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(Kurt Drawert:) Das Eigene im Anderen. Istanbul

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Gerrit Wustmann:

Der kurze Blick auf Istanbul
Kurt Drawerts Textwerkstatt am Bosporus


Seit nunmehr zwanzig Jahren leitet der Dichter Kurt Drawert die Darmstädter Textwerkstatt: Eine inzwischen renommierte Einrichtung zur Förderung des literarischen Nachwuchses, um sich zu vernetzen, sich auszuprobieren, Texte zu besprechen, am Handwerk zu feilen. Es ist ein verdienstvolles Bemühen, dem Drawert sich widmet, und es gingen daraus durchaus beachtliche Talente hervor, zum Beispiel der Leonce und Lena-Preisträger 2015, David Krause.

Im Poetenladen Verlag erschien nun anlässlich des 20. Jubiläums eine Textwerkstatt-Anthologie, von Drawert herausgegeben, mit dem Titel „Das Eigene im Anderen. Istanbul.“ Darin vertreten sind 26 meist junge Autoren mit Lyrik, Prosa und essayistischen Formen. Ein Gemischtwarenladen, wie es für solche Anthologien üblich ist.

Warum Istanbul? Weil Drawert, der als Stipendiat längere Zeit in der Villa Tarabya weilte, seine Werkstatt-Teilnehmer in die türkische Metropole einlud. Das wird für die meisten der Teilnehmer eine so interessante wie bereichernde Erfahrung gewesen sein. Ob es eine gute Idee ist, so eine Anthologie an einem vergleichsweise kurzen Aufenthalt aufzuhängen, ist die andere – in diesem Kontext aber wesentliche – Frage. Wie man sie beantwortet, hängt maßgeblich davon ab, was man sich als Leser von dem Buch erwartet. Möchte man sich einen Überblick über das verschaffen, was der Nachwuchs unter Drawerts Anleitung so schreibt, möchte man Einblicke in die Textwerkstatt erhalten, und ist man an der formalen Vielfalt inklusive all ihrer Stärken und Schwächen interessiert? Dann ist die Sammlung sicher eine interessante Lektüre.

Wenn man hingegen Istanbul kennt oder sich aus anderen Gründen für die Stadt oder das Leben in der Türkei interessiert, dann ist das Buch verzichtbar. Denn es bietet keine tiefergehenden Einblicke. Das kann es auch gar nicht. Denn die allermeisten Texte, die sich konkret mit Istanbul befassen (bei vielen ist ein Bezug auch mit großer Fantasie nicht herstellbar), sind Momentaufnahmen von Kurzzeitbesuchern. So wie Stefan Kappner in seinem Aufsatz „Fundstücke aus einer fremden Stadt“ von einer Ankunft und einer ersten Begegnung, einer vorsichtigen Annäherung berichtet, so ist auch der rote Faden, der das gut 260 Seiten starke Werk durchzieht. Das „Eigene im Anderen“, die kulturelle Begegnung, das Hinterfragen der eigenen Sozialisation und Position (was Drawert selbst im Vorwort reichlich umständlich formuliert) mag ein gedanklicher Ausgangspunkt sein. Die Auseinandersetzung mit den daraus sich ergebenden Fragen ist mal mehr, mal weniger originell.

Vieles bleibt in einem recht oberflächlichen Aufzählen von Beobachtungen, Gedichte ergehen sich in touristisch anmutenden Schnappschüssen, was bereits bei Barbara Köhlers zu Unrecht gefeiertem Band „Istanbul zusehends“ die größte Schwäche war (und in beiden Fällen tatsächlich im Buch mit Schnappschüssen begleitet wird, die keinen erkennbaren Mehrwert bieten). Das sieht dann zum Beispiel so aus wie bei Alicia Metz, die etwas bemüht die Banalität der Textwerkstatt dem blutigen Alltag entgegensetzt:

13 Uhr, der Muezzin ruft zum Gebet
Wir übersetzen Gedichte, bilden gemeinsam neue Sätze
Es sind über 20 Leute umgebracht worden, habe ich gehört
Wir schreiben unsere Texte
Heute Abend sind wieder Proteste, hat sie gesagt
Wir machen eine Bosporusfahrt
In den Nachrichten berichten sie vom Krieg
Wir besichtigen die Hagia Sophia
       
Was man vor allem merkt: Es hat bei den meisten, fast allen, vorab keine Auseinandersetzung mit der türkischen Literatur stattgefunden. Und das, obwohl immer mehr auch aus der jüngeren Generation der so vielfältigen Istanbuler Literaturszene längst auf Deutsch vorliegt. So bleiben die wenigen Anspielungen, die sich finden lassen, im Offensichtlichen. Haben die Werkstatt-Teilnehmer vor Ort Schriftsteller getroffen? Zu wünschen wäre es, aus dem Buch geht es nicht hervor. Dabei sollte dieser Austausch doch eigentlich der Kern eines interkulturellen literarischen Transfers sein.

Der Fairness halber sei angemerkt, dass es auch sehr gute Texte gibt in dieser Sammlung. Lyrische Bilder, die ins Auge springen, die originell und ambitioniert sind. Prosa-Beobachtungen, die zumindest atmosphärisch lesenswert sind. Aber: Sie sind in der Minderheit, leider. Unterm Strich bleibt ein Buch, dessen Zielgruppe mit der Zielgruppe von Literatur-Werkstätten weitgehend deckungsgleich ist. Alle anderen sollten sich vom titelgebenden „Istanbul“ nicht blenden lassen. Dazu gibt es ungleich bessere und lesenswertere Werke. Sowohl von türkischen als auch von deutschen Autoren.


(Kurt Drawert:) Das Eigene im Anderen. Istanbul: 20 Jahre Darmstädter Textwerkstatt. Leipzig (Poetenladen Verlag) 2018. 264 Seiten. 17,80 Euro
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