lyrik zu erwarten ist. Nicht nur, dass das Sonett technisch ausgefeilt ist, auch semantisch eröffnet es die Bühne für die anderen Gedichte und stimmt uns mit dem Signalwort „Madeleine“ auf Prousts Suche nach der verlorenen Zeit und seine Abenteuer von Homo- bzw. Bisexualität ein. Vom selben Autor (Anders) folgen noch zwei weitere Sonette, die beweisen, dass diese Form noch längst nicht ausgedient hat. Handhabt man sie nur flexibel genug, lässt sich sogar witzig ambivalenter Pop unterbringen:
Schon war‘ s vorbei. Hat mir das nur geträumt?¹
Erinnerung und Wunsch in mir gefunkelt?
Hat sich in mir nochmal was aufgebäumt?

Dann hab ich dich im Schaufenster gesehen.
An die Scheibe hast du nicht gepinkelt,
Doch bliebst du lange bei mir stehen.

Weitere Highlights folgen, wenn man weiterblättert. Zum Beispiel Die Verleugnung von Winckelmann von Thomas Böhme. Das ist eine in Pseudoterzinen verfasste Elegie, die in berückend berührenden Bildern die Zerbrechlichkeit von Beziehungen besingt:
melancholie sprachst du sei ein vertrauen
bildender zustand wie das nachdunkeln
von alabaster in überglasten sälen

aber es klang wie ein abschied
vom milchigen glas der museen
und den unveränderbar starren figuren

an die sich vergebens die schatten
zu schmiegen versuchten …

Auch von Crauss sind deftige Gedichte in dieser Anthologie enthalten, die der Ästhetik des Hässlichen frönen und durch den verwendeten Straßen- und Stricher-Slang, versetzt mit englischen Einsprengseln, mimetisch Atmosphäre erzeugen, wie etwa in deepthroat:

sperma im rachen, die wieworte kratzen. ein salzig verschlucktes
ich will dich, ein viel zu ausführlicher satz – beim ficken hält man die klappe
hast honig im mund, oh mann, versuch ich es nochmal – und kotze            

In den Gedichten von Alexander Graeff finden sich knallige, Metaphern, die durch ihre Originalität bestechen, wie in AWM:

[…]
Es gibt einen Song von DAF
Verschwende deine Jugend
Meinen Körper meine Körner
Waren noch ganz festgeschraubt am
Hackholz meiner Sozialstation

[…]

Pferderennen durch die Biografie.
Als alter Mann* der fragt ob ich
Als weißer Mann* der sagte
Verschont geblieben wär vorm
Eins vor eins schräg des Springers                        

Auch Hölscher, der Herausgeber, steuert sehr gekonnte Verse bei, etwa im Gedicht Genau du:

                                             … und während du
ich weiß nicht was geredet hast hab ich mit dir
so vieles wollen würden hätte möchten
die Augen und der Sinn jetzt und für immer
satt bis dass es reicht
und ich dich ziehen lassen kann
wie du gekommen bist
so unvorstellbar wunderbar
so ewig leicht und zweckbefreit
so unumkehrbar
seicht             

Ich könnte noch viele weitere Gedichtzitate von den anderen Autoren und Autorinnen, die an diesem Band mitwirkten, antippen. Sie alle würden zeigen, dass es sich lohnt, den Band zu lesen. Natürlich gibt es aber neben den vielen Höhen auch einige Tiefen und so finden sich neben sehr gelungenen auch weniger überzeugende Gedichte. Aus einem der sehr gut gelungenen möchte ich abschließend zitieren, es handelt sich um Mit Sappho auf dem Hof von Odile Kennel:

Mit Sappho im Hof

Am Anfang war noch
Aphrodite da. Ich kam
mir blöd vor, kann
kein Griechisch, kannte
beide nicht. Dann
ging sie weg, wer weiß
wohin, sie sagte was
von Spree. Dann also
wir allein. Nein, schlafen
nicht wir trinken Tee.
Ich sage, Sappho, du bist
unumgänglich, wie wär’s
du schreibst noch eine
Insel-Ode …
                              
In der Tat, viele Oden finden sich in diesem Band Queere Lyrik 2020, viele Oden und Elegien und viele freirhythmische Hymnen auf die Liebe zum selben oder zum anderen Geschlecht. Auf jeden Fall lesenswerte Gedichte sind in diesem Band versammelt. Gedichte, die aus dem vollen lyrischen Fundus der Weltliteratur schöpfen, und auch solche, die die eigene Erfahrung spiegeln und mit viel poetischer Fantasie auch noch der animalischsten Geschlechtstriebverrichtung etwas Poetisches abzugewinnen verstehen. Überraschend erfrischend waren die vielen frechen Metaphern und Bilder und ebenso erfrischend die Tatsache, dass keines der Gedichte unter genderistischer Sprachverdrehung litt. So hinterlässt der Band das gute Gefühl, das beim Lesen von guten Gedichten sich einstellt. Wer aber erwartete, eine kräftige Dosis „Queerer Lyrik“ vorgesetzt zu bekommen, sieht sich der Tatsache gegenüber, dass es so etwas wie queere Lyrik nicht wirklich gibt. Überzeugende Gedichte haben eben mit dem handfesten Leben zu tun und nichts mit Ideologie.

¹ Die beiden Terzette des Sonetts „Ging in Gedanken“ von Klaus Anders, S. 17.


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