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(Robert Wohlleben:) Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz

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Walter Fabian Schmid

Zurück zur Moderne



Berlin, C[entrum] 2., den 10. Mai [18]99

Sehr geehrter Herr [Johann Sassenbach]!

Wir teilen Ihnen ergebenst mit, dass die oben angeführten Bücher, von deren Besprechung die Redaktion absieht, heut an Ihren Verlag zurückgesandt werden.


Hochachtungsvoll
Expedition der Vossischen Zeitung

1) Holz, Phantasus
2) Martens, Befreite Flügel
3) Reinhard, Meine Jugend
4) Reß, Farben
5) Stolzenberg, Neues Leben


(zitiert nach Arno Holz: Revolution der Lyrik. Berlin (Johannes Sassenbach) 1899, S. 81f.)


Dass Bertram Reinecke in seinem Verlag Reinecke & Voß bis auf Holzens Phantasus genau diese zurückgewiesenen Texte in der Anthologie Antreten zum Dichten! versammelt, zeigt erfrischend viel Gewitztheit. Die Nichtbeachtung der bürgerlichen Vossischen Zeitung dagegen war nicht so originell. Den Naturalisten wurde ja von Anfang an Kunstentweihung und Beschmutzung der Literatur vorgeworfen, weil sie mit drastischen Mitteln im pauperistischen Sumpf des grossstädtisch industrialisierten Menschen wühlten und gegen eine scheinhafte, verlogene Kulturproduktion vorgegangen sind. Hermann Conradi schrieb in seiner Vorbemerkung zu seinen Prosaskizzen Brutalitäten sogar von „Totgeschlagenwerden“, weil er mit der üblichen Kritik auf die provokanten Texte rechnete, die aber auch ein wenig selbstverschuldet war durch die Aggressivität der poetologischen Schriften, wie etwa Karl Bleibtreu schrieb: „Wenn Jesus Christus mir schlechte Gedichte vorlegte, ich würde ihn erbarmungslos vermöbeln.“

Nicht nur aus stofflicher, sondern eben auch aus ästhetischer Sicht muss der Naturalismus unbedingt als eine Avantgardeliteratur gesehen werden, vielleicht sogar als diejenige Literatur, die mit ihren poetischen Neuerungen die moderne Lyrik eingeleitet hat.

Eine der bedeutendsten Schriften ist hierzu sicher die Revolution der Lyrik von Arno Holz, in der er – neben all den Auslassungen, wie missverstanden doch diese Literatur andauernd wurde – herausarbeitet, was Dichtung ausmachen soll. Für ihn waren konventionelle Gedichte ziemlich abgewirtschaftete Leierkästen. Mit konstruierten Versen und Endreimen, die verwischen und vertuschen, konnte er genauso wenig anfangen wie mit Wortmusik aus reinem Selbstzweck. Für ihn sucht sich das Gedicht seine Form selbst, spricht in natürlichen Rhythmen und in der Alltagssprache bis hin zu phonographisch genauen Wiedergaben. Das wirkte bis hinein in das Schriftbild und letztendlich auch in den Vortrag:

Die für den ersten Augenblick vielleicht etwas sonderbar anmutenden Druckanordnung – unregelmässig abgeteilte Zeilen [...] – habe ich gewählt, um die jeweilig beabsichtigten Lautbilder möglichst schon typographisch anzudeuten. Denn wenn irgendeine bisher, so ist es grade diese Form, die, um ihre volle Wirkung zu üben, den lebendigen Vortrag verlangt.

Wie es aber mit Agitatoren im Stile eines Arno Holz ist, dauert es nicht lange, bis sie sich eine Schule bilden. Und wie der Herausgeber Robert Wohlleben im Nachwort von Antreten zum Dichten! schreibt, arbeiteten die in der Anthologie versammelten Autoren Rolf Wolfgang Martens, Ludwig Reinhard, Robert Reß und Georg Stolzenberg unter der Federführung des dominanten Holz stets kollektiv an ihren Gedichten. Aber selbst wenn die formelle Handschrift von Arno Holz in jedem Text erkennbar ist, so sind die genannten Lyriker dennoch zu unterschiedlich. Interessant erscheint ja gerade, dass diese Autoren mit ihren Publikationen 1899 noch einmal kollektiv auftraten, wo sich längst die Symbolisten und Ästhetizisten auf den Weg gemacht haben – Rilkes Larenopfer waren zu dem Zeitpunkt vier Jahre alt und Stefan Georges Algabal schon sieben Jahre her. Und wie jung wirken im Vergleich dazu naturalistische Gedichte! Was uns diese Epoche näher rückt, ist auch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Nur sind es heutzutage keine geschlossenen Schulen oder Zirkel mehr, welche die Heterogenität ausmachen, sondern jeder ist seine eigene Schule, die er in die Zirkel trägt.

Und fast so heterogen wie die Literatur um die vorletzte Jahrhundertwende sind auch die Gedichte selbst, was schon in der Verfahrenstechnik der Facettierung von Beobachtungen, der Zersplitterung von Wissens-und Gefühlskomplexen liegt. Da ist zwar die durchgängig gleiche von Holz stammende Form, der stete Versuch, den Mensch in Relation zu setzen zur gewaltigen Natur und Technik, im Spannungsfeld zwischen Bourgeoisie und Plebs. Dennoch vernachlässigt die Lyrik das Postulat des Dramas nach grösstmöglicher Objektivität. Es gibt keine objektive Kunst, wie später auch Holz eingestanden hat, und den Ich-Filter kriegt man sowieso nicht weg. Insofern wird Émile Zolas Forderung, an die man sich immer geheftet hat – „Une oeuvre d'art est un coin de la nature vu à travers un tempérament“ (Ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament) – nicht negiert, indem man versucht, dieses Temperament, auszumerzen, sondern es wirken zu lassen. Rolf Wolfgang Martens lässt sein lyrisches Ich gleich aussprechen: „Ich bin böse, unchristlich und überhaupt ein Gemütsmensch.“

Das drängt die naturalistische Lyrik etwas in Richtung Eindrucksmanagement à la Impressionismus. Selbst dort, wo die Beobachtungen möglichst objektiv sein sollten, werden die Gedichte durch ihren Detailreichtum zu einem Sammelbecken von individuellen Wahrnehmungen und besitzen eine hohe Spektralkraft. Dem spielt auch die intensive O-Ton-Arbeit sowie die Montage- und Simultantechnik vieler Gedichte in die Hände, die eine Aufeinanderfolge von Diversitäten und Differenzen erst ermöglicht. Bei Robert Reß kann man die impressionistische Technik ganz gut beobachten.

Auf die verrufne Mauer
schwingt sich kaum einmal ein Bauernjunge.

Sieht hinüber
mit grossen, aufgerissnen Augen,
wo hinter scharlachroten Beeten
um ein schwarzes Mausoleum
flimmernd
der Mittag zittert.

Drinnen,
in den dunklen, kühlen Zimmern
zanken sich, kreischen
um bis zur Decke getürmte Bücherstösse
Affen und Papageien.

Ein kleiner, steinalter Herr
vornüber gebückt,
streichelt eine weisse Angorakatze,
die sich schnurrend an seinen grünen Beinen reibt.


Dass hier eine Groteske mit leicht halluzinatorischem Einschlag auftaucht, ist aber keine Seltenheit, denkt man etwa an Gerhart Hauptmann. In Antreten zum Dichten! übernimmt dies vor allem Georg Stolzenberg, der anscheinend mit seiner farbschillernden, prunken Rhetorik und seiner Drastik aus dem Sozial-Determinismus und der Biederkeit des Wilhelminismus ausbrechen will. Die hohe Subjektivität der Eindrücke macht das naturalistische Soziogramm zu einem Psychogramm: „Es macht mir Spaß, / in deinen Seelengründen zu jagen.“

Im Gegensatz dazu hat sich Ludwig Reinhard, Pseudonym des späteren Verlegers und Förderers des Blauen Reiters Reinhard Piper, deutlicher der Reinform des Naturalismus verschrieben und versuchte, die Dinge ungeschmückt zu begreifen. Beim Zustand der modernen Welt kann sich das Lyrische Ich aber nur noch fragen: „Und all dies soll sich auflösen in einen ewigen Seeligkeitstaumel?! // Ich winde mich vor Scham und Ekel.“ In seinem lakonischen Ton steht der Sprecher fast apathisch neben seinen eigenen Wahrnehmungen:

Pochen.

Das Unglück steht in der Thür,
neue Qualen im Gewand.

Scheu . . fragend . . steht es da.

Seine Augen bitten um Verzeihung.

Komm! Komm!
Das alles ist ja selbstverständlich.

Dahinter steckt zwar auch Pathos, aber eben kein „falscher Pathos“, gegen den sich Arno Holz immer gewehrt hat. In der Nüchternheit von Reinhard Piper wird erst richtig klar, warum ihnen Manierismen und Ornamentik so deplatziert vorkamen. „Kraftlos . . verlassen . . liege ich in den Kissen. / Mein Finger zittert das Tapetenmuster nach. / Immer wieder an der kalten Wand denselben Schnörkel in die Höhe.“ Und unweigerlich drängt sich der Vergleich dieser Lyrik mit Adolf Loos auf, der 1908 in seinem Vortrag Ornament und Verbrechen festhielt: „Ich habe folgende erkenntnis gefunden und der welt geschenkt: evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes [...]. Ich glaubte damit neue freude in die welt zu bringen, sie hat es mir nicht gedankt. Man war traurig und ließ die köpfe hängen.“ Vielleicht war diese Dichtung für den damaligen Zeitpunkt ja wirklich zu radikal, aber aus heutiger Sicht und aus Sicht von mehrheitlich spröden, nackten Digitalisaten lohnt es sich unbedingt, dieses Zeitfenster noch einmal zu öffnen.


(Robert Wohlleben:) Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Leipzig (Reinecke & Voß) 2013. 160 Seiten. 13,00 Euro.

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