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(Michael Braun, Michael Buselmeier:) Der gelbe Akrobat 3

Rezensionen/Lesetipp > Rückschau
Stefan Hölscher

(Michael Braun, Michael Buselmeier:) Der gelbe Akrobat 3. 60 deutsche Gedichte der Gegenwart, kommentiert. Leipzig (poetenladen Verlag) 2019. 216 Seiten. 18,80 Euro.

Impulse zur Entdeckungslust


Gegenwartslyrik gilt gemeinhin als ein Terrain, für das die Ortsunkundigen Zugangs- und Orientierungshilfen benötigen, um sich darin bewegen oder überhaupt hineintrauen zu können. Es bedarf dafür einer Art Fremdenführung, und da es in dem Gebiet überhaupt nur wenige Einheimische gibt, von denen wiederum auch nicht übermäßig viele die Gegenden jenseits ihrer eigenen Gemarkung gut kennen, können selbst diejenigen, die sich ortszugehörig fühlen, ein paar Orientierungshilfen für umliegende Landschaftsstriche gut gebrauchen.

Nun führen bekanntermaßen nicht nur viele Wege nach Rom, sondern ebenso gibt es auch viele funktionierende Möglichkeiten, sich Formen und Phänomenen der aktuellen Lyriklandschaft zu nähern: Man/frau kann etwa an einem Poesiefestival oder einzelnen Lesungen teilnehmen; man/frau kann Gedichte wieder und wieder lesen oder hören; man/frau kann Essays, Rezensionen oder literaturwissenschaftlich fundierte Beiträge studieren, kann mit anderen Lesenden Erfahrungen austauschen oder auch selbst zu schreiben und sich im poetischen Ausdruck zu erproben beginnen, und und und. Man/frau kann aber auch – und hier schließt mal wieder das Tun des Einen das des Anderen nicht aus – den gelben Akrobaten lesen, eine von Michael Braun und Michael Buselmeier herausgegebene und aus drei Bänden bestehende Reihe mit kommentierten Gedichten der Gegenwart. Wie die Herausgeber im Vorwort des dritten Bands betonen, dokumentieren ihre Gedichtkommentare nicht nur „Begegnungen“ der beiden mit „zeitgenössicher Lyrik“, sondern zugleich auch „fast dreißig Jahre[n] gemeinsamer Arbeit“. Publiziert wurden die Kommentare ab 1991 in der Wochenzeitung „Freitag“ und zwischen Januar 2011 und Juni 2019 auf den Internetseiten des Poetenladens bzw. in dem dort herausgegeben Magazin „poet“, später „poetin“ genannt. Die drei Sammelbände mit 100 bzw. 50 bzw. 60 kommentierten Gedichten sind 2011, 2016 und 2019 erschienen - ebenfalls im poetenladen in Leipzig. Im Vorwort des dritten Bands machen die Herausgeber deutlich, dass damit nun auch das Ende dieses Langzeitprojekts erreicht ist, was, wie sich hier doch ziemlich eindeutig sagen lässt, sehr betrüblich ist, denn „Der gelbe Akrobat“ ist eine vorzügliche Art, Zugänge zu und Neugier auf aktuelle Lyrik zu bekommen. Und dies hat viel mit Art und Form der Kommentare zu tun.

Vorangestellt ist in jedem Fall das kommentierte Gedicht selbst. Die sich an die Gedichte anschließenden Kommentare bestechen dann durch eine Reihe unübersehbarer Vorzüge: zum einen sind sie kurz gehalten (jeweils etwa zwei Druckseiten lang), sodass die Leseschwelle niedrig ist; gleichzeitig bringen sie sowohl interessantes Kontextwissen aus der Biographie der jeweiligen Autor:innen sowie den historischen und literarischen Umfeldbedingungen wie auch Ideen zum Verständnis des Textes; dabei sind die Kommentare durchgängig ebenso kundig wie gut lesbar geschrieben und dankenswerterweise viel stärker deskriptiv als normativ bewertend oder gar schulmeisterlich. Die Kommentare sind Impulsgeber und spielen den Ball letztlich gekonnt zu den kundiger gewordenen Lesenden zurück. Die Kommentare nehmen uns das Verstehen also nicht ab, erleichtern uns aber den Zugang. Und natürlich verstärken sich Zugangsbereitschaft, Neugier, Kenntnis und Lust auch durch die Fülle und Vielfalt der dargestellten Gedichte und Kommentierungen.

„Der gelbe Akrobat 3“ fiel mir jetzt, obwohl er ja schon 2019 erschienen ist, durch einen Blick auf die Rezensionsliste der Signaturen in die Hände. Tatsächlich kannte ich alle in ihm versammelten Kommentare schon, weil ich sie bereits zu ihrem ursprünglichen Erscheinen in der „poetin“ gelesen hatte. Ich habe sie aber gerne jetzt noch ein weiteres Mal gelesen; denn auch das kann ja Zugänge stärken: das Wiederbetrachten und Sich-erneut-Beschäftigen. Ihre Frische verlieren die Texte – Gedichte wie Kommentierungen – dabei jedenfalls nicht, auch wenn man/frau natürlich nicht zu allen Gedichten gleichermaßen Zugangslust verspürt oder auch nur verspüren möchte. Die Sammlung ist in hohem Maße, was poetische Stile und Positionen angeht, plural und divers, wenn man mal davon absieht, dass sie sowohl alles, was ins komische Fach spielt (Robert Gernhardt & Co.) wie auch, was mir nach insgesamt dann doch gut 750 Seiten Lektüre, des Gelben Akrobaten 1-3 ebenfalls kein Zufall zu sein scheint, jede Art von queerer Poesie ausblendet. Hier werden bei aller Offenheit, Elaboriertheit und Darstellungsbreite ein paar blinde Flecken konsequent weiter-gepflegt. Warum auch immer …

Nichtsdestotrotz: auch der dritte Band des gelben Akrobaten ist ebenso wie seine beiden Vorgänger eine absolut lohnende Lektüre. Seine Spannweite reicht von: Friedrich Ani bis Ulrich Zieger, von Ernst Blass (geboren 1890) bis Christiane Heidrich (geboren 1995), von Oleg Jurjew (geboren in Leningrad) bis Klaus Merz (geboren in Aarau), von Ror Wolf bis Thomas Kling, von Hilde Domin bis Kenah Cusanit etc. Auch die Kommentare nähern sich den Gedichten auf unterschiedliche Weise. Mal tippen sie sie eher nur an und stellen sie in biograhisch-sozial-historische Zusammenhänge, mal gehen sie konkreter und etwas tiefer in die Einzel-Analyse rein, so wie etwa beim Text von Maren Kames:

MAREN KAMES

Findest dich, Sonntagmorgen halb acht, bei den Haubentauchern an den
Gestaden stierst in die Schlieren säufst die Aussicht bis blindlings stehst
knietief im Siel rings schluckst Wasser vom Rand ab haust schlaff auf die
Planken liegst aus da wie Pfandgut – gestrandet auf deiner halbtauben Haut
gelandet im halbgaren Licht hier
genadelt gerendert dirty
verplempert im Tau und
halb Taube halb Pfau
halt das mal aus so
ste(h)ts
                        
… Das Eröffnungsgedicht von ≫Halb Taube Halb Pfau scheint zunächst eine Naturszenerie zu entwerfen: ein Gewässer mit Wasservögeln, ein Flussufer und ein beobachtendes Subjekt, dicht unter diese fluide Struktur gemischt. Es geht jedoch nicht nur um Naturstoff und eine Flusslandschaft, die hier mit erhabenen Topoi (Gestade) aufgerufen werden, sondern primär um eine Sprachbewegung, die um den Vokal a und um den Diphtong augruppiert ist und sich ständig verwandelt. Die Fügung des Buchtitels ≫Halb Taube Halb Pfau ist aus dieser metamorphotischen Bewegung geboren: ein Hybridwesen, das hier als ≫Halb Taubeund ≫Halb Pfau exponiert wird, entsteht beim Durchgang durch das Vokabularium der a- und au-Laute, so dass bei der Anwendung derselben Laute und Doppellaute verschiedene Semantiken generiert werden. So entsteht eine assoziative, an Homophonien sich orientierende Versrede, die in jeder Zeile der Spur der Laute (a) und Doppellaute (au) folgt: ≫HaubentaucherAussichthaustaufausaufhalbtauben≫Haut≫Tau≫TaubePfau. Eine Motivkette, die aus Assonanzen geflochten ist.

Man könnte die kenntnisreichen Kommentare von Braun und Buselmeier sicher auch noch ein weiteres – in meinem Fall drittes Mal – lesen und würde wieder neue Entdeckungen machen und neue Impulse bekommen. Sicher aber wird man in Band 3 des Gelben Akrobaten ebenso wie in seinen beiden Vorgängerbänden Gedichte finden, die man gerne mehr als zweimal wiederliest. Für mich gehören unter anderem diese beiden Texte dazu:

ELISABETH BORCHERS

Zukünfiges

Als alles vorbei war
Krieg und Frieden
Mann und Frau
Form und Inhalt
Als die Sonne auf und
untergegangen war
samt Mond und Stern und
den Musikalien des Himmels
und der Erde
setzten wir uns
und warteten
auf das
was kommt.
                      

GEORG LESS

Kondorlied

nie gesehen, höchstens schwach
ich kannte diese Schwäche aus der Nachbarschaft

da stand ein Kleintierzoo vor vielen Jahren
im Wald am Elternhaus, ein Fertighaus
ich zog vor vielen Jahren aus
ich zog vor vielen Jahren aus
die Gitter fielen, doch die Tiere blieben
mit ihren Muskeln war etwas geschehn
war ihr Verlangen nicht mehr anzuspannen                          

viel später wurde ich geboren
mal spielten wir Kojoten jagen
mal nach Kojotenknochen graben
fast hätte ich verloren        

In der Natur einer Sammlung liegt, dass die unterschiedlichen ‚Stücke‘ in unterschiedlicher Weise und Intensität ansprechen und beschäftigen. Das macht einen Teil ihres Reizes aus, denn auch, was einen vielleicht (zunächst) weniger berührt, hinterlässt Spuren im Geflecht des Ganzen. Auf dem Klappentext zum Gelben Akrobaten findet sich die Aussage „Standardwerk… für alle die, die wissen möchten, was Lyrik heute noch zu leisten vermag.“ Das ist hoch gepokert – aber, wie ich finde, realistisch. „Der gelbe Akrobat“ ist jedenfalls in meiner Lyrikbibliothek ein wichtiger (und erstaunlich lebendiger) Part; und auch andernorts, wo man/frau Interesse verspürt, aktuelles poetisches Terrain etwas näher zu erkunden, sollte er nicht fehlen.


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