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(Jan Wagner, Federico Italiano:) Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas

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Ulrich Schäfer-Newiger

Eurolyrik – oder: Wie man einen Traumgarten anlegt


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Die neue von Federico Italiano und Jan Wagner herausgegeben Lyrik-Anthologie „Grand Tour, Reisen durch die junge Lyrik Europas“ ist in jeder Hinsicht ein solider, handwerklich gut gemachter, „dicker Brocken“. Er liegt gut in der Hand und man nähert sich ihm mit Erwartung und – ja Respekt. Denn die Anthologie versammelt nicht weniger als 427 Lyriker aus 46 verschiedenen Sprachen, wozu auch armenisch, türkisch, georgisch und hebräisch gehören. Anders als in früheren Anthologien wurde Portugal nicht vergessen, lernt man kroatische, serbische, rumänische, albanische, mazedonische, bosnische oder auch galicische oder katalanische Gedichte kennen. Die große Anzahl der Sprachen rührt daher, dass auch Gedichte u.a. aus dem schottischen Gälisch, dem Samischen oder dem Rätoromanischen wiedergegeben werden. Das fast 600 Seiten umfassende Werk ist daher ein Glücksfall für jeden, der Lyrik aus diesen entlegenen Sprachgebieten kennenlernen will. Hervorzuheben ist, dass ausschließlich Texte von Autoren und Autorinnen ausgesucht sind, die – bis auf ganz wenige - alle nach 1968 geboren wurden, eine Altersgrenze, die die Herausgeber bewusst gezogen haben. Es handelt sich also um überwiegend junge, jedenfalls lebende (hoffe ich doch für alle) Gegenwartsautoren/innen, von denen viele in Deutschland kaum oder nicht bekannt sind.

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Die Sammlung enthält eine wichtige und klare politische Aussage. Sie ist schon zu Anfang der „Einladung zur Reise“, wie die Herausgeber ihr Vorwort betiteln, formuliert: „Das Europa der Lyrik ist in bester Verfassung. Die Dichterinnen und Dichter sämtlicher Länder des Kontinents überqueren mit beglückender Selbstverständlichkeit nationale wie sprachliche Grenzen…“  Diesem behaupteten Sachverhalt ist die gewöhnungsbedürftige, unübliche Art und Weise der Darbietung der Gedichte geschuldet. Untergliedert ist die riesige Textmasse nämlich in sogenannte „Reisen“, deren es sieben gibt. Diese Reisen folgen aber bewusst keinen geographischen oder auch sprachlich naheliegenden Wegen oder Zusammenhängen. Die erste Reise beispielsweise führt von Polen über Wales und Mazedonien, Island, Moldawien und Portugal nach Finnland. Bei keiner der „Reisen“ gibt es nebeneinanderliegende Länder oder Sprachgebiete aus einem Sprachraum (z.B. slawische Sprachen oder romanische oder germanische Sprachen). Es wurde penibel darauf Wert gelegt, dass keine Sprachregionen zusammengefasst oder hintereinander dargestellt werden. Vor allem sind die Übergänge von einer Sprache zur anderen im Buch selbst nicht gesondert gekennzeichnet. Beispiel Seite 62: Oben ist ein Prosagedicht des Moldawiers Dumitru Crudu abgedruckt. Unmittelbar danach folgt ein Gedicht von Miguel Manso. Der ist allerdings Portugiese. Und dass man hier wie nichts von Moldawien nach Portugal springt, erfährt man nur auf der rechten Seite (S. 63) unten, wo sich dünngedruckt der Hinweis findet „Moldawien I Portugal“. Ein anderes Beispiel: Auf den Seiten 356/357 gelangt man unversehens von Litauen über Andorra nach Ungarn. Nur die fremdsprachbegabten Leser erkennen gleich, wo sie sind, denn neben jedem deutschen Text ist jeweils rechts davon, kleiner und schwächer gedruckt, der Text in der Originalsprache zu finden. Ein gezieltes Suchen ist nur mit Hilfe eines hinten im Buch wiedergegebenen, sogenannten „Itinerar“ (ein Nichtlateiner wie ich, ist hier aufgeschmissen und muss erst erkunden, was das Wort bedeutet: ‚Verzeichnis der Verkehrswege‘), in welchem entsprechend den sieben Reisen die dort erscheinenden Autoren mit Geburtsdatum, Titel seines/ihres Textes, Übersetzer/in und Seitenzahl angegeben sind. Hilfreich ist auch ein alphabetisches Namensregister aller Autoren und Autorinnen. Und schließlich gibt es auch noch ein „Sprachenregister“ in welchem die 46 Sprachen und die „dazugehörigen“ Autoren und Autorinnen aufgeführt sind.

Das sind alles Navigationshilfen, die nötig sind, weil es Grenzen - wird mit der Art der Zusammenstellung der Texte zum Ausdruck gebracht - gerade nicht geben soll.  Sie sollen so gut wie nicht kenntlich gemacht sein, weil sie poetisch keine Rolle spielen (sollen). Die Leser sollen sie übersehen und prima facie nicht gleich wissen, wo sie sind, denn alle Länder und Gebiete gehören gleichberechtigt und unterschiedslos zu Europa. Daraus erwächst eine gewisse Unübersichtlichkeit, der man nur entgehen kann, wenn man sich länger und intensiver mit der Anthologie beschäftigt.
    Dass Armenien, Israel und die Türkei mit dabei sind, erklären die Herausgeber in ihrer Einladung zur Reise vorweg, die Anthologie umfasse auch jene Länder, „die aus geographischen und historischen Gründen zu Europa gezählt oder mit Europa gedacht werden können.“ Ein Schelm, wem dabei einfällt, dass Europa schon immer sich anmaßte, größer zu sein, als seine geographischen Grenzen es vorgeben. Und warum fehlen dann aber in der Anthologie Liechtenstein und San Marino, zwei ureuropäische Länder? Gibt es dort keine Lyriker? Wir erfahren es nicht.

Dem scheint auf den ersten Blick zu widersprechen, dass anderswo Grenzen oder Unterschiede gemacht werden, wo politisch und sprachlich keine zu sein scheinen. Großbritannien ist in der Anthologie untergliedert in England, Wales, Schottland und Nordirland. Die Leser erreichen diese Gebiete nur auf ganz unterschiedlichen Reisen, in keinem Fall direkt. Dabei sind die neun walisischen Gedichtbeispiele alle aus dem Englischen übertragen, kein einziges aus dem walisischen Gälisch. Aus Schottland ist immerhin ein Gedicht schottisch-gälischen Ursprungs, alle anderen sind aus dem Englischen übertragen. Und auch aus Nordirland gibt es nur Gedichte, die aus dem englischen übertragen sind. Dass beispielsweise Katalonien und das Baskenland jeweils eigene Reiseziele sind, lässt sich leicht mit deren sprachlichen Eigenständigkeit erklären, aber ist das schottische Englisch oder das nordirische oder walisische Englisch gegenüber dem englischen Englisch eigenständig?  Die Antwort auf die Frage nach diesem merkwürdigen Vorgehen ergibt sich, wenn man die Behandlungen der Schweiz und Zyperns vergleicht: Die Schweiz wird als ein „Gebiet“ mit den darin gesprochenen vier verschiedenen Sprachen dargestellt, von jeder dieser vier Sprachen sind „schweizerische“ Gedichte zu finden. Genau so wird Zypern (S 145/146) vorgestellt. Auf der Insel Zypern werden zwei Sprachen gesprochen, türkisch und griechisch, von beiden Sprachen findet sich je ein Gedichtbeispiel. Zypern wird aus lyrischer Sicht demnach genauso als eine (politische, sprachliche, kulturelle?) Einheit dargestellt wie die Schweiz. Deren äußere Grenzen werden wahrgenommen, diejenige auf der Insel Zypern, die politisch, kulturell und geschichtlich sehr praktisch und massiv mitten hindurch geht, nicht. Denn sie ist ja aufgrund einer völkerrechtswidrigen Invasion der Türkei entstanden, wobei die wahren Ursachen für die Teilung der Insel, wie wir wissen, woanders und tiefer liegen. Und in Großbritannien sind oder wollen Schottland, Wales und Nordirland sich von England unterscheiden und vollständig oder zumindest ein wenig selbständig sein. Und sie sollen das politisch und kulturell auch dürfen, das ist die politische Botschaft. Das vereinte Europa der Regionen ist politisch korrekt und gut und findet in der ungewöhnlichen „Reisezusammen-stellung“ der Anthologie seinen Ausdruck.

Zu der Vorstellung eines grenzenlosen, alle Sprachen und Regionen unterschiedslos inkludierenden Europas gehört auch, dass man zur Biographie der Autoren und Autorinnen nichts erfährt, außer ihr Geburtsdatum (von den Übersetzern und Übersetzerinnen, viele davon freilich deutschsprachige Lyriker/innen, erfährt man nicht einmal das). Denn alle diese Menschen sind ja innerhalb des so gekennzeichneten Europas keine Fremden. Und die möglichen Fragen der Leser, wie: Wer bist Du, woher kommst Du, welche Sprachen sprichst Du, und in welcher Sprache schreibst Du? (wie sie mir zum Beispiel bei der schwedischen Autorin Athena Farrokhzad, dem griechischen Autor Jazra Khaleed oder der bulgarischen Autorin Kapka Kassabova – zu der ich nachher noch einmal zurückkomme – auf der Zunge liegen) sind politisch unkorrekt, weil sie damit den Befragten und die Befragte schon als Fremden/Fremde kennzeichnen und stigmatisieren. Daher findet man in der Anthologie auf solche Fragen keine Antworten. Wer mehr über die Autoren und Autorinnen wissen will, soll halt googeln, höre ich die Herausgeber mir sagen. Aber über und von dem deutschen Dichter Christian Lehnert (S. 488) zum Beispiel hätte ich gerne an Ort und Stelle mehr gelesen und erfahren.

Die politische Aussage also ist: Alle Länder und Sprachen Europas sind gleich und es ist beglückend, etwaige, doch noch vorhandene Grenzen auch im unlogischsten Zickzackkurs einfach überschreiten zu können. Wir, wollen uns die Herausgeber überzeugen, versammeln hier zwar Gedichte aus ganz Europa, der Türkei und Israel. Aber selbstverständlich wird keine der Sprachen und keiner der Autoren und keine der Autorinnen benachteiligt oder bevorzugt, wir vermeiden konsequent auch nur den Anschein, dass dem so sein könnte (natürlich wird aber vor allem die deutsche Sprache bei der von den Herausgebern gewählten Darstellung bevorzugt, dazu unten mehr). Dieses so dargebotene, erwünscht grenzenlose Europa ist außerhalb des „Sinnfeldes“ Lyrik bekanntlich nicht anzutreffen (zwischen Dänemark und Deutschland beispielsweise wird gerade ein Zaun gebaut, angeblich gegen Wildschweine!). Das dargebotene Europa ist vielmehr eine Utopie oder ein Traumgarten der Lyriker/innen, Lyrikvermittler/innen und Übersetzer/innen usw., kurz der poetisch-intellektuellen, liberalen, geistigen Elite Europas (oder doch nur Deutschlands?).

Darauf weißt auch der Titel „Grand Tour“ hin. „Grand Tour“ bezeichnete, die Herausgeber erklären es selbst, die im 18. Jahrhundert übliche Bildungsreise junger Adliger durch Europa. Sie beeilen sich freilich, schnell einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Der Titel der Anthologie knüpfe zwar an solche Bildungsreisen an, versichern sie, sei aber „keinesfalls für eine privilegierte Oberschicht gedacht.“ Tatsächlich ist die Anthologie für jene Schicht gedacht und gemacht, die es sich sprachlich, intellektuell, kulturell und auch wirtschaftlich erlauben kann, Grenzen zu ignorieren oder sie einfach zu überschreiten.

Alle Sprachen werden in der Anthologie gleichbehandelt, außer der deutschen Sprache. Diese alleine wird bevorzugt. Denn die jeweils in deutscher Sprache abgedruckten Texte sind in normaler Größe und Druckstärke wiedergegeben. Die Originaltexte, aus denen übertragen wurde, finden sich dagegen jeweils verkleinert und schwächer gedruckt, rechts neben dem deutschen Text. Dabei werden sie wegen des geringen Platzes nur im Flattersatz wiedergegeben, der überwiegend nicht den Verszeilen des Originals entspricht. Sie werden also auch noch zerrissen oder gequetscht dargestellt. Diese m.E. etwas verunglückte Wiedergabe der Originaltexte mag ein Kompromiss sein zwischen dem Wunsch, möglichst aus jeder im gedanklichen Europa der Herausgeber gesprochenen Sprache Beispiele in das Buch aufzunehmen und dem berechtigten Anliegen, den Lesern auch die Originalfassung darzubieten. Hätte man nicht einfach die Anzahl der Gedichtbeispiele aus den 46 Sprachen so reduzieren können, dass die Originaltexte gleichgewichtig und gleichberechtigt neben den deutschsprachigen Texten stehen können, ohne dass das Buch noch dicker geworden wäre? Viel weniger wäre hier viel mehr gewesen.

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Und halten die Gedichte, was die Herausgeber politisch versprechen, nämlich ein grenzenloses Europa? Ich vermute, es ist für die Leser beglückender, anstatt dieser Frage nachzugehen, das Buch gleich einfach irgendwo aufzuschlagen. Das sehen sogar die Herausgeber so, denn sie wollen kein Nachschlagewerk, sondern ein Abenteuer des Lesens ermöglichen, wie sie in ihrer Einleitung erklären.  Dann können die Leser/innen – wie ich beim ersten Aufschlagen – z.B. auf das kleine Gedicht des Norwegers Eirik Lodén stoßen (S.149, übersetzt von Klaus Anders): „Sonne im Meer, mohnrot./ eilend gegen / Septemberküstens Schneide / gekeilt gesplittert blutend / in glasklarer Trance, verwandelt zu / Blüten an Klippen, Gischt, weiße Spirea.“. Wenn man will, kann man es als eine bildliche Erklärung für das, was ein Gedicht ist, lesen; die weiße Spirea verführt dazu. Oder sie finden von dem Luxemburger Luc van den Bossche das beeindruckende Langgedicht „Präludium“ (S. 234/235). Hier fällt auf, dass keines der beiden Luxemburger Gedichte in der Sammlung aus dem Luxemburgerischen, welches ja eine eigene Sprache ist (und dort Lëtzebuergesch genannt wird), sondern aus dem Französischen übertragen worden ist. Alle Sprachen Europas lernen die Leser in der Anthologie also nicht kennen, sehen wir an diesem Beispiel.

Von dem in Deutschland kaum bekannten kroatischen Lyriker Tomica Bajsić, 1968 in Zagreb geboren, von dem bislang fünf Gedichtbände erschienen sind, findet sich in der Anthologie der wohl ausdrücklich politischste Text. Er ist eine spöttisch-kritische Abrechnung mit Tito und trägt den Titel „Apokryphe über Tito“ (S. 222/3) in dem sich u.a. folgende Verse finden (übersetzt von Alida Bremer):Tito nagt auf dem Dachboden an einem Schweinskopf/ Mit einem Auge lugt er auf die Straße, damit seine Eltern ihn nicht erwischen/ Ist mir doch egal / denkt er / ich werde mit dem Fahrrad fliehenIn dem Text stecken bösartig-humoresker Bezüge zur jugoslawischen Geschichte, wenn es z.B. heißt: Tito reitet über den Berg Romanija/ hinter ihm stolpert der alte Dichter Nazor durch den Schnee/ Vladimir Vladimir denkt Tito gütig.. Der kroatische Schriftsteller und Lyriker Vladimir Nazor lebte von 1876 bis 1949 und trat noch 1942 im Alter von 66 Jahren den Partisanen Titos bei. Nach dem 2. Weltkrieg bis zu seinem Tode war er Vorsitzender des Präsidiums des jugoslawischen Parlaments. Das Gebiet mit dem Namen „Romanija“ und seiner Hauptstadt Pale war während des 2- Weltkrieges ein Zentrum der Kämpfe gegen die faschistische Ustascha, und im Bosnienkrieg in den 90iger Jahren des vorigen Jahrhunderts Machtzentrum der bosnischen Serben. Hier wurde schon 1991 eine serbische autonome Region „Romanija“ ausgerufen, also neue Grenzen gezogen. Im Gedicht rechnet am Ende Stalin Tito vor, wieviel Tote und Opfer er, Stalin, zu verzeichnen hat. Er, Tito, könne ja nicht rechnen. Deswegen sei es ihm egal, dass Tito zu ihm „nein“ sagt.

Das Gedicht „Gruß aus der Mitte des Kontinents“ von Gábor Schein (S.357/358, übersetzt von György Buda) lässt sich mühelos als politische Zustandsbeschreibung des gegenwärtigen Ungarn lesen: Die Stadt schließt die Augen. Sie schaut nicht auf die zerstörerischen / Absichten/ …. Bis zum Morgen kommen wir schon zurecht in den Bunkern. Die Zementplatten glänzen draußen/ im Neonlicht./.

Im Gedicht „Taiga“ (S. 244, übersetzt von Erich Arendt) der russischen Dichterin Angelina Polonskaja lesen wir: „Groß ist das Leben, und man braucht nicht mehr / als einen Tunnel bohrn in eine Hemisphäre / dass in der anderen man Freiheit find. / Jedoch vergiss nicht – Wald ist rings umher. “Auch diese Sehnsucht nach Freiheit, nach Unterschreitung einer Grenze zwischen Freiheit und Nicht-Freiheit, ist eine Zustandsbeschreibung der russischen Verhältnisse.

Dann aber können die abenteuernden Leser/innen den schon fast dadaistischen Text von Halldór Laxness Halldórsson mit dem Titel „Idee zu einer Skaldensaga #1“finden (Seite 59, übersetzt von Christian Filips, siehe zu diesem Autor auch: http://signaturen-magazin.de/halldor-laxness-halldorsson--ich-bin-ein-bauer-und-mein-feld-brennt.html), in dem von einem Zahnarzt berichtet wird, den seine Frau wegen eines schwedischen Architekten verlässt. „Da wird der Zahnarzt irre, / würgt den Wal. So ist es halt, das Leben.“. Ganz im Gegensatz zu einem solchen Text, der von Danijl Charms stammen könnte, steht das ernste, mythisierende Gedicht der Portugiesin Matilde CampilhoZerstückelung eines Halbkreises“ (S. 69, übersetzt von Odile Kennel). Dort heißt es am Ende: „Was wirklich zählt ist / die schwarze Oberfläche zu streifen / der Haut an der Brust des Engels / der lebt / und nicht schläft.“

Ein anderer wunderbarer und zugleich bedeutender Findling ist das Gedicht „Einreiseformular“ des Nordiren Nick Laird (S. 516, übersetzt von Eva Bourke) worin dem imaginierten Grenzüberschreiter absurde Fragen bei der Einreise gestellt werden, u.a.: Wie vertraut ist Ihnen das Atem-// einhauchen in cadere, die lateinische Ohn-/ macht noch hinter Cadaver und Cadenz? Sind Sie jetzt oder waren Sie irgendwann? // Wie vertraut ist Ihnen das Atmen?

Die Gedichte machen – und das ist eine Banalität - unterschiedliche Wahrnehmungen und Erfahrungen deutlich, die persönliche und politische und kulturelle Ursachen haben. Nicht umsonst, scheint mir, versucht ein Kroate mit Tito abzurechnen, indem er ihn lächerlich macht, imaginiert eine Russin einen Tunnel in die andere Hemisphäre, um dort frei sein zu können, und ein Nordire eine absurde Befragung an einer (noch) unwirklichen Grenze. Insoweit halten die Gedichte, was die Herausgeber politisch träumen: Ein Europa ohne Grenzen. Aber sie wissen von Grenzen, imaginären, realen oder geschichtlichen und sprechen darüber.

Das von den Herausgebern beschworene Europa ohne Grenzen ist ein Traumgarten und die Gedichte sind, was in diesem Traumgarten wächst. Damit komme ich zu der auch in Deutschland nicht unbekannten, bulgarischstämmigen, aber in englischer Sprache schreibenden, Autorin Kapka Kasabova, geboren 1973 in Sofia, in Schottland lebend. Von ihr erschien 2018 auf Deutsch: „Die letzte Grenze. Am Rande Europas im Zentrum der Welt“. Sie wird in der Anthologie im „Sprachenregister“ unter „Englisch“ aufgeführt, ihre Gedichte finden sich aber im Buch unter „Bulgarien“. Ihr auf den Seiten 264/5 abgedrucktes Gedicht „Wie man einen Traumgarten anlegt“ (übersetzt von Alexander Sitzmann) ist mit all seinen eindrücklich-realistisch-traumhaften, poetischen Bildern möglicherweise die zutreffendste und zugleich ernüchterndste Beschreibung des europäischen Traumes, daher soll es hier in Gänze wiedergegeben werden: „Erstes Jahr. Finde am Ende einer staubigen Straße einen malariaverseuchten Sumpf. / Lege ihn trocken und fülle ihn mit Erde auf. Werde krank. / Verfluche den Tag, an dem Du hergekommen bist. // Zweites Jahr. Baue eine Holzhütte mit Muscheln als Türknäufe, Dunst als Glas. / Liege da und lausche den Wellen. Vergiss nicht, Du warst krank, bevor du herkamst. // Drittes Jahr. Pflanze Samen ein. Die Erde umhüllt die Vergangenheit mit Blättern / und Wurzeln. Jetzt warte darauf, dass jemand kommt und versteht. // Viertes Jahr. Die bunten Paradiesvögel finden sich ein, die Leguane balancieren / auf den Pflanzen. Verlorene Fremde kommen und gehen nie wieder fort. Lächle wissend. // Zehntes Jahr. Hör auf zu zählen, bist Du nicht deshalb hier? Jetzt träume zum Takt / der Wellen den einzigen Traum, der übrig ist, träume, dass der Garten verwahrlost, // die Leguane wachsen zu Monstern heran und spießen die Fremden im Staub auf. / Die Einheimischen reden seit Generationen. Und das Meer, das Meer kümmert sich um alles.“


Grand Tour, Reisen durch die junge Lyrik Europas. Herausgegeben von Federico Italiano und Jan Wagner München (Carl Hanser Verlag) 2019. 584 Seiten. 36,00 Euro.
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